Unbehagen mit der „Charta der Digitalen Grundrechte der EU“

Nachdem Justizminister Heiko Maas im Sommer 2015 Facebook und anderen Betreibern großer Internetportale und Plattformen die Selbstverpflichtung abgenommen hatte, verstärkt gegen rassistische, fremdenfeindliche und gewaltverherrlichende Botschaften vorzugehen, stellte Martin Schulz, Noch-Präsident des Europäischen Parlaments, eine EU-„Charta der digitalen Grundrechte“ in Aussicht. Ende November 2016 kamen Gerüchte auf, dass Schulz das ambitionierte Papier in petto hätte. Quasi als flankierende Maßnahme für seine Rückkehr in die deutsche Politik …

die Anzeige in der "Zeit"

die Anzeige in der „Zeit“

Eine Ente, fragte ich mich? Sollte es möglich geworden sein, dass sich 28 völlig zerstrittene EU-Mitgliedsstaaten binnen eines Jahres auf eine digitale Grundrechte-Charta geeinigt haben? Am 30. November ließen Insider wissen, dass ihnen der Text vorläge. Am 1. Dezember wurde die Charta publik gemacht, zudem ihre Entstehungsgeschichte. Einst hatten Gespräche zwischen dem SPD-Politiker Martin Schulz, dem Chefredakteur der „Zeit“ Giovanni di Lorenzo und dem mittlerweile verstorbenen Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher, zum Thema stattgefunden. Zur Leitfrage ließ die „Zeit“ wissen: „Wie lässt sich die Souveränität und Freiheit des Einzelnen in der digitalen Welt schützen – gegen die Totalüberwachung des Staates, aber ebenso auch gegen den Zugriff mächtiger Konzerne.“ Ziel der Initiative sei es, „eine Debatte über digitale Grundrechte anzuregen, an der sich alle Bürger Europas beteiligen sollen.“

Die „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ besteht aus einer Präambel und 23 Artikeln, die 27 Initiatoren aus Deutschland binnen 14 Monaten erarbeitet haben. Seit Erscheinen wird sie in Insiderkreisen auf Herz und Niere geprüft – und differenziert kritisiert. Ich erlaube mir, an dieser Stelle mein eher allgemein gehaltenes Unbehagen damit zu formulieren.

Die Art der Präsentation erweckt für mich den Anschein, als wäre der Text in Stein gemeißelt. Das evoziert auch der Titel, der vorgibt, die EU würde hinter dem Papier stehen. Mit Jan Philipp Albrecht und Martin Schulz zeichnen aber lediglich zwei Mitglieder des Europäischen Parlaments für die Charta verantwortlich. Fakt ist außerdem, dass die EU bei Veröffentlichung noch keine Kenntnis von dem Papier hatte und erst im Nachhinein in die Debatte eingebunden werden soll. Nicht zuletzt könnte man auch das – gut und gerne – Chuzpe nennen, wenn 27 deutsche Verfasser meinen, im Namen von über 510 Millionen EU-Bürger sprechen zu können.

Indem der Anschein erweckt wurde, das Papier sei in der EU bereits (aus)diskutiert worden, hat man sich keinen Gefallen getan. Auch nicht damit, dass sich Experten in einen Elfenbeinturm zurückgezogen haben, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit monatelang an digitalen Grundrechten für die Mitgliedsstaaten der EU zu feilen. Das Anliegen, eine breite öffentliche Debatte über die Gestaltung der digitalen Zukunft lostreten zu wollen, wird so konterkariert. Manchen dürfte der großspurige Auftritt verprellen, wenn nicht sogar abschrecken, sich in die Diskussionen einzubringen. So holt man die breite Masse, die man vorgibt, einbinden zu wollen, bestimmt nicht ab.

Warum nicht etwas kleiner? Weniger pathetisch? Statt „Präambel“ „Einleitung“, statt „Artikel 1“ „Punkt 1“ und so fort. Nicht ganz glücklich war auch der Zeitpunkt, zu dem man die Katze aus dem Sack gelassen hat. Seit dem Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen hören wir ohne Unterlass, welche Gefahren aus dem Netz für die Demokratie und „unsere Werte“ drohen und dass die Notwendigkeit bestünde, das Internet zu regulieren, gegen „Hate-Speech“, Bots und Trolle vorzugehen und die Betreiber großer Plattformen in die Pflicht zu nehmen. Mancher, der mit der Materie nicht ganz so vertraut ist, könnte die Digitalcharta als einen Schritt eben hin zur Regulierung missverstehen.

Wünschenswerter wäre gewesen, die internen Debatten, Dispute und Querelen, das gemeinsame Ringen um eine Präambel und 23 Artikel, öffentlich zu machen, statt die Charta deus ex machina zu präsentieren. Statt ganzseitige Anzeigen ohne Hintergrundinformationen über Ziel und Zweck der Initiative zu platzieren, wäre es angebrachter gewesen, Berichte über das Vorhaben zu lancieren, die das Bewusstsein dafür hätten schüren können, wie notwendig eine solche gesellschaftliche Debatte zur Gestaltung der digitalen Welt überhaupt ist.

Natürlich ist es unstrittig, dass wir uns darum kümmern müssen. Das Verständnis für die anstehenden Probleme wird aber nicht dadurch befördert, indem ein Papier beworben wird, das wie gemeißelt daherkommt. Da nützt es leider auch wenig, wenn Sascha Lobo, einer der Initiatoren, im Nachklapp nun von einer Beta-Version 0.8 spricht, „die im Netz reifen soll, bis sie überhaupt jemals zur Version 1.0 werden kann. – So wird das leider nix. Jedenfalls nichts mit einer wünschenswerten Beteiligung vieler EU-Bürger.

 

„Entweder es passt oder es passt nicht.“ Buchblogger vs. Selfpublisher?

Ein Aufreger besonderer Art auf SteglitzMind war der Beitrag Lieber buchaffiner Blogger, wie hältst du es mit Selbst-Verlegtem?, der am 9. November 2012 erschienen ist. Darin zu lesen waren 15 Statements von Bloggern und Bloggerinnen, die auf die Frage Antwort gaben: Wie würdest du damit umgehen, wenn dir Selfpublisher ihre Titel zur Rezension anbieten?

Von Stimmungsmache gegen selbstverlegende Autoren konnte keine Rede sein. Herausgekommen ist ein ausgewogenes Meinungsbild: Die befragten Blogger stehen Publikationen von Selfpublishern zwar kritisch, aber nicht generell ablehnend gegenüber. So sie Rezensionsexemplare abwinken – was sie häufig tun, hängt das mit dem Selbstverständnis des jeweiligen Bloggers zusammen, der seine Unabhängigkeit schätzt und großen Wert auf selbstbestimmte Lektüre legt. Man will sich nicht in die Pflicht nehmen lassen. Und zwar gilt das für Publikationen von Selfpublishern und Rezensionsangeboten aus klassischen Verlagen gleichermaßen. Hier machen die Blogger keinen Unterschied. Einig waren sie sich auch dahingehend, dass Selfpublisher und Verlagsautoren durch Qualität überzeugen müssen.

Erstaunt hat mich so manche Reaktion, die der Beitrag hervorrief. Fast könnte man meinen, dass die Fronten zwischen Buchbloggern und Selfpublishern verhärtet sind:

Übrigens weiß ich nicht, ob ich bei diesem Beitrag und einigen Kommentaren heulen oder lachen soll. […].Ich habe den Eindruck, dass viele, die nun wirklich vorurteilsbeladen Self Publishing von vornherein als Trash klassifizieren, sich einfach nicht wirklich auszukennen scheinen.

Schade eigentlich, dass es da so viele Vorurteile gibt, denn ich denke immer, es kommt darauf an was in dem Buch drin steht und nicht welcher Verlagsnamen, bei denen man auch schummeln kann, draufsteht …

Was wirklich fehlt ist der Respekt vor Amateuren, auch im textlichen Bereich …

Zur meiner Irritation trug vergangene Woche des Weiteren der Artikel „Self-Publishing. Der YouTube-Literaturbetrieb“ von Jan Fischer bei, der bei ZEIT online erschienen ist. Zwar kommt dem Verfasser zweifellos das Verdienst zu, mit dem Thema Selfpublishing einen Gegenstand aufgegriffen zu haben, den die klassischen Medien lieber meiden. Allerdings kolportiert der Beitrag die Behauptung, dass „viele deutsche Blogger, die sich mit Rezensionen von Neuerscheinungen befassen“, Büchern von Selfpublishern „ablehnend gegenüber“ stünden. Dass sich die Aussage direkt auf den SteglitzMind-Blogpost vom 9. November 2012 bezog, verwunderte mich doch sehr.

denk mal um © GvP

denk mal um © GvP

Wo steht dort geschrieben, dass viele Buchblogger Indie-Publikationen keinen Respekt zollen, ihnen gar ablehnend gegenüberstehen? Wurde gar das Fazit des Beitrags übersehen, in dem zu lesen steht, dass Blogger keine Unterschiede machen und von Autoren – egal ob Indie-, Hybrid- oder Verlagsautor – in erster Linie Qualität einfordern. Warum fiel mein Versuch, ein differenziertes Stimmungsbild wiederzugeben, pauschalisierenden Schlussfolgerungen anheim? Neigt man in der Eile des Gefechts dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten?

Da mir daran gelegen ist, die Sachlage zu objektivieren, freue ich mich, heute mit 15 Stellungnahmen zur Frage nachziehen zu können: Wie würdest du damit umgehen, wenn dir Selfpublisher ihre Titel zur Rezension anbieten?

Ich habe da keine Vorbehalte. Das ist auch schon vorgekommen. Es ist ähnlich wie oben [bei Verlagen oder Dienstleistern]. Ich kaufe lieber, weil ich mich dann in meiner Entscheidung freier fühle, ob ich darüber schreiben will. Jutta S. Piveckova aka Melusine Barby, Gleisbauarbeiten

Es kommt ganz darauf an, ob mich das Werk interessiert. Aber grundsätzlich sehe ich mich derzeit nicht als Rezensentin. Nur wenn mich etwas so begeistert oder empört, dass ich andere daran teilhaben lassen möchte, dann mache ich darauf aufmerksam. @Anousch, Anousch

Ähnlich [wie bei Verlagen oder Dienstleistern: Ich schau mir immer genau den Inhalt an, ob es mich interessieren könnte. Wenn nicht antworte ich höflich, dass es einfach nicht meinen Geschmack trifft.] Entweder es passt oder eben nicht. Bücherliebhaberin, glasperlenspiel13

Vermutlich ebenso wie ich es im Fall von Verlagen und Autoren tun würde. [Ich wähle sehr bedacht aus und greife meist nur bei mir bekannten Autoren zu oder auch bei einem Verlag, deren Programm sehr viele Übereinstimmungen mit meinem Lesegeschmack hat. Rezensionsexemplare bedeuten immer die Verpflichtung, zeitnah eine entsprechend ausführliche Rezension zum Gelesenen online zu stellen – die möchte ich gerne erfüllen und mich zugleich nicht beim Lesen und Schreiben hetzen, weil sich Rezensionsexemplare bereits bei mir stapeln. Aus diesem Grund, und auch weil mir manche Titel nicht zugesagt haben, habe ich Rezensionsexemplare durchaus schon dankend abgelehnt. Zudem kommentiere ich im Gegensatz zu vielen anderen Bloggern auch nicht vorwiegend Neuerscheinungen.] Svenja, Syn-ästhetisch

Ich nehme sie an, wenn sie zu meinem Blog passen. Marcus Johanus mit Marcus Johanus‘ Blog

Das ist schon vorgekommen. Bisher hab ich die Angebote abgelehnt, weil es sich dabei um Krimis und eine Biografie handelte, die mein Interesse nicht wecken konnten. Mal sehen, wie ich handeln werde, wenn mir mal etwas gut Klingendes angeboten wird … Ob ich dann mein eigenes Vorurteil, beim Self Publishing könne ja nichts Gutes rauskommen, überwinden werde? Ich könnte es ja hiermit beschließen und der Sache eine Chance geben! Mareike Fallwickl, Bücherwurmloch

Wie bereits erwähnt, wähle ich mir meine Bücher selbst aus. Das hat nichts mit Überheblichkeit zu tun, sondern mit Freiheit, das zu lesen, was ich möchte – und die Zeit, in der ich das machen kann, ist eng begrenzt. So habe ich nur maximal zwei Stunden dafür am Tag Zeit dafür – außer an den Wochenenden oder im Urlaub. Ich möchte mich nur ungern von meiner Lesefreiheit trennen. Auf der anderen Seite sehe ich, wie schwieriger es für Schreibende wird, ihre Werke bei Verlagen unterzubringen. Simone Finkenwirth, Klappentexterin

Genau gleich wie bei den anderen Büchern: Ich reiche sie an das Team durch. Entscheidend ist, ob sich ein Rezensent dafür interessiert. Aber: es passiert in der Regel nicht … Oliver Gassner, Literaturwelt

Genauso, wie wir mit Rezensionsexemplaren von Verlagen umgehen. Wenn uns Genre, Titel und vor allem die Beschreibung ansprechen, würden wir das Buch auch lesen und rezensieren. Bislang ist das leider nicht vorgekommen, da meist entweder das Genre für uns nicht passte, oder der Inhalt nicht allzu attraktiv beschrieben war. Das wäre dann auch ein Tipp an alle Self Publisher: Jeder potenzielle Leser wird natürlich vom “Klappentext” auf den Inhalt und die Art und Weise, wie das Buch geschrieben ist, schließen. Dieser kurze Beschreibungstext muss also so attraktiv wie möglich und natürlich fehlerfrei sein. Stefanie und Yvonne, Leselink

Das ist bis jetzt noch nicht passiert. Hartmut Abendschein, Betreiber des literarischen Weblogs taberna kritika und Mitbegründer von litblogs.net

Ich sehe keinen Unterschied zwischen einem Self-Publisher und einem “Verlags-Autoren”, d.h. siehe oben. (Rezensionsexemplare würde ich sehr, sehr sorgfältig prüfen, bevor ich eine Zusage geben würde. Leider habe ich immer viel weniger Zeit, als mir lieb ist. Deshalb würde ich keine Erwartungen wecken, die ich dann nicht erfüllen kann.) Axel Hollmann, Axel Hollmanns Schreibblog

Self-Publisher unterscheiden sich für mich nicht von anderen Autoren. Ich entscheide nach Titel und Thema, ob ich das Werk lesen möchte. Ruth Justen, Ruth liest

Wie bereits erwähnt, nehme ich ein Angebot an, wenn es mich anspricht. Wobei ich gestehen muss, dass das selten der Fall ist. [Noch vor einiger Zeit war ich mächtig stolz darauf, wenn mir ein Rezensionsexemplar angeboten wurde. Ich habe mich geehrt gefühlt, dass es jemanden interessiert, was ich von einem Buch halte. Ich habe diese Bücher auch gerne angenommen. Seitdem ich jedoch merke, dass viele Blogger die selben E-Mails bekommen, in denen nur die Anrede ausgetauscht wird, überlege ich doch ein bisschen länger, ob ich ein Rezensionsexemplar annehmen soll. Ehrlich gesagt finde ich es besser, selbst ein Rezensionsexemplar bestellen zu dürfen und freue mich jedes Mal sehr, wenn ich ein entsprechendes Päckchen aus dem Briefkasten herausfische.] Dorota Federer, Bibliophilin

Grundsätzlich genauso wie mit anderen Rezensionsexemplaren auch, allerdings nehme ich keine E-Books an , da ich keinen eigenen Reader besitze und auch vorerst keinen haben möchte bzw. brauche. (Heute nehme ich kaum noch Rezensionsexemplare an. Manchmal tut es mir leid, Absagen erteilen zu müssen, gerade in Hinblick auf noch unbekannte Autoren, doch ich schaffe das zeitlich einfach nicht mehr. Je nachdem, was beruflich oder privat so anliegt, bin ich zu eingespannt, sodass für den Blog kaum noch Zeit übrig bleibt. In solchen Phasen schätze ich es sehr, meine Lektüre frei auswählen zu können, ohne unter dem Druck zu stehen, das Buch möglichst zeitnah zu lesen und vor allem auch zeitnah rezensieren zu müssen.) Ada Mitsou, Ada Mitsou liest….

Ich mache keinerlei Unterschiede zwischen den Büchern von Verlagen und denen selbstverlegender Autoren. Für mich zählt die Qualität eines Buchs und nicht, ob es über einen bekannten Publikums-Verlag, einen Print-on-Demand-Anbieter oder als Kindle-eBook veröffentlicht wurde. Auch hier gilt: Ich veröffentliche nur dann eine Rezension, wenn ich das Buch meinen Lesern guten Gewissens empfehlen kann. Einen Verriss würde ich nur dann schreiben, wenn der Autor partout auf der Rezension seines Werks besteht. Richard Norden, Writers Workshop

Dezidierte Vorurteile gegen Selfpublishing oder gar Ignoranz gegen Publikationen, die in Eigenregie verlegt sind, werden in diesen Stellungnahmen abermals nicht laut. Und wenn, wie hier in einem Fall, dann werden diese kritisch hinterfragt. – So darf ich mein Fazit vom 9. November 2012 also getrost wiederholen: Durch die Bank legen die befragten Blogger Wert auf selbstbestimmte Lektüre, weshalb sie Rezensionsangebote vielfach ablehnen. Sie unterscheiden nicht zwischen Verlagsautoren und Selfpublishern, noch legen sie unterschiedliche Kriterien an die jeweiligen Publikationen an. Überzeugen lassen sie sich allein durch Qualität.

Weitere Überlegungen zur Bedeutung von Literaturblogs und deren Umgang mit E-Book und selbstverlegenden Autoren habe ich in einem Interview für litaffin angestellt, das hier nachgelesen werden kann.

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Die Frage Wie würdest du damit umgehen, wenn dir Selfpublisher ihre Titel zur Rezension anbieten?  ist Bestandteil der Gesprächsreihe „Steglitz stellt bibliophile Blogger“ vor, die im September 2012 an den Start ging. Ihr voraus geht die Frage Wie gehst du damit um, wenn dir Verlage, Agenturen oder Autoren Rezensionsexemplare anbieten? Aus den Antworten darauf stammen die Zitate, die in eckige Klammern […] gesetzt sind.

Rede und Antwort standen in der Interviewreihe bislang 37 Bloggerinnen und Blogger. Ein Überblick findet sich hier

Kommunikation im Netz: Akklamation statt Partizipation …

Fast hat es den Anschein, als setze die öffentliche Wahrnehmung die digitale Kommunikation mit Bashing und Shitstorm gleich. Wie oft hören wir, dass im Netz die Hemmschwellen gering seien und die Kommunikationsstile entsprechend rau. Da werde mit harten Bandagen gekämpft und Andersdenkende im Schutz der Anonymität gemobbt. Woraus Konsequenzen in Form von anhaltenden Diskussionen um Netiquette, Fairness und Zivilcourage im Netz gezogen werden.

Natürlich gibt es das dort auch: Schmähreden, Hasstiraden, Verunglimpfungen Andersdenkender. Mein Eindruck ist allerdings, dass es im Netz eher sittsam zugeht. Bisweilen vielleicht sogar zu sittsam!? Hitzige Debatten, bei denen sich die Gemüter erregen und die Stimmen laut erheben, erlebe ich bei Facebook und anderen Communities oder Blogs so gut wie nie. Man geht sich nicht an den Kragen. Im Gegenteil: Angesagt ist Wohlfühlen. Und deshalb passt man sich lieber an. Da man weder auffallen, noch anecken und zudem mit seiner Meinung nicht alleine bleiben mag, richtet man seine Statusmeldungen nach dem Massengeschmack. Mainstream galore! Mit populärer Musik, niedlichen Katzenbildern, rotglühenden Sonnenuntergängen, einem Instagrambild vom leckeren Mittagessen, Sinnsprüchen und Albernheiten oder Schmeicheleien hält man seine Claqueure bei der Stange.

Sei kein Frosch!
© Lindtdose, Foto: G. v. Prittwitz

Und wer Themen postet, die ein gewisses „Geschmäckle“ haben oder problematisch sind, der versucht sie zu entschärfen. Zur verpatzten Abschlussarbeit passt ein Song von Gloria Gynor („I will survive“), zum Refugee-Camp am Brandenburger Tor ein Sinnspruch. Und für den Darmvirus, an dem man laboriert, hält ein Markenzwieback her, den man mittels Fotoapp gekonnt ins Licht gesetzt hat. Zum schönen heilen Kosmos, den Netzwelten suggerieren, gehören auch Selbst-Inszenierungen mit dem Zweck, sich möglichst vorteilhaft in Szene zu setzen. Wir Helden, die wir keine Ängste noch Sorgen kennen! Ohne Fehl und Tadel und zudem mit allem ausstaffiert, was die Konsum- und Warenwelten hergeben.

Ich frage mich, warum die eindimensionale Sicht, die das Netz vielfach abbildet, und die Heile-Welt-Mentalität, die dadurch befördert wird, nicht weiter verstören. Problematisch sind nicht allein die „schönen“ Bilder und Texte, die vermittelt werden, sondern besonders auch die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen bzw. nicht umgegangen wird. Partizipation im Netz, allemal bei Facebook, erschöpft sich mehrheitlich in Akklamation.

Symbolkräftig ist der „gefällt-mir“-Button, der vielfach arglose und inflationäre Verwendung findet. Problematisch sind Empfehlungsbuttons auch, weil sie per se eine kritische oder differenzierte Stellungnahme obsolet machen. Man mogelt sich quasi mit einem Klick drumherum. Und weil der „gefällt-mir“-Button so massenhaft in Gebrauch ist, wäre natürlich auch darüber nachzudenken, ob die äußerst bequeme Art, Affirmation zu bekunden, nicht Auswirkungen auf Diskurse haben könnte, die sich in der realen Welt vollziehen …

Wollen wir Claqueure haben, die den Mund halten? Natürlich nicht. Deshalb wünsche ich mir bei den Diskussionen um Netiquette, Fairness und Zivilcourage im Netz gelegentlich ein wenig mehr Weitsicht. Lediglich eine Minderheit dürfte in Abrede stellen, dass ein respektvoller Umgang bei der digitalen Kommunikation keine Notwendigkeit ist. Was es neben einem Knigge auch braucht, ist ein Coach, der aufzeigt, wie man sich im Netz differenziert einbringt oder dort konstruktiv-kritisch Stellung bezieht. Pluralismus braucht Reibung und kritische Partizipation, keine Lobhudelei und Schönfärberei.

An die Adresse der Projektgruppe Medien, Kultur, Öffentlichkeit der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft gerichtet: Wer die Frage stellt „Was geht (gar nicht) in Netz?“ sollte auch darauf Obacht haben …

Lieber buchaffine Blogger, wie hältst du es mit Selbst-Verlegtem?

Statements zur Frage „Wie würdest du damit umgehen, wenn dir Self Publisher ihre Titel zur Rezension anbieten“

Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass sich die klassischen Medien und das traditionelle Feuilleton nicht auf Publikationen von Self-Publishern einlassen. Und da Self Publisher vielfach eine starke Affinität zum Netz haben, bleibt ihnen meist gar nichts anderes übrig, als ihr Buchmarketing auf eben diese Kanäle zu konzentrieren. Ein eigenes Blog nebst Homepage gehören inzwischen zum Standard, bisweilen sogar ein Youtube-Kanal. Da wird getwittert, gegoogeltplust oder gepinterestet. Autorenforen und Communities sind ebenfalls ein Mittel zum Zweck. Neben Rezensionen auf Amazon, für die gegebenfalls auch Freunde und der Bekanntenkreis herhalten müssen, rückt die buchaffine Bloggerszene ins Visier, von der man sich Reichweite und Unterstützung bei der Vermarktung erhofft.

Doch wie stehen buchaffine Blogger zu Publikationen von Selbstverlegern? Da ich das etwas genauer wissen wollte, habe ich einige von ihnen um ein kurzes Statement dazu gebeten.– Der Form halber sei angemerkt, dass die Aussagen von 15 bibliophilen Bloggern selbstverständlich nicht repräsentativ sind und Schlussfolgerungen jedweder Art entsprechend fernliegen.

Wie würdest du damit umgehen, wenn dir Self Publisher ihre Titel zur Rezension anbieten?

Das kommt gelegentlich vor. Bisher war jedoch noch nichts dabei, was mich angesprochen und zur weitergehenden Lektüre gereizt hat. – Klingt vielleicht ein bisschen arrogant, ist aber so. GregorKeuschnig, Begleitschreiben

Eine schwierige Frage. Wenn ich den Self Publisher persönlich kenne, ist es schwer, da ich befangen bin. Ich bin ein eher kritischer Leser und möchte eine mir bekannte Person nicht verletzen. Das könnte für mich zu einem Konflikt führen. Ich würde mir den Vorbehalt herausnehmen, keine Rezension zu schreiben, wenn ich mich dazu nicht in der Lage sehe (aus welchen Gründen auch immer). Diesen Vorbehalt hätte ich aber auch bei unbekannten Autoren. Ich hadere noch mit mir, wirkliche „Verrisse“ zu schreiben, dann schreibe ich lieber gar nichts. Auf der einen Seite steht viel Arbeit und Herzblut eines Autors dahinter, auf der anderen Seite hat er das auch an die Öffentlichkeit gebracht, müsste die Kritik also annehmen können. Schwer ist es doch meistens und ich habe die wirkliche Lösung noch nicht gefunden. Das fiel mir auf wissenschaftlicher Ebene leichter, irgendwie war damals das Werk näher als der Autor, ich merke da eine Verschiebung. Sandra Matteotti, Denkzeiten und Bücherwelten

Die Self Publisher sind diesbezüglich – verständlicherweise – wesentlich aktiver als klassische Verlage. Sprich: Mir werden öfter Bücher angeboten. Allerdings selten meinen Interessen entsprechend, weswegen ich meist ablehne. Das hat nichts mit der möglichen Qualität zu tun, mich interessieren bestimmte Genres einfach weniger als andere. Insgesamt suche ich mir am liebsten selbst meine Lektüre aus, da kommt schon genug zusammen. Und ich fühle mich freier, als wenn ich einen Stapel Bücher hätte, den ich eher lesen „muss“ als will. Petra Gust-Kazakos, Philea’s Blog

Ich gehe mit Titel von Self Publisher genauso um, wie mit Verlagen oder Agenturen, die mir Rezensionsexemplare anbieten. Es gibt für mich da keinen Unterschied! D.h. Wer dem „Durchleser“ per Mail oder auch per Post unverlangt ein Leseexemplar anbietet, wird sich zu hundert Prozent sofort in der Ablage P wie Papierkorb wiederfinden. Durchleserin, Durchleser’s Blog

Ignorieren. Christian Köllerer, Dr. Christian Köllerers Notizen

Es ist erst ein paar Mal passiert, dass ich Mails in meinem Posteingang vorgefunden habe, wo mir Self Publisher ihre Titel angeboten haben. Bis jetzt habe ich diese Angebote nicht angenommen. Nicht aus dem Grund, weil sie selbstverlegt sind, sondern weil mich die Titel oder auch der Inhalt nicht angesprochen haben. Meine Lesezeit ist begrenzt, so dass ich mir gerne ganz bewusst die Lektüre suche, die mich interessiert. Selfpublished Büchern stehe ich jedoch nicht grundsätzlich skeptisch gegenüber. Die Möglichkeit des Self Publishing wird auf lange Sicht sicherlich dazu führen, dass Texte und Autoren erfolgreich werden, die es sonst vielleicht nicht geschafft hätten. Ich glaube, dass das eine große Möglichkeit für viele Autoren sein kann, aber auch zu einem Problem werden kann, wenn Autoren und Autorinnen inflationär ihre Texte herausbringen können. Mara Giese, Buzzaldrins Bücher:

Wenn mich das Thema des Romans und die Leseprobe ansprechen würden, hätte ich nichts dagegen auch den Titel eines Self Publishers zu lesen. Kerstin Pistorius, Atalantes Historien

Rezensionswünsche lehne ich grundsätzlich ab, denn ich müsste alle zwei Tage ein ZUSÄTZLICHES Buch lesen, um allen Anfragen nachzukommen. Da spielt es keine Rolle, ob es sich um Bücher aus Verlagen, BoD oder eBooks im Selfpublishing handelt. Allerdings neige ich zu Skepsis gegenüber Büchern, die nicht die Verlagshürde genommen haben. Da entgehen mir gewiss Perlen, aber – Achtung Vorurteil! – noch weniger als bei den Verlagsprodukten. Dazu kommt, dass den Texten oft ein Lektorat fehlt und man deshalb über Stilblüten, Grammatik- und Orthografie-Fehler stolpert. – Allerdings werden auch einige Verlagslektorate immer nachlässiger. Dieter Wunderlich, Dieter Wunderlich: Buchtipps und Filmtipps

Ich arbeite ja in der Buchbranche, beobachte das Phänomen Self Publishing also aus beruflichem Interesse und sehe das Potential, das darin steckt. Daher müsste ich eigentlich sagen: Ich halte es mit selbstverlegten Büchern genauso wie mit den “traditionell” bzw. “professionell” verlegten, d.h. ich informiere mich umfassend über den Titel und entscheide dann, ob er in das Profil von SchöneSeiten passt. Doch die Wahrheit ist, dass ich auf ein solches Rezensionsangebot sehr skeptisch reagieren würde, um nicht zu sagen: Ich würde es vermutlich aus Prinzip ablehnen.

Wirklich begründen, warum ich so verfahren würde, begründen kann ich es nicht; es liegt wohl daran, dass es in meinem Kopf (noch!) eine Art Schranke gibt: Ich verbinde Self Publishing nicht mit Qualität und glaube nach wie vor an die Rolle der Verlage, sprich der Lektoren, der Hersteller, der Graphiker usw., denn wenn dem nicht so wäre, dann müsste ich dringend meinen Berufswunsch überdenken. Gleichzeitig bin ich mir aber sehr wohl darüber bewusst, dass auch die traditionellen Buchverlage schon längst keine Garantie mehr für Qualität sind. Ein Dilemma… Caterina, SchöneSeiten

Diesbezüglich kommen bei mir nur ganz seltene Angebote. Ich gehe damit ähnlich um wie mit allen anderen Angeboten: Falls das Buch mich interessiert, bitte ich nach Möglichkeit um ein eBook, weise allerdings darauf hin, dass ich mich nicht zur Rezension verpflichten mag. – Bislang habe ich auch kein Buch aus diesem Bereich besprochen, wenn ich mich recht erinnere. Marius Fränzel, Bonaventura

Wenn mir Selbstpublisher ihre Bücher anbieten würden, würde ich die genauso behandeln, wie jene von Großverlagen. Allerdings hat mir in all den Jahren nie ein Selbstpublisher ein Buch zur Besprechung geschickt. Ein Buch von einem Selbstpublisher würde mich besonders neugierig machen. Klausbernd Vollmar, kbvollmarblog

In der Regel stehe ich Selbstverlegtem, egal ob Print oder E-paper, was die Qualität betrifft, ziemlich skeptisch gegenüber. Das beträfe auch ein eigenes Werk. Allerdings ist der überwiegende Teil des Verlegten oft auch nicht besser und bloß marktgerecht herausgeputzt. Ich würde mich also nur damit befassen, wenn es mich vom Sprachniveau her anspricht und keinen allzu esoterischen Charakter hat. Sonst reagiere ich einfach nicht und eine dementsprechende Email landet als Werbung im elektronischen Papierkorb. Der Kopf hinter dem Buecherblogger 

Ich glaube, das ist mir noch nicht so oft untergekommen. Ab und an fragt ein Autor um eine Besprechung an, ob der jetzt aber nur „Werbung“ machen will oder Self Publisher ist, keine Ahnung, da ich meistens ablehne und mich nicht drum kümmere. Nicht aus Prinzip, aber ich habe so viel zu lesen, das reicht mir, da brauche ich nicht noch zusätzlichen Stoff. Ausnahmen mache ich allenfalls, wenn es ein Stoff ist der mich wirklich interessiert… Ist vielleicht ein-/zweimal vorgekommen bis jetzt.

In gewisser Weise stimme ich allerdings auch Caterina zu. Mag ein Vorurteil sein…. 😉 Bei einem Publikumsverlag gehe ich von einer gewissen Mindestqualität aus, weil da schon mal kritische Augen drüber gehuscht sind. Nichts finde ich ärgerlicher als einen Text, über den man sich ärgern muss, weil man über Ecken und Kanten stolpert.  Aber das mag, wie gesagt, ein Vorurteil sein, in beiden Richtungen… Flatter Satz, aus.gelesen

Ich habe einmal eine Anfrage erhalten, aber das Genre hat mir überhaupt nicht zugesagt und ich habe abgelehnt. Danach hat es noch einige unschöne Mails gegeben, weil ich mich vielleicht im Antwortschreiben falsch ausgedrückt habe. Das fand ich dann etwas weniger toll. Kurz und gut, gehe ich nicht anders mit einer Anfrage um, als von Verlagen. Das Thema müsste mich schon sehr interessieren, denn zu lesen habe ich wahrlich sonst noch genug. Buechermaniac, lesewelle

Da gilt die gleiche Antwort wie bei unverlangt angebotenen Rezensionsexemplaren oder Bitten um eine Besprechung: aus Prinzip würde ich ablehnen, da ich die Auswahl für meinen Blog selbst zusammenstelle und mich dabei neben den üblichen Quellen, aus denen ich meine Anregungen zur Lektüre oder zum Film- und Musikgenuss bekomme, auch auf Empfehlungen von Freunden, Bekannten oder Bloggern verlasse, auf deren Urteil ich vertrauen kann. Sofern ich jemanden persönlich gut kenne, der etwas geschrieben oder herausgegeben hat, mag das dann nochmal eine andere Sache sein: aber auch da würde ich nur rezensieren, wenn es mir gefällt und zu Jargsblog passt – oder aber schweigen. Jarg, Jargs Blog

Auch die 15 Blogger sind sich einig: Überzeugen müssen Self Publisher durch Qualität. Was es demnach dringend bräuchte, wäre eine Art Gütesiegel, das Lesern und Multiplikatoren hilft, Spreu vom Weizen zu trennen. Allerdings legen die Antworten auch nahe, dass hohe Qualitätsstandards nicht nur für die Publikation selbst gelten. Sie betreffen auch die Präsentation nach außen. Wofür freilich mehr als „nur“ ein zugkräftige Cover, ein gehaltvoller Klappentext und ggf. eine ansprechende Gestaltung der U4 (=Umschlagseite 4 beim gedruckten Buch) in die Waage fällt.

© M. v. Seydlitz

Was denn noch? Eine auf die Publikation exakt zugeschnittene Kommunikationsstrategie, deren einzelne Bausteine professionell erarbeitet sind. Die Statements führen nämlich deutlich vor Augen, dass man über Zielgruppen und potentielle Multiplikatoren möglichst genau Bescheid wissen sollte. Letzteres bedeutet wiederum, dass man sich im Vorfeld eingehend mit den Profilen und Interessengebieten von Blogger auseinandersetzt. Erst danach kann man überhaupt abwägen, ob und welche Blogs als Multiplikatoren in Frage kommen. Daran schließt sich eine weitere Hürde: Ein Rezensionsangebot in Form eines Anschreibens, aus dem deutlich hervorgeht, welche Alleinstellungsmerkmale, Besonderheiten und Qualitäten die Publikation hat und warum sie so gut zum Profil des Adressaten passt.

Dass der immense Aufwand kein Erfolgsgarant ist, sollte niemanden davon abhalten, sich die Mühe zu machen. Schließlich belegt das Stimmungsbild auch, dass Blogger Publikationen von Selbstverlegern zwar kritisch, aber nicht ablehnend gegenüber stehen.

Dieser Beitrag ist ein Nachtrag zur Gesprächsreihe mit bibliophilen Bloggern, wo die Fragestellung „Wie würdest du damit umgehen, wenn dir Self Publisher ihre Titel zur Rezension anbieten?“ bis zum 5. November nicht berücksichtigt wurde.

Zu weiteren 15 Stellungnahmen zu der Frage geht es hier

Bloggen nach étiquette? Anmerkungen zur Gesprächsreihe mit bibliophilen Bloggern

Dass lose Gespräche mit bibliophilen Bloggern ein brauchbarer Kompass sein könnten, um sich im Dickicht der buchaffinen Netzszene etwas besser zurechtzufinden, dies fand inzwischen viel positive Resonanz. Die Interviewreihe, die Petra Gust-Kazakos am 5. September an den Start brachte, nahm schnell Fahrt auf. Mit der Lesewelle, deren Urheberin sich gestern präsentiert hat, haben wir inzwischen 20 Blogs, deren Betreiber und Intentionen näher kennengelernt. Ein großes Dankschön gebührt allen Gesprächspartnern. Außerdem meine ich, dass man nun ein erstes Resümee versuchen könnte.

wie bei Tisch, so im Blog … © G.v.Prittwitz

Mit einer Frankophilen, die in Paris lebt, einem Türken aus Istanbul, drei Schweizerinnen, einem deutschen Blogger, der in Norfolk wohnt, zwei Literaturbloggern aus Österreich und allerlei Empfehlungen, die über die deutschen Sprachgrenzen hinausführen, kann man guten Gewissens behaupten, dass das Projekt internationales Flair entwickelt. Angenehm ist auch, dass das ungleiche Verhältnis zwischen den Geschlechtern, das ich am 30. September noch konstatierte, sich im vergangenen Monat etwas zugunsten der weiblichen Anteile verschoben hat. Die Frauen haben zwar aufgeholt, überholt haben sie die männlichen Buchblogger allerdings noch nicht.

Mehr als das Gender-Ungleichgewicht, das aktuell bei 8 : 12 liegt, überrascht mich, dass das Bloggen über Bücher und den Literaturbetrieb offenbar ein Kinderspiel ist. Abgesehen von Selçuk, dessen Plattform in der Türkei zweitweilig verboten war, schilderte bislang kein einziger meiner 20 Gesprächspartner, dass dabei dezidierte Probleme oder Hindernisse auftreten. Dies wiederum steht im Widerspruch zu dem Erfahrungsbericht eines Bücherwurms, der vor wenigen Tagen im Social Web seine Runden machte. Und zwar berichtete die Bloggerin über Situationen, in denen sie es hasst, ein Blogger zu sein. Wie das? U.a. musste sie sich gegen Bashing zur Wehr setzen, weil sie sich weigerte, unaufgefordert zugestellte Titel zu besprechen. – Doch lest selbst …

Solch negative Erfahrungen spiegeln die Interviewbeiträge hier jedenfalls nicht. Zwar beklagen die Gesprächspartner durchgängig Zeitmangel oder gewisse technische Probleme, die sich im Anfangsstadium allerdings legen. Selten wird die Sinnfrage gestellt: „Wozu machst du das eigentlich? Das liest doch eh niemand, das braucht die Welt doch nicht, niemand wartet auf deine Texte“, fragt Sandra Matteotti sich in ihrem Beitrag.

Gelegentlich stößt man auf Selbstzweifel, ob man den eigenen bzw. den Ansprüchen anderer genügt und ob man Atem genug hat, um kontinuierlich zu bloggen. Bisweilen schimmert auch durch, dass ausbleibende Resonanz und magere Klickraten die Freude am Bloggen mindern. Ab und zu wird zudem bemängelt, dass die Debattier- bzw. Kommentarfreudigkeit in der bibliophilen Netzszene nur wenig ausgeprägt ist. Im Großen und Ganzen stimmt man jedoch unisono darin überein, dass bibliophile Blogger keine Hürden zu nehmen hätten.

An einem solchen Bild einer „schönen heilen Blogger-Welt“ kratzen vereinzelt allerdings die Kommentare. So wurden beispielsweise im Zusammenhang mit dem ungleichgewichtigen Genderverhältnis Überlegungen angestellt, warum Bloggerinnen (in der öffentlichen Wahrnehmung) eine Minderheit stellen. Klausbernd beklagte die Tendenz, dass auf Blogs „eine Kultur affirmativer Inhaltslosigkeit“ gepflegt wird. An anderer Stelle legte er wiederum dar, dass es keine Perspektive sein kann, Kultur im Netz auf Dauer kostenlos zur Verfügung zu stellen. Und Dieter Wunderlich berichtete in einem seiner Kommentare von Situationen, in denen er sich ausgebeutet fühlt. Flattersatz thematisierte eine Abhängigkeit von der Plattform, auf der gebloggt wird, und Mila wies in einer Randbemerkung darauf hin, dass eine öffentliche Selbstdarstellung auch der Tendenz Vorschub leisten kann, sich in einem möglichst positiven Licht zu präsentieren. Deutliche Kritik an der Bloggerkultur übte Martin alias emhaeu, der Rumgekritzelt betreibt, in einem seiner Kommentare zum Gespräch mit Klausbernd:

In viele Blogs und Communities ist eine seltsame Höflichkeit eingezogen, im ursprünglichen Sinne: Courtoisie – Leben nach der Etikette des Hofes. Und wie in der Kultur der adligen Höfe der vorbürgerlichen Zeit zieht sich ein Regelwerk durch die Blogsphäre, die sowohl den Austausch wahrer Empfindungen als auch eine ehrliche Diskussion verhindert. […]. Fein, wer von uns würde nicht gerne ständig gelobt? Aber sind wir tatsächlich alle so schwach, haben wir ein derart zerbrechliches Selbstbewusstsein, dass jeder Anflug von Kritik vermieden werden muss, dass das „Like it“ zum Pflichtprogramm degeneriert? Wäre sehr schade, weil das Medium doch eigentlich wie geschaffen ist für einen Austausch.

Und nun frage ich mich, warum dieser Kuschelkurs, beobachtet ihr das auch? Und: Ist das etwa eine Besonderheit der bibliophilen Szene, dass man sich die Welt im Netz lieber heil und schön bzw. rosa schreibt?

Es geht die Mär: Die Zukunft des Buches sei elektronisch …

Nun muss ich meinem Unmut doch Luft machen. Ich kann es nicht mehr hören. Das, was ich in den letzten Jahren immer öfter und während der weltgrößten Büchershow in den vergangenen Tagen aber- und abermals zu hören bekam: Nämlich, dass die Zukunft des Buches elektronisch sei.

So ein Quatsch! Das Buch ist ein Trägermedium. Und zwar für Inhalte oder neudeutsch: für Content. Diesbezüglich stellt sich ja auch keiner mehr hin, um (je nach Standpunkt) mit Verve oder mit Wehmut zu erklären, dass deren Zukunft elektronisch sei. Ein Hinterwäldler, würden wir von ihm denken, einer der die Entwicklung komplett verschlafen hat … Haben wir uns nicht schon lange daran gewöhnt, dass die Digitalisierung in Alltag, Freizeit und Beruf fest Fuß fasste? Schließlich gehen wir seit Jahren selbstverständlich mit digitalisierten Inhalten um, sei es wenn wir Musik hören, fotografieren, uns mit Freunden und Bekannten in sozialen Netzwerken austauschen oder auf dem Rechner bzw. Smartphone Meldungen, Kommentare oder Informationen lesen.

Längst ist auch das elektronische Buch auf dem Vormarsch. Und die Buchbranche, die sich lange gegen die Entwicklungen gesträubt hat, stellt die Weichen ebenfalls neu. So mancher Verlag wagt sich auf Neuland. Sorgen muss uns auch nicht, welche Rolle die Frankfurter Buchmesse spielen wird, wenn es im großen Stil zukünftig das nicht mehr gibt, was bislang zwischen Buchdeckeln gehandelt wurde. Eine Messe für’s Non-Book? Das ist sie doch längst. Ein Think Tank für Überlegungen, wie sich Geschäfte mit dem machen lassen, was nach dem Buch kommt? Auch das wurde in Frankfurt viel diskutiert.

Fest steht jedenfalls: Nach all‘ dem Wehklagen, Lamentieren und Beharren darauf, dass keine Abkehr vom Buch stattfände, setzt sich nunmehr auch bei den Hinterwäldlern die Einsicht durch, dass die Tage für das gedruckte Buch gezählt sind. Das lässt sich beispielsweise auch eindrucksvoll an der Außenwahrnehmung ablesen, die das Frankfurter Buchspektakel heuer hatte. Sehr viel weniger Lobgesang auf Bücher, Autoren und die Buchkultur als noch in früheren Jahren, dafür umso mehr Abgesang! Wehmütig-polemisch etwa bei Sibylle Berg, martialisch bei Malte Herweg, der sich eine Guillotine besorgte, um sich seiner Bibliothek zu entledigen, oder bissig wie bei Robin Detje und seinem eBuch-Selbstversuch.

Und auf der Messe selbst? Auch dort standen die Folgen der Digitalisierung im Fokus. Ihre Berührungsängste haben Verlage inzwischen verloren. Angst macht nun nicht mehr das eBuch, sondern die Entwicklungen beim Self-Publishing, die Verlage kannibalisieren, wie Ina Fuchshuber von neobooks in Frankfurt meinte. Unverblümt sprach Messedirektor Boos in seiner Eröffnungsrede davon, dass wir es mit der größten Umbruchsphase seit Einführung der Druckerpresse, einem „Urknall im Publishing“ zu tun hätten. Fast könnte man meinen, dass sich die Buchbranche Mitte Oktober 2012 zu digitalen Ufern aufmacht. Ginge da nicht diese Mär, dass die Zukunft des Buches eine digitale sei …

auf der langen Bank … © Gesine von Prittwitz

Ich mag mir jedenfalls kein X mehr für ein U vormachen lassen. Digitaler Content ist keine Zukunftsmusik, sondern schon lange Realität! Insofern ist man gut beraten, sich diesem zuzuwenden. Auch diesbezüglich setzte Frankfurt, wenn wohl auch nicht als Trendscout, unmissverständliche Zeichen. Ob davon allerdings Zugkraft genug ausgeht, um die Versäumnisse der vergangenen Jahre wettzumachen? Die Buchbranche hatte ja nicht nur die Digitalisierung zu weiten Teilen verschlafen. Vielfach verlor sie auch einen Bezug zu Inhalten und Ehrfurcht vor jenen, die Inhalte schaffen. Statt auf die Qualität von Büchern zu achten, wurde auf Mainstream und Quantität, d.h. massenhaften Verkauf gesetzt. Lässt sich das wieder gutmachen? Mit einer Buch-Marketingkampagne des Börsenvereins, die „laut, überraschend, involvierend und aktivierend“ geplant ist, sicher nicht. Und mit lautschreierischen Aktionen, karnevalistischen Aufzügen, sensationellen Aufmachern und hippen Social Media Maßnahmen, derer Frankfurt auch voll war, ebenfalls nicht.

Über Sexappeal. Oder: Warum das Buch nicht sexy ist!

Quasi zum Inventar der Buchbranche gehört die Frage nach dem Sexappeal des Buches. Inzwischen sind Stimmen, die einen Verlust der sexy Aura beklagen, allerdings so laut geworden, dass sich das Branchenmagazin Buchreport jüngst sogar zu einer Umfrage unter den Branchenangehörigen mit der pointierten Fragestellung „Ist das Buch nicht mehr sexy genug?“ veranlasst sah. Die Ergebnisse, auf die ich hier noch kurz zu sprechen komme, sind im aktuellen Buchreport Magazin und in Auszügen im Netz nachzulesen.

Ich vermute, dass die Fragestellung erstmals in jenen Tagen auftauchte, als den Verlagen dämmerte, dass Marketing und Werbung nicht allein die Handelspartner, sondern auch die Leser, sprich: die Käufer einbeziehen müsse. Mir begegnete sie zum ersten Mal auf der Vertreterkonferenz einer mittelständischen Verlagsgruppe in den späten 90er Jahren des vergangenen Jahrtausends. Und natürlich nicht, wie man meinen könnte, bei der Präsentation eines Titels mit erotischen Inhalten. Es wurde auch kein Buch vorgestellt, das dem persönlichen Sexappeal auf die Sprünge helfen sollte. Präsentiert wurde den anwesenden Vertretern vielmehr ein Ratgeber zu einem Trendthema, das mir seinerzeit alles andere als sexy erschien.

Hoppla, dachte ich bei mir, was soll diese Frage hier? Verblüfft betrachtete ich den Marketingleiter, der in Manier eines Nummerngirls mit dem Cover des Ratgebers in der Hand die Stuhlreihen der Vertreter abschritt: „Ist das sexy?“ Er meinte Covergestaltung und Titelei. Dass sich meine Stirn in Falten legte, lag weniger an der Attraktivität des Marketingleiters. Vielmehr war ich damals in der Branche noch relativ neu und entsprechend unerfahren im Buchmarketing. Außerdem hatte ich mich bis zu meinem Wechsel in die Buchbranche lange aus der Perspektive einer Literaturwissenschaftlerin im akademischen Betrieb mit dem Buch beschäftigt.

Im Wissenschaftsbetrieb stellte sich eine solche Frage einfach nicht. Und schon gar nicht bei meinem Forschungsgegenstand, der DDR-Literatur. Dort, wo diese Bücher einst entstanden sind, waren die Leser nicht auf eine Aura, sondern auf Inhalte scharf. Und zwar gierten sie insbesondere nach solchen Aussagen, die der Zensor übersehen hatte und die sich zwischen den Zeilen lesen ließen. Angesicht von Mangelwirtschaft und Papierknappheit war auch den Verlegern der Sexappeal eines Buches schnuppe. Und die Oppositionellen, die ihre Existenz und persönliche Freiheit für das Herstellen von Samisdat-Literatur oder anderen Schriften aufs Spiel setzten? Die hatten wahrlich andere Sorgen!

Jedenfalls begriff ich dann doch relativ rasch, dass die Frage nicht dem Inhalt oder dem Buch an sich gilt. Dass sie vielmehr darauf abzielt, ob das Marketing für ein Buch attraktiv genug ist, um Kaufbegierde zu wecken. Dass Sexappeal in der Buchbranche (und nicht nur dort) für Verkäuflichkeit steht. Nun gut, dachte ich mir, das ist nicht unehrenhaft und auch nicht anrüchig. Ein Bauchgrummeln blieb dennoch.

Mittlerweile allerdings ist aus meinem sporadischen Bauchzwicken ein dauerhaftes Bauchdrücken geworden. Ich höre das nämlich aus der Buchbranche inzwischen einfach zu oft: Ist das Buch (nicht mehr) sexy (genug)? In jüngster Zeit so häufig, dass ich mich inzwischen sogar frage, ob man mit dem allseits apostrophierten Sexappeal des Buches nicht auch den Eindruck erwecken will, dass sich die gegenwärtigen Probleme des Buchmarktes dadurch lösen ließen, wenn man das Buch zur Kur oder zum Visagisten und einer Flirt-Beraterin schickt? In meinen Ohren klingt das Lamento unterdessen so, als wolle man sich nicht den Realitäten stellen. Als habe man Angst davor, Tatbestände bei ihrem wirklichen Namen zu nennen, und keine Bereitschaft dazu, die Probleme infolge der Digitalisierung an ihrer Wurzel zu packen.

Flickr: http://www.flickr.com/photos/powerhouse_museum/3877422238/lightbox/

Mir scheint, dass die alt-bewährte Marketingfrage, ob ein Buch sexy ist, mittlerweile zu einer Phrase verkommen ist: Ein dankbares Klischee, das man gegen die digitale Umwälzung und deren Folgen in Stellung bringen kann. Fakt ist, dass das Buch nicht weniger attraktiv ist als früher. Fakt ist außerdem, dass es sich heute schlechter und schwerer verkauft, was freilich nicht daran liegt, dass der Sexappeal des Buches gelitten hätte.

Und wie sehen das die Branchenangehörigen selbst? Laut der besagten Buchreport-Umfrage zum Thema Sexappeal bezweifelt die Mehrheit, nämlich 64%, die Attraktivität des Mediums Buch nicht. Wenn überhaupt, wird eine vorrübergehende Formschwäche (sic!) attestiert. Ein gutes Viertel ist der Meinung, dass Bücher an Anziehungskraft einbüßen.

Differenzierte Antworten sowie kritische Anmerkungen zu der Umfrage, aber vor allem der Umstand, dass die Fragestellung („Ist das Buch nicht mehr sexy genug“) bei den Befragten keinen einhelligen Applaus fand, lassen mich aufatmen. Ist angekommen, dass Sexiness eine Anmutung ist, die auf subjektiven Wahrnehmungen und nicht auf objektiven Tatsachen beruht? Hat man sich nunmehr bewusst gemacht, dass Ansätze, die aufs alt-bewährte Buchmarketing setzen, keine zeitgemäßen Lösungen mehr bieten? Hat man sich womöglich auch darüber Gedanken gemacht, dass pointiert-einseitige Zuschreibungen den Wert des Buches in der öffentlichen Wahrnehmung sogar mindern könnten? Dass die Aura Buch, auf die man sich doch so gerne beruft, durch Attributionen wie Sexiness Schaden nehmen könnte? Dass Inhalte bei solchen Attributionen normalerweise keine Rolle spielen? Und dass es meist genau diese sind, weshalb Leser zum Buch greifen?

Fazit: Nicht „das Buch“ ist sexy – wie „das Lesen“ per se im Übrigen auch nicht. Es macht allenfalls sexy, weil die Lektüre glücklicher, klüger, begehrenswerter etc.pp. macht.

Und so sich die Branche weiterhin mit dem Sexappeal des Buches beschäftigen mag, dann sei ihr zumindest angeraten, von der eigenen Nabelschau abzusehen. Derzeit angebrachter und zielführender wäre wohl, potenzielle Käufer und Leser danach zu befragen, ob das Buch (noch) sexy ist.

Ich für meinen Teil nehme mir jetzt vor, die Kopernikus-Oberschule gegenüber zu besuchen, um die Schüler und Schülerinnen zu befragen, wie sie das einschätzen, dass ein Buch Sexappeal habe. Allerdings befürchte ich, dass sich nicht Wenige bei der Frage an die Stirne tippen. Gefasst sollte ich möglicherweise auch darauf sein, dass die Eine oder der Andere ein Smartphone mit den Worten zückt: „Das hier ist sexy!

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Für den Bild-Tipp danke ich Petra van Cronenburg, deren Blog ich hier gerne empfehle.

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Versuch II: Warum kratzt man an der Aura Buch nicht? – Vier steile Thesen

Warum lasse ich von meinen Nachdenken über die Aura, die das Buch hat, nicht ab? Weil die Reaktionen auf mein Gespräch mit Kathrin Passig auch nahegelegt haben, dass wir uns schwer damit tun, mit eingewachsenen Denkmustern und idealistischen Vorstellungen zu brechen. Und weil diese Haltung in Zeiten des Umbruchs wenig konstruktiv ist, beschäftige ich mich auch in diesem Beitrag mit dem Buch, das zudem – Hand aufs Herz – eine bedrohte Publikationsform ist. Deshalb lohnt sich das Nachdenken über die Aura des Buches meiner Ansicht nach sogar doppelt. Hätte das Buch nämlich keine so große Bedeutung für uns, dann würden wir uns z.B. auch mit dem Gedanken leichter tun, dass das E-Book das gedruckte Buch womöglich bald ablöst.

Warum also schenken wir „dem“ Buch solche Hochachtung? Einband, Papier oder Aufmachung können es ja nicht sein. Blieben die Worte auf bedruckten Seiten, denen wir Respekt zollen. Doch: Worte und Buchstaben finden sich all‘ überall: Auf Yoghurtbechern, Plakatwänden, Verkehrsschildern, über Grabbeltischen oder auf Speisekarten. Auch diese bedürfen des Buches nicht.

Wenn es weder Worte, noch Papier oder Aufmachung wie hübsche Lesebändchen und glanzvolle Cover sind, die dem Buch Wertschätzung einbringen, was ist es dann? Die Frage leitet zu These I über, die eine Binsenweisheit ist. Wir schätzen nicht das Buch an sich, sondern das, was zwischen seinen Buchdeckeln zu lesen steht. Daraus folgert These II: Das Buch selbst ist lediglich ein Träger, ein Medium für Inhalte, die nicht notwendigerweise einen Deckel brauchen. – Ich gebe zu, die These ist verwegen. Sie macht nämlich nicht nur Diskussionen rund ums Buch obsolet, die von dessen Inhalt abstrahieren. Auch Trauerkundgebungen, die sich auf den Tod des gedruckten Buches, sprich: dem Buch als Publikationsform beziehen, wären mit einem bedingungslosen Bekenntnis zu Inhalten letztlich hinfällig.

Halten wir dennoch an These II fest. Wir verehren nicht das Buch an sich. Vielmehr schätzen wir an Büchern deren Inhalte. Damit stoßen wir auf These III: Egal, ob wir wissen wollen, wie Rosen am besten gedeihen, welche Aktie hoch im Kurs steht, wer anno dato hinter dem Deal an Kaisers Hof stand, wo sich Madame Belleroche jüngst liften ließ, ob wir Zerstreuung, gehobene Kost oder Lektüre suchen, die die grauen Zellen auf Trab bringt – Wert geschätzt wird die geistige Leistung, die in einem Buch steckt. Das heißt: Immer dann, wenn uns ein Buch gefällt, schleicht sich quasi durch die Hintertür die Schöpferkraft eines Wortakrobaten, Geschichtenerzählers, Ratgebers oder Experten ein, der Lesbares mit Nutz- oder Unterhaltungswert zu Papier gebracht hat.

"Goethe's Werke. Erste illustrite Ausgabe, mit erläuternden Einleitungen", Berlin, G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung 1874 - Foto (c) Gesine von PrittwitzDamit wären wir bei These IV angelangt: Der gute Ruf, von dem das Buch lebt, zehrt auch von tradierten Vorstellungen von einer geistigen Elite, die hoch- bzw. höherwertige Kulturgüter schafft. Und auch die Autoren im literarischen Betrieb lassen sich gerne von der Auffassung leiten, eine privilegierte Tätigkeit auszuüben. Neben dem individuellen Bedürfnis, sich auszudrücken und mitzuteilen, und der schwärmerischen Hoffnung auf öffentliche Anerkennung sind es vor allem altehrwürdige Ideale, die den Willen antreiben, ein Buch zu schreiben. Vielfach scheinen diese sogar gewichtiger zu sein als die Sorge um die Existenz. Anders lässt sich wohl kaum erklären, warum so mancher trotz mangelnder Einkünfte und wider besseres Wissen um die realen Bedingungen im Literaturbetrieb dem Buch-Schreiben heute treu bleibt.

Allerdings könnte es nicht schaden, genau das endlich zu hinterfragen: Einerseits die Vorstellungen, die wir von jenen haben, die Bücher schreiben, und das Selbst- und Rollenverständnis der Autoren im literarischen Betrieb andererseits. Hält unser allgemeines Verständnis von Autorenschaft den Realitäten noch stand? Setzen die Protagonisten des Literaturbetriebs nicht vielmehr auf ein Rollenverständnis, das nicht mehr zeitgemäß ist? Und legen die aktuellen Debatten um das Urheberrecht nicht sogar nahe, dass das heutige Selbstverständnis von Autorenschaft obsolet geworden ist?

In diese Richtung zielte Thierry Cherval, der in seinem Perlentaucher-Beitrag am 15. Mai bemängelte, dass sich Autoren nicht im Netz engagieren. Seine Kernthese deckt sich freilich nicht mit mit meinen Erfahrungen im deutschen Literatur-Netzbebetrieb. Seine Beobachtung mag für ein mangelndes netzpolitisches Engagement seitens der Autoren gelten und für betagtere Jahrgänge zutreffen, nicht aber für das Gros der (jüngeren) Autoren, die sich via Facebook, twitter & Co aktiv einbinden und vielfach eigene (Bücher-)Blogs pflegen. Lesenswert in diesem Zusammenhang (und darüberhinaus) ist das Zeit-Interview von Eva C. Schweitzer mit Margret Atwood vom 23. Mai. – Chervals Behauptung freilich, dass das Netz am Selbstbild des Autors kratzt, gießt erfreulich viel Wasser auf meine Mühlen:

Das Problem dieser Autoren mit dem Netz ist weniger, dass es ihre Einnahmen als dass es ihr Selbstbild als Autor in Frage stellt. […]. Als Autor auf dem bewährten Modell bestehen, heißt tatsächlich, sich nicht mit neuen Formen des Schreibens zu beschäftigen. […]. Der Autor als Künder, als isoliert schwebende und schillernde und von unten angestaunte Blase der Originalität […] wird im Netz relativiert: Er ist Teil eines unendlichen Dialogs.

Wohl frage ich an dieser Stelle, ob nicht auch andere Faktoren als nur die neuen Schreib- und Kommunikationsstile (die Ökonomie der Partizipation im Netz) am Selbstbild des Autors kratzen? Weiter als Thierry Cherval gehen Gerald Raunig und Felix Stadler in der Zeit vom 18. Mai, wenn sie in ihrem Beitrag zur Urheberrechts-Debatte auch auf die unzeitgemäße Entgegensetzung von materieller und immaterieller Leistung zu sprechen kommen:

Denn hier sieht sich eine Gruppe in ihrer Freiheit bedroht, einer Freiheit, die in der bürgerlichen Gesellschaft traditionell einer kleinen Zahl »geistig« Arbeitender zugestanden wurde. Diese Freiheit ist in der Tat infrage gestellt, aber nicht durch eine Krise des Urheberrechts oder gar durch eine unübersehbare Masse räuberischer KonsumentInnen, sondern weil das Kognitive, die Produktion von Wissen zur zentralen Ressource des Kapitalismus der Gegenwart geworden ist. […] Die Domäne des Kognitiven ist heute nicht mehr nur die privilegierte Erfahrung eines Häufleins von »Geistigen« – immaterielle, affektive und künstlerische Arbeit rückt vielmehr ins Zentrum der Verwertung und Ausbeutung. Während die Drecksarbeit und ihre Fabriken zunehmend in die Peripherien ausgelagert werden, setzt sich auch in den globalen Metropolen die Prekarisierung von Wissens- und Kulturarbeit durch. In den diffusen Fabriken des Wissens schuften die Kreativen, ihr Intellekt wird zerstreut und zugleich zur Kooperation angeregt. In diesem Setting gerinnen Kreativität und Wissen zur Ware, die wie materielle Waren gefertigt, fabriziert und gehandelt wird.

Tatsächlich leiden Aktionen wie „Wir sind die Urheber“ oder „Mein Kopf gehört mir“ auch daran, dass sie auf Vorstellungen rekurrieren, die wohl ins 19. und 20. Jahrhundert, nicht aber mehr ins 21. Jahrhundert passen. Angesichts der realen Gegebenheiten zeugen Selbstvergewisserungen à la „Mein Kopf gehört mir“ (nomen est omen) eher von Hilflosigkeit denn von Selbstbewusstsein. Mit derart appellativen oder gar moralisierenden Gesten, die ein wenig anrührend wirken, lassen sich technische Entwicklungen und damit einhergehende gesellschaftliche Umwälzungen nicht aufhalten. Vielmehr sollten wir uns viel stärker als bisher bewusst machen, dass Veränderungen nun einmal die ärgerliche Eigenschaft haben, an Denkmustern und Einstellungen zu rütteln, die uns lieb geworden sind. Das wehmütige Beharren auf „das war aber immer so“ nützt uns derzeit etwa genauso viel wie der trotzige Verweis „das ist jetzt aber so“.

Unbestritten ist, dass unsere Vorstellung von Autorenschaft im literarischen Betrieb nicht mehr zur Wirklichkeit passt; und zwar weder zum Medienwandel noch zu den tatsächlichen Bedingungen auf dem Buchmarkt. Fakt ist, dass das digitale Zeitalter einer geistigen Elite angestammte Alleinstellungsmerkmale streitig macht. So sind heute für alle nicht nur die Möglichkeiten zur Teilhabe gegeben, auch die Wege zur Produktion und Distribution sind freier zugänglich. Womöglich wird sich das überkommene (Selbst-)Bild des privilegierten Kulturschaffenden vor diesem Hintergrund absehbar sogar von selbst auflösen? Dass sich à la longue eine neue Elite herausschälen dürfte, das steht auf einem anderen Blatt. – Zu hoffen bleibt jedenfalls, dass sich die Bedingungen für Autoren im literarischen Betrieb dank der neuen Gegebenheiten verbessern und nicht noch weiter verschlechtern.

Wieso kratzt man an der Aura Buch nicht?

Zu meinem Gespräch mit Kathrin Passig auf der #rp12. Oder: „Irgendwie weiß und ahnt man das ja, aber …“

Da unterhalte ich mich mit Kathrin Passig auf der re:publika 12 über meine Erfahrungen in der Buchbranche und Kathrin macht sich die Mühe, unseren Plausch bei Kaffee und Kartoffelsalat zu transkribieren. Zu meiner Freude stieß der Text, der am 7. Mai im Netz veröffentlicht wurde, auf ein großes Echo. Dass das Gespräch allerdings solches Erstaunen, zum Teil sogar Betroffenheit auslösen sollte, damit habe ich nicht gerechnet. Nein, das hat mich doch sehr verblüfft! – Hier einige Stimmen:

„Wollte man das alles so genau wissen? – Ist ja deprimierend.“ Andreas Eschbach via google+

„Vieles ahnte man ja schon, aber kaum jemand traute sich bisher.“ PicaPGK via twitter

„Leider ist die Realität so wie man sie vermutet hat.“ Stefan Möller via Facebook

„Danke für das Interview, das doch einigen Leuten ihre Illusionen rauben dürfte.“ Fredrika Gers via google+

Nachdem sich die emotionalen Wogen wieder geglättet hatten, begann ich mich zu fragen, wieso überraschte das Gespräch eigentlich so? Schließlich habe ich über Sachverhalte geredet, die kein Geheimnis sind. Jeder weiß, dass Medien von Anzeigen leben, dass Bücher in der Sicht derer, die damit Geschäfte machen, Waren sind. Dass auch in der Buchbranche das Prinzip der Gewinnmaximierung gilt und dass es hier vielfach um Masse und nicht um Klasse geht. Warum sind so viele Leser nach der Lektüre konsterniert? Warum hat das Gespräch Illusionen zerstört?

„Irgendwie beunruhigt mich, dass es sich beim Buchmarkt genauso verhält, wie in anderen Branchen auch: Quantität statt Qualität und Schein ist alles, Sein ist nix.“ Kekewa via Deutsches Schriftsteller-Forum

„Irgendwie weiß und ahnt man das ja, aber wenn es so deutlich ausgesprochen wird, hinterlässt es ein großes Unbehagen.“ Claudia Kilian via google+

„Für die Leidgeprüften unter uns AutorInnen war’s nichts neues, aber neu, dass das mal jemand in solcher Klarheit und so geballt öffentlich ausspricht. Viele sprechen aus Angst eben nicht darüber.“ Petra van Cronenburg via Facebook

Ich sagte mir: So es tatsächlich Courage dazu brauchen sollte, Sachverhalte beim Namen zu nennen, dann ist die Buchbranche eine Art Heilige Kuh. Und nun überlege ich mir (und dieser Text ist ein erster Schritt dabei), warum wir ihr solchen Respekt zollen, solch‘ große Hochachtung entgegen bringen? Dass wir Unbehagen empfinden, wenn an ihrer Aura gerüttelt wird?

Eine Ursache, auf die ich in meiner Unterhaltung mit Kathrin auch zu sprechen kam, liegt m.E. in unserem Verhältnis zum Buch. Der Liebe zum Buch, die so gerne postuliert wird. – Fakt ist, dass sich das Buch (in unseren Köpfen und in der öffentlichen Wahrnehmung) von allen anderen Konsum- und Unterhaltungsgütern abhebt. Es schwebt quasi darüber. Wer das Buch z.B. mit Autoreifen vergleicht, vergreift sich zugleich an bildungsbürgerlichen Werten, die fest in den Hirnen und Herzen verankert sind. Das Buch ist ein hehres Kulturgut, das als solches bewahrt sein will. Basta. Entsprechend sind Menschen, die an und mit dem Buch arbeiten, Geistesschaffende, Kulturträger; Kulturschaffende sagte man in der ehemaligen DDR dazu.

Genau diese Vorstellung, die eine lange Tradition hat, macht es uns auch so schwer, das Buch als Ware zu denken, die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Die Haltung erklärt auch, warum die Buchbranche große Anziehungskraft ausübt. Der Nimbus – man arbeitet für ein hohes Kulturgut – tröstet über schmales Salär und schlechte Arbeitsbedingungen hinweg. Abgesehen von den Spitzenverdienern gilt das für alle Protagonisten der Branche.

Von den Vorschusslorbeeren für das Buch, der Buch-Aura, zehrt die Buchbranche nicht nur – sie setzt sogar darauf! Wo immer Antworten gefragt sind – sei es bei der Buchpreisbindung, bei der aktuellen Debatte um das Urheberrecht etcpp. – taucht auch das Argument auf, dass das Buch etwas Besonderes sei, ein Wertstück, das unter besonderem Schutz stünde. Die Werbemittel der Verlage spielen damit und die Kampagnen des Börsenvereins für das Buch bauen darauf. Nimmt man sich die Interviews, Stellungnahmen oder Kommentare aus der Buchbranche unter dieser Perspektiv einmal vor, dann staunt man nicht schlecht: Wie oft hält das Buch mit seinem guten Namen für verbandspolitische Interessen her!

Zur Illustration mag hier ein Beispiel vom 9. Mai auf buchreport.de mit der Überschrift „Das Buch hat Sexyness verloren“ dienen, worin Lorenz Borsche vom Buchhändlerverbund eBuch zu den Herausforderungen der Zeit Stellung bezieht: „Dazu passt der Eindruck, dass das Buch in jüngster Zeit an Sexyness verloren hat. Dazu haben auch die Verlage ihren Teil beigetragen. […]. Jede Branche erzieht sich ihre Kunden. Eine große Zahl von Verlegern hat es geschafft, ein Buch, das viele Menschen lange als Wertstück begriffen haben, durch die 99er-Preisendung zu aldisieren. Der Marketingeffekt ist, dass der Kunde jetzt billig und Sonderangebot assoziiert. Das gerade bei potenziellen Buchkäufern vorhandene Gefühl, ich leiste mir etwas, ist durch diese Preisdämlichkeit beim Buch verloren gegangen. Es hatte schon seinen Grund, warum Bücher lange 8,80 oder 17,80 Euro gekostet haben.“

Auffällig finde ich, dass in solchen Kommentaren oder Stellungnahmen das Buch keinen Inhalt, kein Thema, keine Aussage hat. Auch Aufmachung und Anmutung spielen keine Rolle. Es ist ein Hohlkörper, ein Träger für Botschaften. Man braucht und bedient lediglich die Aura, die „das“ Buch (offensichtlich gottgegeben) hat. Dass sich die Geschäfte mit dem Buch schon lange von den Idealen losgelöst haben, blendet man aus. Und wer sich an der Aura vergreift, der ist …

Unsere Leidenschaft gilt den Büchern. Sie bewegen Menschen, sie helfen Menschen, sie bringen Menschen weiter. Bücher sind für uns zuerst Kulturgut, dann Konsumgut. Was auch immer geschieht, wie auch immer sich unsere Welt verändert, unsere Kunden, unsere Mitarbeiter, unsere Autoren sollen wissen: Wir glauben an Bücher.

 Das Zitat stammt von Jacob Anton Mayer (1782 – 1857). Es zierte im Mai 2012 das Schaufenster der Mayerschen Buchhandlung in Siegen. Zum zweiten Teil meines Nachdenkens über die Aura Buch geht es hier