Versuch II: Warum kratzt man an der Aura Buch nicht? – Vier steile Thesen

Warum lasse ich von meinen Nachdenken über die Aura, die das Buch hat, nicht ab? Weil die Reaktionen auf mein Gespräch mit Kathrin Passig auch nahegelegt haben, dass wir uns schwer damit tun, mit eingewachsenen Denkmustern und idealistischen Vorstellungen zu brechen. Und weil diese Haltung in Zeiten des Umbruchs wenig konstruktiv ist, beschäftige ich mich auch in diesem Beitrag mit dem Buch, das zudem – Hand aufs Herz – eine bedrohte Publikationsform ist. Deshalb lohnt sich das Nachdenken über die Aura des Buches meiner Ansicht nach sogar doppelt. Hätte das Buch nämlich keine so große Bedeutung für uns, dann würden wir uns z.B. auch mit dem Gedanken leichter tun, dass das E-Book das gedruckte Buch womöglich bald ablöst.

Warum also schenken wir „dem“ Buch solche Hochachtung? Einband, Papier oder Aufmachung können es ja nicht sein. Blieben die Worte auf bedruckten Seiten, denen wir Respekt zollen. Doch: Worte und Buchstaben finden sich all‘ überall: Auf Yoghurtbechern, Plakatwänden, Verkehrsschildern, über Grabbeltischen oder auf Speisekarten. Auch diese bedürfen des Buches nicht.

Wenn es weder Worte, noch Papier oder Aufmachung wie hübsche Lesebändchen und glanzvolle Cover sind, die dem Buch Wertschätzung einbringen, was ist es dann? Die Frage leitet zu These I über, die eine Binsenweisheit ist. Wir schätzen nicht das Buch an sich, sondern das, was zwischen seinen Buchdeckeln zu lesen steht. Daraus folgert These II: Das Buch selbst ist lediglich ein Träger, ein Medium für Inhalte, die nicht notwendigerweise einen Deckel brauchen. – Ich gebe zu, die These ist verwegen. Sie macht nämlich nicht nur Diskussionen rund ums Buch obsolet, die von dessen Inhalt abstrahieren. Auch Trauerkundgebungen, die sich auf den Tod des gedruckten Buches, sprich: dem Buch als Publikationsform beziehen, wären mit einem bedingungslosen Bekenntnis zu Inhalten letztlich hinfällig.

Halten wir dennoch an These II fest. Wir verehren nicht das Buch an sich. Vielmehr schätzen wir an Büchern deren Inhalte. Damit stoßen wir auf These III: Egal, ob wir wissen wollen, wie Rosen am besten gedeihen, welche Aktie hoch im Kurs steht, wer anno dato hinter dem Deal an Kaisers Hof stand, wo sich Madame Belleroche jüngst liften ließ, ob wir Zerstreuung, gehobene Kost oder Lektüre suchen, die die grauen Zellen auf Trab bringt – Wert geschätzt wird die geistige Leistung, die in einem Buch steckt. Das heißt: Immer dann, wenn uns ein Buch gefällt, schleicht sich quasi durch die Hintertür die Schöpferkraft eines Wortakrobaten, Geschichtenerzählers, Ratgebers oder Experten ein, der Lesbares mit Nutz- oder Unterhaltungswert zu Papier gebracht hat.

"Goethe's Werke. Erste illustrite Ausgabe, mit erläuternden Einleitungen", Berlin, G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung 1874 - Foto (c) Gesine von PrittwitzDamit wären wir bei These IV angelangt: Der gute Ruf, von dem das Buch lebt, zehrt auch von tradierten Vorstellungen von einer geistigen Elite, die hoch- bzw. höherwertige Kulturgüter schafft. Und auch die Autoren im literarischen Betrieb lassen sich gerne von der Auffassung leiten, eine privilegierte Tätigkeit auszuüben. Neben dem individuellen Bedürfnis, sich auszudrücken und mitzuteilen, und der schwärmerischen Hoffnung auf öffentliche Anerkennung sind es vor allem altehrwürdige Ideale, die den Willen antreiben, ein Buch zu schreiben. Vielfach scheinen diese sogar gewichtiger zu sein als die Sorge um die Existenz. Anders lässt sich wohl kaum erklären, warum so mancher trotz mangelnder Einkünfte und wider besseres Wissen um die realen Bedingungen im Literaturbetrieb dem Buch-Schreiben heute treu bleibt.

Allerdings könnte es nicht schaden, genau das endlich zu hinterfragen: Einerseits die Vorstellungen, die wir von jenen haben, die Bücher schreiben, und das Selbst- und Rollenverständnis der Autoren im literarischen Betrieb andererseits. Hält unser allgemeines Verständnis von Autorenschaft den Realitäten noch stand? Setzen die Protagonisten des Literaturbetriebs nicht vielmehr auf ein Rollenverständnis, das nicht mehr zeitgemäß ist? Und legen die aktuellen Debatten um das Urheberrecht nicht sogar nahe, dass das heutige Selbstverständnis von Autorenschaft obsolet geworden ist?

In diese Richtung zielte Thierry Cherval, der in seinem Perlentaucher-Beitrag am 15. Mai bemängelte, dass sich Autoren nicht im Netz engagieren. Seine Kernthese deckt sich freilich nicht mit mit meinen Erfahrungen im deutschen Literatur-Netzbebetrieb. Seine Beobachtung mag für ein mangelndes netzpolitisches Engagement seitens der Autoren gelten und für betagtere Jahrgänge zutreffen, nicht aber für das Gros der (jüngeren) Autoren, die sich via Facebook, twitter & Co aktiv einbinden und vielfach eigene (Bücher-)Blogs pflegen. Lesenswert in diesem Zusammenhang (und darüberhinaus) ist das Zeit-Interview von Eva C. Schweitzer mit Margret Atwood vom 23. Mai. – Chervals Behauptung freilich, dass das Netz am Selbstbild des Autors kratzt, gießt erfreulich viel Wasser auf meine Mühlen:

Das Problem dieser Autoren mit dem Netz ist weniger, dass es ihre Einnahmen als dass es ihr Selbstbild als Autor in Frage stellt. […]. Als Autor auf dem bewährten Modell bestehen, heißt tatsächlich, sich nicht mit neuen Formen des Schreibens zu beschäftigen. […]. Der Autor als Künder, als isoliert schwebende und schillernde und von unten angestaunte Blase der Originalität […] wird im Netz relativiert: Er ist Teil eines unendlichen Dialogs.

Wohl frage ich an dieser Stelle, ob nicht auch andere Faktoren als nur die neuen Schreib- und Kommunikationsstile (die Ökonomie der Partizipation im Netz) am Selbstbild des Autors kratzen? Weiter als Thierry Cherval gehen Gerald Raunig und Felix Stadler in der Zeit vom 18. Mai, wenn sie in ihrem Beitrag zur Urheberrechts-Debatte auch auf die unzeitgemäße Entgegensetzung von materieller und immaterieller Leistung zu sprechen kommen:

Denn hier sieht sich eine Gruppe in ihrer Freiheit bedroht, einer Freiheit, die in der bürgerlichen Gesellschaft traditionell einer kleinen Zahl »geistig« Arbeitender zugestanden wurde. Diese Freiheit ist in der Tat infrage gestellt, aber nicht durch eine Krise des Urheberrechts oder gar durch eine unübersehbare Masse räuberischer KonsumentInnen, sondern weil das Kognitive, die Produktion von Wissen zur zentralen Ressource des Kapitalismus der Gegenwart geworden ist. […] Die Domäne des Kognitiven ist heute nicht mehr nur die privilegierte Erfahrung eines Häufleins von »Geistigen« – immaterielle, affektive und künstlerische Arbeit rückt vielmehr ins Zentrum der Verwertung und Ausbeutung. Während die Drecksarbeit und ihre Fabriken zunehmend in die Peripherien ausgelagert werden, setzt sich auch in den globalen Metropolen die Prekarisierung von Wissens- und Kulturarbeit durch. In den diffusen Fabriken des Wissens schuften die Kreativen, ihr Intellekt wird zerstreut und zugleich zur Kooperation angeregt. In diesem Setting gerinnen Kreativität und Wissen zur Ware, die wie materielle Waren gefertigt, fabriziert und gehandelt wird.

Tatsächlich leiden Aktionen wie „Wir sind die Urheber“ oder „Mein Kopf gehört mir“ auch daran, dass sie auf Vorstellungen rekurrieren, die wohl ins 19. und 20. Jahrhundert, nicht aber mehr ins 21. Jahrhundert passen. Angesichts der realen Gegebenheiten zeugen Selbstvergewisserungen à la „Mein Kopf gehört mir“ (nomen est omen) eher von Hilflosigkeit denn von Selbstbewusstsein. Mit derart appellativen oder gar moralisierenden Gesten, die ein wenig anrührend wirken, lassen sich technische Entwicklungen und damit einhergehende gesellschaftliche Umwälzungen nicht aufhalten. Vielmehr sollten wir uns viel stärker als bisher bewusst machen, dass Veränderungen nun einmal die ärgerliche Eigenschaft haben, an Denkmustern und Einstellungen zu rütteln, die uns lieb geworden sind. Das wehmütige Beharren auf „das war aber immer so“ nützt uns derzeit etwa genauso viel wie der trotzige Verweis „das ist jetzt aber so“.

Unbestritten ist, dass unsere Vorstellung von Autorenschaft im literarischen Betrieb nicht mehr zur Wirklichkeit passt; und zwar weder zum Medienwandel noch zu den tatsächlichen Bedingungen auf dem Buchmarkt. Fakt ist, dass das digitale Zeitalter einer geistigen Elite angestammte Alleinstellungsmerkmale streitig macht. So sind heute für alle nicht nur die Möglichkeiten zur Teilhabe gegeben, auch die Wege zur Produktion und Distribution sind freier zugänglich. Womöglich wird sich das überkommene (Selbst-)Bild des privilegierten Kulturschaffenden vor diesem Hintergrund absehbar sogar von selbst auflösen? Dass sich à la longue eine neue Elite herausschälen dürfte, das steht auf einem anderen Blatt. – Zu hoffen bleibt jedenfalls, dass sich die Bedingungen für Autoren im literarischen Betrieb dank der neuen Gegebenheiten verbessern und nicht noch weiter verschlechtern.

Wieso kratzt man an der Aura Buch nicht?

Zu meinem Gespräch mit Kathrin Passig auf der #rp12. Oder: „Irgendwie weiß und ahnt man das ja, aber …“

Da unterhalte ich mich mit Kathrin Passig auf der re:publika 12 über meine Erfahrungen in der Buchbranche und Kathrin macht sich die Mühe, unseren Plausch bei Kaffee und Kartoffelsalat zu transkribieren. Zu meiner Freude stieß der Text, der am 7. Mai im Netz veröffentlicht wurde, auf ein großes Echo. Dass das Gespräch allerdings solches Erstaunen, zum Teil sogar Betroffenheit auslösen sollte, damit habe ich nicht gerechnet. Nein, das hat mich doch sehr verblüfft! – Hier einige Stimmen:

„Wollte man das alles so genau wissen? – Ist ja deprimierend.“ Andreas Eschbach via google+

„Vieles ahnte man ja schon, aber kaum jemand traute sich bisher.“ PicaPGK via twitter

„Leider ist die Realität so wie man sie vermutet hat.“ Stefan Möller via Facebook

„Danke für das Interview, das doch einigen Leuten ihre Illusionen rauben dürfte.“ Fredrika Gers via google+

Nachdem sich die emotionalen Wogen wieder geglättet hatten, begann ich mich zu fragen, wieso überraschte das Gespräch eigentlich so? Schließlich habe ich über Sachverhalte geredet, die kein Geheimnis sind. Jeder weiß, dass Medien von Anzeigen leben, dass Bücher in der Sicht derer, die damit Geschäfte machen, Waren sind. Dass auch in der Buchbranche das Prinzip der Gewinnmaximierung gilt und dass es hier vielfach um Masse und nicht um Klasse geht. Warum sind so viele Leser nach der Lektüre konsterniert? Warum hat das Gespräch Illusionen zerstört?

„Irgendwie beunruhigt mich, dass es sich beim Buchmarkt genauso verhält, wie in anderen Branchen auch: Quantität statt Qualität und Schein ist alles, Sein ist nix.“ Kekewa via Deutsches Schriftsteller-Forum

„Irgendwie weiß und ahnt man das ja, aber wenn es so deutlich ausgesprochen wird, hinterlässt es ein großes Unbehagen.“ Claudia Kilian via google+

„Für die Leidgeprüften unter uns AutorInnen war’s nichts neues, aber neu, dass das mal jemand in solcher Klarheit und so geballt öffentlich ausspricht. Viele sprechen aus Angst eben nicht darüber.“ Petra van Cronenburg via Facebook

Ich sagte mir: So es tatsächlich Courage dazu brauchen sollte, Sachverhalte beim Namen zu nennen, dann ist die Buchbranche eine Art Heilige Kuh. Und nun überlege ich mir (und dieser Text ist ein erster Schritt dabei), warum wir ihr solchen Respekt zollen, solch‘ große Hochachtung entgegen bringen? Dass wir Unbehagen empfinden, wenn an ihrer Aura gerüttelt wird?

Eine Ursache, auf die ich in meiner Unterhaltung mit Kathrin auch zu sprechen kam, liegt m.E. in unserem Verhältnis zum Buch. Der Liebe zum Buch, die so gerne postuliert wird. – Fakt ist, dass sich das Buch (in unseren Köpfen und in der öffentlichen Wahrnehmung) von allen anderen Konsum- und Unterhaltungsgütern abhebt. Es schwebt quasi darüber. Wer das Buch z.B. mit Autoreifen vergleicht, vergreift sich zugleich an bildungsbürgerlichen Werten, die fest in den Hirnen und Herzen verankert sind. Das Buch ist ein hehres Kulturgut, das als solches bewahrt sein will. Basta. Entsprechend sind Menschen, die an und mit dem Buch arbeiten, Geistesschaffende, Kulturträger; Kulturschaffende sagte man in der ehemaligen DDR dazu.

Genau diese Vorstellung, die eine lange Tradition hat, macht es uns auch so schwer, das Buch als Ware zu denken, die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Die Haltung erklärt auch, warum die Buchbranche große Anziehungskraft ausübt. Der Nimbus – man arbeitet für ein hohes Kulturgut – tröstet über schmales Salär und schlechte Arbeitsbedingungen hinweg. Abgesehen von den Spitzenverdienern gilt das für alle Protagonisten der Branche.

Von den Vorschusslorbeeren für das Buch, der Buch-Aura, zehrt die Buchbranche nicht nur – sie setzt sogar darauf! Wo immer Antworten gefragt sind – sei es bei der Buchpreisbindung, bei der aktuellen Debatte um das Urheberrecht etcpp. – taucht auch das Argument auf, dass das Buch etwas Besonderes sei, ein Wertstück, das unter besonderem Schutz stünde. Die Werbemittel der Verlage spielen damit und die Kampagnen des Börsenvereins für das Buch bauen darauf. Nimmt man sich die Interviews, Stellungnahmen oder Kommentare aus der Buchbranche unter dieser Perspektiv einmal vor, dann staunt man nicht schlecht: Wie oft hält das Buch mit seinem guten Namen für verbandspolitische Interessen her!

Zur Illustration mag hier ein Beispiel vom 9. Mai auf buchreport.de mit der Überschrift „Das Buch hat Sexyness verloren“ dienen, worin Lorenz Borsche vom Buchhändlerverbund eBuch zu den Herausforderungen der Zeit Stellung bezieht: „Dazu passt der Eindruck, dass das Buch in jüngster Zeit an Sexyness verloren hat. Dazu haben auch die Verlage ihren Teil beigetragen. […]. Jede Branche erzieht sich ihre Kunden. Eine große Zahl von Verlegern hat es geschafft, ein Buch, das viele Menschen lange als Wertstück begriffen haben, durch die 99er-Preisendung zu aldisieren. Der Marketingeffekt ist, dass der Kunde jetzt billig und Sonderangebot assoziiert. Das gerade bei potenziellen Buchkäufern vorhandene Gefühl, ich leiste mir etwas, ist durch diese Preisdämlichkeit beim Buch verloren gegangen. Es hatte schon seinen Grund, warum Bücher lange 8,80 oder 17,80 Euro gekostet haben.“

Auffällig finde ich, dass in solchen Kommentaren oder Stellungnahmen das Buch keinen Inhalt, kein Thema, keine Aussage hat. Auch Aufmachung und Anmutung spielen keine Rolle. Es ist ein Hohlkörper, ein Träger für Botschaften. Man braucht und bedient lediglich die Aura, die „das“ Buch (offensichtlich gottgegeben) hat. Dass sich die Geschäfte mit dem Buch schon lange von den Idealen losgelöst haben, blendet man aus. Und wer sich an der Aura vergreift, der ist …

Unsere Leidenschaft gilt den Büchern. Sie bewegen Menschen, sie helfen Menschen, sie bringen Menschen weiter. Bücher sind für uns zuerst Kulturgut, dann Konsumgut. Was auch immer geschieht, wie auch immer sich unsere Welt verändert, unsere Kunden, unsere Mitarbeiter, unsere Autoren sollen wissen: Wir glauben an Bücher.

 Das Zitat stammt von Jacob Anton Mayer (1782 – 1857). Es zierte im Mai 2012 das Schaufenster der Mayerschen Buchhandlung in Siegen. Zum zweiten Teil meines Nachdenkens über die Aura Buch geht es hier