Im Zusammenhang mit einer Neuerscheinung habe ich mich mit Gewaltopfern, insbesondere den Folgen von Gewalt für Kinder beschäftigt. Bei den Recherchen kam mir verschiedentlich der Gedanke, auf vermintem Gelände unterwegs zu sein, an Tabus zu rühren. Offenbar markiert der jüngste Eklat beim Versuch, den Missbrauchsskandal im bayerischen Kloster Ettal aufzuklären, lediglich die Spitze eines Eisberges. Viele Fakten und Daten, die ich zu Tage förderte, waren mir so nicht bekannt.
Groß war insbesondere mein Erstaunen, dass der Anspruch auf eine gewaltfreie Erziehung in der Bundesrepublik eine relativ junge Errungenschaft ist. So galt hier das Recht des Lehrherrn, Lehrlinge züchtigen zu dürfen, bis 1951. „Man bringt ein Kind schon in den ersten zwei Jahren zum Verbotsgehorsam. Falsch ist es, den Verbotsgehorsam erreichen zu wollen durch Zureden, durch Erklärungen oder durch zartes Weggleiten der Hand von der beabsichtigten Tat. Der schmerzende Schlag aber bleibt ihm in Erinnerung. Man könnte gewiss mit einer Nadel oder einem elektrischen ‘Erziehungsstab’ den Schmerz verursachen und die Rute war ja auch ein solches Erziehungsinstrument. Die Mutter gebe die Schläge lieber nicht, denn sie schlägt gewöhnlich nicht kräftig genug.“ Die Empfehlung stammt nicht, wie man meinen könnte, aus einem Erziehungsbuch aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, sondern aus dem Ratgeber „Über den Umgang mit Kindern“, der 1952 erschienen ist.
Als das Gleichberechtigungsgesetz für Frauen 1958 in Kraft trat, erhielten auch die Mütter das Züchtigungsrecht. Noch in den späten 1960er Jahren meinten 85 Prozent aller westdeutschen Eltern, dass die Prügelstrafe eine angemessene Erziehungsmethode sei. Schulische Körperstrafen wurden in der BRD umfassend erst 1973 verboten. Zwar wurden 1980 im Bürgerlichen Gesetzbuch die „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Sorge“ ersetzt und „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen“ verboten, aber Politik und Gerichte billigten den Eltern weiterhin eine „angemessene körperliche Züchtigung“ aufgrund „herrschender sittlicher Auffassung“ zu. Vor allem CDU und CSU hatten sich gegen entsprechende Initiativen der SPD, des Deutschen Juristinnenbundes und der Grünen lange gesperrt und gewehrt. Der Gesetzgeber habe „bewusst darauf verzichtet, einen bestimmten Erziehungsstil verbindlich vorzuschreiben“, beharrte der parlamentarische Staatssekretär de With am 19. März 1982 in der Antwort der Regierung auf eine Anfrage der Opposition zum „Verbot der Gewalt gegen Kinder“. Dies ging so weit, dass noch 1986 der Bundesgerichtshof das Schlagen eines Kindes mit einem Wasserschlauch nicht als entwürdigende Erziehung bezeichnete.
1992 ratifizierte die Bundesrepublik die UN-Kinderrechtskonvention, womit der Druck wuchs, Kinder besser vor Gewalt zu schützen. „Körperliche und seelische Misshandlungen“ erklärte das Bürgerliche Gesetzbuch allerdings erst 1998 für unzulässig. Und erst zwei Jahre später, nämlich im November 2000, wurde das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. In der Neufassung des Paragrafen 1631 Absatz 2 Gesetzbuch heißt es: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Vorausgegangen war ein jahrzehnter währender Streit. Und das neue Kinderschutzgesetz, das erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gesetzliche Grundlagen dafür geschaffen hat, Kinder besser vor Vernachlässigung, Misshandlungen und sexueller Gewalt zu schützen, wurde im Januar vergangenen Jahres verabschiedet. Im Januar 2012! Abermals nach Jahren langem Ringens und wiederum gegen erhebliche Widerstände.
Unzählige Studien über die Verbreitung von verschiedenen Formen von Gewalt gegen Kinder belegen, dass weltweit Kinder, die keine Gewalt durch ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten erleben, nicht die Regel, sondern die Ausnahme sind. Aktenkundige Fälle wie Kevin aus Bremen, Lea-Sophie aus Schwerin oder die neun Monate alte Jasmin aus Speyer sind keine Einzelfälle. Jährlich werden in Deutschland rund 150.000 Kinder unter 15 Jahren gezüchtigt. UNICEF geht davon aus, dass wöchentlich je zwei Kinder an den Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung sterben. Rund 30.000 Kinder eines Jahrgangs wachsen in Hochrisikofamilien auf. Täglich 50 misshandelte oder missbrauchte Kinder, das ist die erschreckende Bilanz einer Statistik des Bundeskriminalamtes, die im Mai 2012 veröffentlicht wurde. – Und die Dunkelziffer liegt viel höher.
„Die Geschichte der Kindheit ist ein Albtraum – aus dem wir gerade erwachen“, so der Forscher zur Geschichte der Kindheit Lloyd de Mause. Zwar propagieren laut Deutschem Kinderschutzbund heute 90 Prozent der Eltern eine gewaltfreie Erziehung, schlagen tun sie ihre Kinder dennoch – wenn auch inzwischen mit schlechtem Gewissen. In der Forsa-Umfrage der Zeitschrift „Eltern“, die im März 2012 vorgestellt wurde, gaben 40 Prozent der Befragten an, ihren Kindern einen „Klaps auf den Po“ zu verpassen. Zehn Prozent der Eltern verteilen Ohrfeigen. Zu harten Körperstrafen wie „Hinternversohlen“ greifen vier Prozent. Immerhin scheinen Stockhiebe endgültig der Vergangenheit anzugehören. 100 Prozent sagten in der Umfrage dazu „niemals“.
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Aus diesem Beitrag entwickelten sich Gespräche mit ACR. Wir unterhalten uns über ihre Erfahrungen als schwer misshandeltes Kind und Jugendliche, über die Folgen und wie wichtig es ist, dass Anständige erfahren, dass es so etwas gibt …