Literarische Entdeckungen. Odessa: Stadt der Literatur (6)

Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat Odessa – neben den literarischen Zentren Lviv (früher: Lemberg) und Ivano-Frankivsk (früher: Stanislaw)viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Nach meinem Besuch dort habe ich mich auf eine Spurensuche begeben. So ist eine kleine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt gewachsen, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben: Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Dann wurden einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur und Autoren skizziert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Es folgten einige Schriftsteller, die politisch nicht genehm gewesen sind, und einst berühmte Namen, die in Vergessenheit geraten sind.

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Ebenso erfolgreich wie Jewgeni Petrow, dem Co-Autoren des Kultromans „Zwölf Stühle“, war dessen älterer Bruder Valentin Petrowitsch Katajew (1897 – 1986). Mit dem Unterschied freilich, dass seine in der Sowjetunion ab den 1930ern gefeierten Werke im Westen nicht rezipiert wurden. Katajew war ein Schüler des Literaturnobelpreisträgers und Emigranten Ivan Bunin. Und ein Bewunderer Wladimir Majakowskis, dem er 1927 erstmals begegnet war. Beiden hat er in seinem Erinnerungsroman „Kraut des Vergessens“ (1967) Denkmäler gesetzt.[1]

Er begann als Satiriker, gehörte in den 1920er zur literarischen Avantgarde und entwickelte sich dann mit Romanen und Theaterstücken zu einem Vorzeige-Schriftsteller des Sozialistischen Realismus, von dem er sich nach Stalins Tod wieder abwandte. Er gründete die Literaturzeitschrift „Jugend“, um die sich literarische Avantgarde versammelte, und suchte selbst nach neuen experimentellen Ausdrucksmöglichkeiten; wofür er den Begriff Mauvismus benutzte.

Bekannt war er vor allem mit dem 1936 erschienenen Jugendroman „Es blinkt einsam ein Segel“ geworden, einem Klassiker der sowjetischen Kinderliteratur, der – wie viele seiner Werke – in Odessa spielt. Aus der Sicht zweier Schuljungen werden die Ereignisse in der Hafenstadt im Revolutionsjahr 1905 geschildert. Der Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt. Für den 1945 erschienen Roman „Der Sohn des Regiments“, in dem Katajew seine Erfahrungen als Kriegsberichterstatter verarbeitet hat, erhielt er 1946 den Stalin-Preis.

„Die Katakomben von Odessa“, 1949 veröffentlicht, drehen sich um die Geschehnisse in der Stadt während der deutsch-rumänischen Besetzung im Zweiten Weltkrieg. Damals hatten sich Bürger und Partisanen in das Labyrinth unter der Stadt zurückgezogen und einen Abwehrkampf gegen die Besatzer geführt. Eine Reminiszenz an die Heimatstadt ist auch das 1967/68 entstandene Buch „Kubik“, 2005 in der Übersetzung von Swetlana Geier auf Deutsch beim Schweizer Verlag Dörlemann erschienen.

Abgesehen von „Kubik“, im deutschsprachigen Feuilleton 2005 als experimentelles Meisterwerk gefeiert, wurde Katajews umfangreiches Werk im größeren Stil lediglich in der DDR rezipiert. Kaum bekannt ist auch, dass seine Stoffe international vielfach adaptiert wurden. So brachte Alfred Polger 1930/31 Katajews ersten Roman „Die Betrüger“, 1926 erschienen, unter dem Titel „Die Defraudanten“ auf die Berliner Bühnen. Kurz darauf verwendete Fritz Kortner den Stoff für den populären Stummfilm „Der brave Sünder“ mit Max Pallenberg und Heinz Rühmann in den Hauptrollen.

Persona non grata zu Sowjetzeiten war der gebürtige Odessit Vladimir Zeev Jabotinsky (1880 – 1940), der sich nach den Judenpogromen 1903/05 zu einem Zionisten entwickelte und zeitlebens radikal für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina gekämpft hat. Um die Jahrhundertwende hat er in Rom Rechtswissenschaften studiert, nach seiner Rückkehr in Odessa als Publizist gearbeitet und dort 1911 einen Verlag für Literatur in hebräischer Sprache gegründet. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam er nach Westeuropa, ging 1940 nach Amerika, wo er im gleichen Jahr einem Herzinfarkt erlag. – Odessa aber ist in seiner Erinnerung immer der wunderbare Ort geblieben, wo das Glück wohnt.

Jabotinsky war im Hauptberuf Politiker, außerdem ein ziemlich umstrittener Politiker wohlgemerkt. Dennoch hat er ein überraschend umfangreiches Oeuvre hinterlassen. Lieder, Gedichte, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Novellen und Romane, die zu seinen Lebzeiten allerdings lediglich in Frankreich, Israel und Amerika gelesen wurden. In seiner Heimat erschien eine Auswahl seiner Werke erst im Jahr 2000, nach dem Zerfall der Sowjetunion.

In Deutschland wurde bisher nur sein Roman „Die Fünf“ bekannt, eine Reminiszenz an das multikulturelle, liberale Odessa der Jahrhundertwende, als sich in der Hafenstadt noch viele Nationen und Religionen gemischt haben und Handel und Kultur blühten.

„Zehn Volksstämme nebeneinander“, schreibt Jabotinsky, „einer so pittoresk wie der andere, einer kurioser als der andere. Anfangs lachten sie übereinander, dann lernten sie, auch über sich selbst zu lachen und über alles auf der Welt, sogar über das, was wehtat, sogar über das, was sie liebten. Allmählich schliffen sie ihre Bräuche aneinander ab, lernten, ihre eigenen Altäre nicht mehr übermäßig ernst zu nehmen, und ergründeten allmählich ein wichtiges Geheimnis dieser Welt: Das eigene Heiligtum ist für den Nachbarn nichts, und schließlich ist dein Nachbar auch kein Dieb und kein Landstreicher; vielleicht hat er ja auch recht, vielleicht auch nicht – kein Grund, sich zu grämen.“

Der Roman, erstmals 1936 im französischen Exil erschienen, erzählt davon, wie fünf Geschwister die Zeitenwende der Revolution von 1905 erleben. Als die jüdische Familiensaga im Dezember 2012 auf Deutsch vorlag[2], war sich das Feuilleton einig: Ein literarisches Meisterwerk – Was für ein Fund! – Ein Fest, wie es in der Literatur und Buchwelt nur selten vorkommt.

Von „Autoren im Schatten“ spricht der Slawist Reinhard Lauer. Gemeint sind jene literarischen Schätze, die weder veröffentlicht, noch wahrgenommen wurden und erst jetzt Stück um Stück gehoben werden.[3] Zu diesem Kreis mag man auch die Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin Lidia Yakovlevna Ginsburg (1902 – 1990) zählen, deren Aufzeichnungen und Erzählungen erst unter Michail Gorbatschow rezipiert wurden. Ginsburg wurde in Odessa geboren, ging 1922 nach Leningrad, wo sie Philologie studierte. Sie hatte Kontakt zu den Leitfiguren des russischen Formalismus, etwa zu Victor Shklovsky, Yury Tynyanov und Boris Eikhenbaum, und sollte sich zu einer unter Künstlern angesehenen Literaturkritikerin und – wissenschaftlerin entwickeln.

Ginsburg hat die Zeit zwischen September 1941 und Januar 1944 miterlebt, als Adolf Hitler Leningrad dem Erdboden gleichmachen und Josef Stalin die Stadt um jeden Preis halten wollte. Nach Beginn der Blockade, die mehr als einer Million Menschen das Leben kosten sollte, begann sie ein Tagebuch darüber zu führen, wie die Bewohner der Stadt mit Angst, Hunger, Kälte und Ungewissheit umgingen. Sie hielt fest, wie sich das soziale Verhalten unter extremen Bedingungen veränderte. Alles Menschliche, Zwischenmenschliche wurde mit archaischer Gewalt zerstört. Es war nicht allein ein Kampf ums Überleben, es war auch ein Kampf gegen die Verrohung. „Die Schreibenden sterben, und das Geschriebene bleibt“, heißt es am Ende der „Aufzeichnungen“.

Im russischen Original erschienen die Beobachtungen, Reflexionen und Notate unter dem Titel „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ 1984 in der Zeitschrift „Neva“, 1989 dann in Buchformat. Die deutsche Übersetzung, 1997 vom Suhrkamp Verlag besorgt, wurde wenig beachtet.[4] Als Sensation hingegen wurde 2014 die Neuausgabe in der Übersetzung von Christiane Körner gefeiert.[5] Erstmals enthalten ist darin die „Erzählung von Mitleid und Grausamkeit“, in der es um Ginzburgs Mutter geht. Den Text hatte man 2006 im literarischen Nachlass der 1990 verstorbenen Odessitin gefunden. Behandelt wird der Hungertod von Ginsburgs Mutter während der Blockade.

„Bei der Lektüre dieser ganz und gar außergewöhnlichen Aufzeichnungen fühlt man mit Erschrecken die tiefe innere Wahrheit dieser Worte und ahnt, dass man sich unter derart extremen Umständen wahrscheinlich genau so verhalten hätte. Lidia Ginsburg, die das bedrückende Geschehen nicht verdrängt, sondern schonungslos aufgeschrieben und analysiert hat, gebührt Achtung und Bewunderung. Die ‚Erzählung von Mitleid und Grausamkeit‘ ist viel mehr als eine detailgenaue historische Schilderung des Leidens während der Leningrader Blockade. Es ist ein einzigartiges Sprachdokument über das Wesen des Menschen in seiner Erbärmlichkeit wie auch in seiner Größe“, so Rezensentin Karla Hielscher 2014 im Deutschlandfunk.

 

Anmerkungen

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

[1] Im Ostberliner Verlag Volk und Welt 1969 unter dem Titel „Das Gras des Vergessens“ veröffentlicht.

[2] Vladimir Jabotinsky: Die Fünf. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Die Andere Bibliothek, Berlin 2012. Als Taschenbuch im August 2017 beim Aufbau Verlag erschienen.

[3] Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1770 bis zur Gegenwart, München 2009.

[4] Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Aus dem Russischen übersetzt von Gerhard Hacker, Frankfurt am Main 1997

[5] Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Mit einem Nachwort von Karl Schlögel, Berlin 2014.

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