„Laut meinem alten Zeugnis hatten wir Staatsbürgerkunde und Literaturpropaganda“. Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Maritta Tanzer, Heike Wenige, Holger Brandstädt und Simone Zopf einiges haben wissen lassen, teilt nun Kerstin Hänsel (geb. 1961) ihre Erinnerungen. Zwischen 1978 und 1980 hat sie die Buchhändler-Lehranstalt in Leipzig besucht, die damals unter dem Namen „Betriebsberufsschule des Volksbuchhandels der DDR“ firmierte. Ihre praktische Ausbildung machte sie in der Volksbuchhandlung „Gutenberg“ in Zwickau, dann war sie im sächsischen Glauchau bei „Buch und Kunst“ tätig.

Was hat Sie bewogen, Buchhändlerin zu werden?

Ausschlaggebend war die Liebe zum Buch, ich habe sehr viel gelesen und als junges Mädchen haben mich auch die Großstadt Leipzig und das Internatsleben, weg von den Eltern, gereizt.

Selbstverständlich war das damals nicht, dass man seinen Wunschberuf erlernen konnte …

Kann ich nicht bestätigen. Ich wollte diesen Beruf und bin sofort genommen worden.

War Ihnen bewusst, dass dem Buchhandel eine erzieherische Funktion zugedacht war und er dementsprechend auch in der Pflicht stand, politisch genehme „Schwerpunkttitel“ zu vertreiben?

Nein, das war mir nicht bewusst. Ich hatte vor allem mit Kinderbüchern und unpolitischen Klassikern zu tun. Nie fühlte ich mich unter Verkaufsdruck und meine Schaufensterwettbewerbe konnte ich auch selbstständig und kreativ durchführen. Gestaltet wurden die Fenster mit – natürlich – sozialistischen Autoren.

Wie würden Sie Ihre Ausbildung an der Buchhandelsschule in Leipzig im Rückblick bewerten?

Jahrgang an der Buchhänderschule © Kerstin Hänsel

Ausgesprochen positiv. Es wurde Fachwissen von Shakespeare über das Verlagswesen bis zur Buchbinderei vermittelt. Das Internatsleben war streng, aber auf gar keinen Fall ideologisch geprägt.

Worauf wurde in Leipzig besonders großen Wert gelegt?

In welcher Position im Buchhandel jeder Einzelne eingesetzt werden kann, nach seinem Interesse und Wissen. Ich war die geborene Verkäuferin und kam deshalb ins Sortiment. Beim Besuch der Verlage, unter anderen Volk und Welt, oder in der Buchdruckerei wusste ich sofort, das ist nicht mein Ding. Ich wollte immer Kontakt mit Menschen.

Welchen Anteil hatte die Staatsbürgerkunde im Rahmen Ihrer Ausbildung?

Maximal 10 Prozent. Ist an mir vorbei gegangen, ich kann mich kaum noch an solche Unterrichtsstunden erinnern. Aber laut meinem alten Zeugnis hatten wir Staatsbürgerkunde und Literaturpropaganda.

Was war während Ihrer Lehrzeit Pflichtlektüre?

Dieter Noll „Abenteuer des Werner Holt“, Fallada „Wolf unter Wölfen“, Scholochow „Der stille Don“, Theodor Storm „Der Schimmelreiter“ Johann Wolfgang Goethe „Die Leiden des jungen Werther“, Bruno Apitz „Nackt unter Wölfen“, Anna Seghers „Das siebte Kreuz“. An andere erinnere ich mich nicht mehr.

Spielten die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ und das „Statut für den Volksbuchhändler“ noch eine Rolle?

Nein.

Gab es etwas, woran Sie an der Buchhandelsschule Anstoß genommen haben?

Nein, nur die sehr strenge Internatshausordnung.

Ihre praktische Ausbildung haben Sie bei der „Volksbuchhandlung Gutenberg“ in Zwickau gemacht. War das Ihr Wunschbetrieb?

Es war mein Wunschbetrieb, da ich damals ja auch in Zwickau gewohnt habe. Nach der Ausbildung musste ich bei „Buch und Kunst“ in Glauchau arbeiten und dorthin umziehen. Habe eine Nacht in Buchhandlung geschlafen, um eine Wohnung in Glauchau zu bekommen.

Der Kabarettist Bernd-Lutz Lange war zwischen 1963 und 1965 als buchhändlerische Hilfskraft in der Zwickauer „Volksbuchhandlung Gutenberg“ beschäftigt. In seinem Buch „Das gabs früher nicht. Ein Auslaufmodell zieht Bilanz“ berichtet er, dass es zu seinen Aufgaben gehörte, jene Bücher in den Schaufenster auszulegen, die im Laden wie Blei lagen. War das zu Ihren Zeiten auch noch so? Und sagt Ihnen der Begriff „Gebrauchswerber“ noch etwas?

Gebrauchswerber kamen alle Vierteljahre in die Buchhandlung und waren ausnahmslos für die Schaufenstergestaltung zuständig. Wir Buchhändler mussten die Vorarbeit leisten und schwerverkäufliche Titel heraussuchen. Die kamen dann in die Auslage. Für mich ein Grund, mehrfach an Schaufensterwettbewerben teilgenommen zu haben. Ich wollte meine eigenen Ideen verwirklichen.

Für welche Bereiche waren Sie dann bei „Buch und Kunst“ zuständig?

Vorwiegend im Sortiment und im Bestellwesen beziehungsweise der Warenannahme, wenn Paletten vom LKG (Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel) geliefert wurden.

Wichtig war die Planerfüllung im Volksbuchhandel. Aber auch der Umsatz von Parteiliteratur und Importbuch musste stimmen. Wie wurde in Ihrem Betrieb verfahren, wenn absehbar war, dass der Plan nicht erfüllt werden konnte?

Habe ich bewusst nicht wahrgenommen. Schon gar nicht als Lehrling, der an Besprechungen nicht teilnehmen musste.

Stichwort Bückware. Gingen in Ihrem Betrieb auch Bücher unter der Ladentheke weg? Erinnern Sie sich noch daran, was besonders gefragt war?

Ich würde sagen, dass gut 40 Prozent unter der Ladentheke verkauft wurden. Besonders Globen, Märchenbücher, Bücher von Christa Wolf und Titel aus dem zentralen tschechischen Exportverlag Artia, damals in Prag ansässig.

Was lagerte wie Blei?

Sowjetische Propaganda und Parteitagsbeschlüsse.

Wie lief das mit den Vorbestellungen?

Man hatte mehrere Holzkisten mit Karteikarten und sobald eine Lieferung kam, wurde ausgewählt. Ein Großteil ging an Verwandte, Bekannte, Doktoren, dann erst bekam Otto Normalkunde eine Postkarte, das er sein Buch abholen könne.

Was war bei „Buch und Kunst“ im sächsischen Glauchau anders als in der Gutenberg-Buchhandlung in Zwickau?

Vom Arbeitsstil gab es keine Unterschiede. Aber in der Kleinstadt da waren die Schiebereien noch viel ausgeprägter. Selbst ich hatte Mühe, mal ein von mir gewünschtes Buch zu kommen. Dort herrschte die Buchhandlungsleiterin und die hatte Haare auf den Zähnen. Zum 1. Mai mussten wir zum Demonstrieren nach Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Am Rosenhof wurde dann im Block des Volksbuchhandels losmarschiert.

Mauerfall im November 1989, Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im Juni 1990, deutsche Einheit am 3. Oktober 1990. Wie haben Sie diese turbulenten Monate erlebt?

Ich war damals mit einem Volkspolizisten verheiratet, der als Abschnittsbevollmächtigter tätig war. Wie er mit der Wende umgegangen ist, habe ich nicht verkraftet. 1990 habe ich mich sofort selbstständig gemacht und ein Antiquitätengeschäft eröffnet. Der Neubeginn, ob privat oder beruflich, war einfach phantastisch. Ich habe die neue Zeit genossen und ausgelebt.

Welche Hoffnungen hatten Sie für Ihr Land? Welches waren Ihre größten Sorgen?

Bis zuletzt dachte ich, die DDR würde als Staat mit demokratischer Führung und Reisefreiheit weiterexistieren. Aber als das „Volk“ dann nur noch nach der DM schrie, war mir klar, dass es vorbei sei mit der DDR als selbstständiges Land. Im Nachhinein erschreckend ist für mich die Vorgehensweise der Treuhandanstalt. Ich glaube, da ist viel Unrecht geschehen.

Welche Standards, die der volkseigene Buchhandel gesetzt hat, würden Ihres Erachtens dem Buchhandel heute gut tun?

Auf jeden Fall die persönliche Beratung. Die fehlt mir in jeder Buchhandlung. Die schauen nur in Ihren Computer, wo ein Buch steht. Eine inhaltliche Beratung fehlt komplett. Ich habe während meiner buchhändlerischen Tätigkeit immer in nahezu jedes Buch zumindest hineingeschnuppert und konnte konkrete Angaben über Inhalte machen. Man könnte auch öfter wieder Buchbesprechungen durchführen und die Menschen so an neue Bücher und Nachwuchsautoren heranführen.

Existieren die beiden Buchhandlungen noch, in denen Sie gearbeitet haben?

Nein, beide wurden in 1990er Jahren geschlossen.

Liebe Frau Hänsel, herzlichen Dank für Ihren Rückblick.

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Mein Dank gilt allen, mit denen ich mich bislang habe austauschen dürfen. Ich würde mich freuen, wenn sich weitere Zeitzeugen einfänden und ihre Erfahrungen einbringen.

„Es war wie Twitter ohne Internet.“ Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Maritta Tanzer, Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Simone Zopf ihre Erinnerungen. Sie kam 1981 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und blieb dem Beruf über 30 Jahre treu. – Zum vorangegangenen Gespräch geht es hier.

Mauerfall im November 1989, Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im Juni 1990, deutsche Einheit am 3. Oktober 1990. Wie hast du diese turbulenten Monate erlebt?

Simone Zopf © privat

Simone Zopf © privat

Die Ereignisse überschlugen sich. Jeder Tag war Veränderung. Und der Roman ging weiter… Ohne Internet und Telefon erfuhren wir viele Ereignisse und Dinge beim täglichen Busfahren, in der Stadt, im Antiquariat. Es war wie Twitter ohne Internet. Alles musste neu entschieden werden. Krankenkasse, Versicherung, Mietverträge, Geld, Fahrkarten, Postleitzahlen, Schulformen, Arbeitsverhältnisse, Wohnorte … Die Entscheidungen mussten in dieser Zeit sehr rasch gefällt werden, da es insgesamt so viel zu tun gab. Die Umstände bestimmten das Tempo dieser Zeit. Alle waren damit beschäftigt, das sich verändernde Leben zu organisieren.

Der „ Tag der Deutschen Einheit“ am 3. Oktober 1990 war für mich persönlich ganz besonders feierlich. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hatte uns Kollegen und Kolleginnen zu einem Empfang auf der Frankfurter Buchmesse eingeladen. An diesem Tag bin ich Bundesbürgerin und bundesdeutsche Buchhändlerin zugleich geworden. Das war eine sehr schöne Geste vom Börsenverein. Danke!

Welche Hoffnungen hattest du für dein Land? Welches waren deine größten Sorgen?

Die Hoffnung war, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, was zu mir passt. Diese Hoffnung war größer als alle Sorgen.

Gibt es etwas, was du aus der DDR gerne in die BRD „rübergerettet“ hättest?

Über diese Frage habe ich lange und intensiv nachgedacht. Und die Antwort ist: nichts.

Im März 1990 wurde die Treuhandanstalt gegründet, deren Aufgabe es war, die volkseigenen Betriebe zu privatisieren. Im Zuge dessen wurde der Volksbuchhandel abgewickelt, die Buchbetriebe in den damals noch existierenden 15 Bezirken in Gesellschaften umgewandelt. Für euch war damals die „Thüringer Buchhandelsgesellschaft“ mit Sitz in Erfurt zuständig. Wie hast du die erste Phase der Privatisierung in deinem Betrieb erlebt?

Die Leiter der Buchhandlungen und Antiquariate konnten sich bei der Treuhand um den Kauf der Läden bewerben und haben diese in der Regel auch bekommen. Auch das Antiquariat Erfurt wurde so privatisiert. Wir haben weiterhin sehr gut zusammengearbeitet und von Tag zu Tag gemeinschaftlich das laufende Geschäft entschieden. Aus dem Bauch heraus. Wir hatten keine Ahnung. Und haben es trotzdem gemacht. Schließlich blieb uns ja nichts anders übrig.

Wie hast du auf die Entscheidung deiner damaligen Chefin reagiert, das Antiquariat 1991 in die Eigenständigkeit zu führen?

Das war grundsätzlich die richtige Entscheidung. Einige Investoren bzw. Investoren-Darsteller standen ja auch schon bereit … Uns wurde allerdings auch schnell klar, dass der Laden mit fünf Mitarbeitern so nicht zu halten war. Drei Kollegen, darunter auch ich, suchten und fanden neue Jobs in Erfurt. Das war ganz entspannt und freundschaftlich. Wir sind noch heute alle befreundet.

Nach der Wende war der Hunger nach Lesestoff groß, der zu DDR-Zeiten verboten oder nur schwer zugänglich war. Die Geschäfte im Buchhandel florierten. Kannst du dich erinnern, was damals bei euch besonders stark nachgefragt wurde?

Alles, außer DDR-Literatur. Trotz der Unsicherheit der Zeit wurde noch viel Geld für Bücher ausgegeben. Einerseits haben wir im Antiquariat verstärkt Grafik verkauft und 1991 einen Laden speziell dafür (selbst) umgebaut. In diesen Jahren waren viele kaufkräftige und kaufwillige (West)-Deutsche in Thüringen unterwegs. Andererseits war zu bemerken, dass sich die Menschen der ehemaligen DDR von den in vielen Jahren gesammelten Schätzchen trennen mussten, um Startkapital für das neue private oder berufliche Leben zu haben.

Die Umstellung auf neue Wirtschafts- und Sozialstrukturen war sicherlich kein Zuckerschlecken. Was bereitete dir besonderes Kopfzerbrechen?

Ich musste und wollte mich neu orientieren. Die Wende habe ich als Chance verstanden und tue dies noch heute.

Hilfestellungen für Sortimenter kamen vom Börsenverein, den Barsortimenten und Verlagsauslieferungen. Konntest du davon profitieren? Wie waren deine Erfahrungen?

Für Dezember 1990 hatte ich mir in der Bibliothek in Aachen ein Praktikum organisiert, um zu sehen, ob mir die Arbeit in der Bibliothek gefallen könnte. Das war nicht der Fall. Als ich 1991 noch im Antiquariat arbeitete, hatte ich die Gelegenheit, an einem „Schnellkurs Westdeutscher Buchhandel“ teilzunehmen, den die Verlagsauslieferung KNO organisiert hat. Danke KNV! Danke Herr Voerster! Blieben mir noch die vielen guten Lehrbücher des westdeutschen Buchhandels, die jetzt auch für uns verfügbar waren. Daraus habe ich in kurzer Zeit sehr viel gelernt.

1992 wechseltest du zur Buchhandlung Peterknecht; ein traditionsreiches Haus, 1805 gegründet, seit 1935 im Besitz der Familie Peterknecht …

Das war eine sehr gute Zeit, da es endlich darum ging, Buchhändler zu sein und nicht mehr nur Buchverwalter. 1992 hatten sich die Verhältnisse und Strukturen schon etwas gefestigt in diesem neuen Land. Und doch fühlte sich noch alles neu an, vieles war möglich und noch so manches in Bewegung. Es waren schöne, spannende und aufregende Zeiten mit viel Gestaltungspotential.

Welche Standards, die der volkseigene Buchhandel gesetzt hat, würden deines Erachtens dem Buchhandel heute gut tun?

Hier bleibt mir als einzig Gutes: die fachlich-theoretische Ausbildung. Alle anderen Standards waren politische Korsetts, Nichtbuchhändlersein, Nichtservice, Mangelverwaltung, BWL-Vodoo. Zum Glück ist das überwunden und wer wünscht sich die DDR-Buchhandelszeiten zurück? – Ich auf keinen Fall.

Würdest du vom Literaturbetrieb, so wie du ihn in der DDR kennengelernt hast, etwas auf den hiesigen Betrieb übertragen wollen?

Ich könnte jetzt ganz einfach sagen: In der DDR gab es nicht so viele Bücher und das war gut so, weil das einzelne Buch noch mehr wertgeschätzt wurde. Erwuchs die Besonderheit des Buches aber nicht aus dem Fehlen und Mangel? Ich denke schon. Deshalb: Nein! Lieber ein paar Bücher zu viel, als nur eins zu wenig.

Warum hast du nach 30 Jahren dem Beruf des Buchhändlers den Rücken gekehrt?

Zeiten ändern sich. Ich habe als Buchhändlerin in 30 Jahren viel erlebt, gesehen und gearbeitet. Zeit weiterzugehen. Und Buchhändlerin bleibe ich in meinem Herzen immer.

Simone, herzlichen Dank. Wir bleiben im Gespräch!

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Nach dem Abschluss der Polytechnischen Oberschule (POS) absolvierte Simone Zopf (geb. 1965) zwischen 1981 und 1983 ihre buchhändlerische Lehre in Halle/Saale bei „Das Gute Buch“, der größten Volksbuchhandelsfiliale im Bezirk Halle. Nach der Übernahme durch ihren Ausbildungsbetrieb war sie dort für die Sortimente Fachbuch und Gesellschaftswissenschaften zuständig. Umzug nach Erfurt, wo sie ab 1988 im „Antiquariat des Volksbuchhandels“ tätig war. Die Leiterin des Antiquariats, das damals fünf Mitarbeiter hatte, wagte nach der Wende den Schritt in die Selbstständigkeit.

1992 kam Simone Zopf zu „Peterknecht“. Dort war sie 20 Jahre lang beschäftigt; zunächst für das Fachbuch verantwortlich, in späteren Jahren dann für Belletristik und als 1. Sortimenterin. Im Sommer 2012 holte ein junger Berufskollege die erfahrene Buchhändlerin in seine Buchhandlung „Die Eule“ nach Weimar. Nach 30 Berufsjahren brauchte Simone Zopf dann frischen Wind; nach ersten Erfahrungen als Verlagsvertreterin in 2015 möchte sie zukünftig hier anknüpfen.

Zum ersten Teil des Gespräches geht es hier

„Entweder es gab das Buch – oder eben nicht.“ – Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Maritta Tanzer, Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Simone Zopf ihre Erinnerungen. Sie kam 1981 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und blieb dem Beruf über 30 Jahre treu. – Zum ersten Teil unseres Gesprächs geht es hier.

Nach der Lehrzeit wurdest du von „Das Gute Buch“ in Halle übernommen. War das dein Wunschbetrieb?

Nein. Am allerliebsten hätte ich schon damals im Antiquariat gearbeitet. Das Antiquariat Halle, unter der Leitung des sehr geschätzten Kollegen Herrn Wolff, war eine (gefühlte) Insel inmitten des real existierenden sozialistischen Buchhandels. Die alten Bücher und der schöne, alte Laden versprachen große Freiheit.

Als junge Buchhändlerin warst du für die Sortimente Fachbuch und Gesellschaftswissenschaften, und damit auch für die Parteiliteratur, zuständig. Waren solche Titel in den späten 1980er überhaupt noch gängig?

Simone Zopf © privat

Simone Zopf © privat

Was heißt gängig? Die waren einfach da. Die Parteiliteratur war für alle verpflichtend, die in der Partei oder parteinah waren. Sie wurde für das sogenannte Parteilehrjahr gebraucht. Auch Studenten mussten für diese Bücher ihr Geld ausgeben. Zum Beispiel: „ Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den X. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berichterstatter Erich Honecker“. Davon wurden tausende Exemplare verkauft. Aber auch gelesen??

Manches in diesem Segment haben wir unter uns auch umgedichtet. Aus Friedrich Engels „ Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ wurde „Der Affe auf dem Weg zur Arbeit“. Erich Honecker Biografie „ Mein Leben“ hieß unter Buchhändlern auch schon mal „ Aus dem Leben eines Taugenichts“. – So ganz ernst genommen haben wir das alles nicht.

Obschon es immer schwieriger wurde, ideologische Traktate an den Mann und die Frau zu bringen, war Planerfüllung wichtig. Wie seid Ihr verfahren, wenn absehbar war, dass der Umsatz von Parteiliteratur nicht stimmte?

Nichts. Wie auch? Aktiv verkaufen war nicht. Vielleicht im Kundengespräch: „Ach übrigens gibt es jetzt so ´ne neue Broschüre zum Parteitag, tolles Vorwort und gute Argumente“. Nee, das hat niemand gemacht und niemand gewollt. Am Ende war es ja auch egal, ob der Umsatz gestimmt hat, oder nicht. Ging ja trotzdem weiter. Naja, zumindest bis 1989.

Welche Titel waren während deiner Zeit besonders schwer zu beschaffen und welche lagerten wie Blei?

Interessante Fragestellung. Weil: „schwer zu beschaffen“ impliziert ja, dass es möglich war, Titel zu besorgen. Abgesehen von einigen Fachbüchern war aber nichts zu beschaffen. Entweder es gab das Buch – oder eben nicht. Das, was es gab, wollte keiner und das, was die Kunden wirklich wollten, gab es nicht.

Bückware. Gingen in eurem Betrieb auch Bücher unter der Ladentheke weg? Erinnerst du dich noch daran, was besonders begehrt war?

Wo soll ich anfangen, wo aufhören? Immer Mangelware: Autoatlanten (es gab nur zwei: einen großen, einen kleinen), Gartenbücher, Bildbände (Edition Leipzig, Seemann), Belletristik westdeutscher Autoren, kritische ostdeutsche Autoren, Bilderbücher, Lexika, Wörterbücher, Reiseliteratur etc. etc. Es gab in der Buchhandlung einen sogenannten „Giftschrank“, in dem Exemplare der besonderen Art, weil selten und somit tauschbare (!) lagerten. Über diese verfügten die Abteilungsleiter/Buchhandelsleiter.

Wie haben die Kunden reagiert, wenn Wunschlektüre partout nicht lieferbar war?

Fatalistisch. Die Kunden kannten es nicht anders. Bitter, aber wahr. Dafür war die Freude umso größer und wirklich echt, wenn sie dann tatsächlich einmal ein Buch in die Hände bekamen, das sie schon so lange haben wollten. Dafür haben wir Buchhändler auch schon mal gesorgt. Viele Kunden kamen täglich, um nach dem gewünschten Buch nachzufragen. Oft gab es eben nur 1 – 3 Exemplare für die Buchhandlung. Und so war das Buch eben „durch“, d.h. vergriffen, wenn der Kunde dann am nächsten Tag kam. Da wir unsere Kunden gut kannten, haben wir bisweilen (unerlaubt) das Buch auf einen fiktiven Namen ins Abholfach gestellt und es dem Kunden dann gegeben. – Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erscheint mir dieses Leben und dieses Arbeiten kaum mehr vorstellbar.

Wie lief das mit den Vorbestellungen?

Im „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ gab es die Beilage „Vorankündigungsdienst für den Buchhandel“ (VD). Dieser enthielt die Anzeigen der Erst- und Nachauflagen sechs Wochen vor dem Erscheinungstermin der Titel. Das war praktisch das einzige Arbeitsmittel für Titelneuankündigungen und auch die einzige Informationsquelle für die Kunden. Wir haben ca. 20 Titel ausgewählt und an ein Brett gehangen.

Diese Titel konnten die Kunden dann tatsächlich bestellen. Bestellen hieß hier allerdings auch noch nicht bekommen. Bei reinen Fachbüchern war es vergleichsweise einfacher mit der Bestellung, hier war auch mal eine Nachbestellung möglich.

Zu den wirklich begehrten Büchern wie Autoatlanten, Garten- oder Eisenbahnbüchern gab es, wenn sie denn im VD angezeigt wurden, manchmal eine Vormerkerliste. Das funktionierte dann beispielsweise so: auf die Liste konnten ca. 30 bis 50 Kunden eingetragen werden. Das war noch keine Bestellung mit Anspruch auf Erhalt. Die Kunden wussten das, waren aber froh, schon einmal auf einer Liste zu stehen. Die Buchhandlung konnte die Titel nach Anzeige im VD bei LKG ordern. Die Bestellzahlen allerdings waren utopisch. Es wurden 1000 Exemplare bestellt. Davon wurden vielleicht 60 in die Buchhandlung geliefert. Von diesen kamen 10 in den „Giftschrank“, 20 waren für Kollegen, ebenso viele für die die ersten 20 Kunden auf der Liste und der Rest war für den Freiverkauf im Laden bestimmt, wenn es gut lief.

Dieses absurde Bestellverhalten führte dazu, dass eines schönen und wundersamen Tages von 999 bestellten Kochbüchern doch tatsächlich, warum auch immer, eine große Palette mit circa 600 Exemplaren in der Buchhandlung eintraf. Das Erstaunen und die Freude für uns und die Kunden war groß. So hatten wir doch mal einen Nachmittag und auch noch am folgenden Vormittag ein sehr begehrtes Kochbuch tatsächlich vorrätig.

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Nach dem Abschluss der Polytechnischen Oberschule (POS) absolvierte Simone Zopf (geb. 1965) zwischen 1981 und 1983 ihre buchhändlerische Lehre in Halle/Saale bei „Das Gute Buch“, der größten Volksbuchhandelsfiliale im Bezirk Halle. Nach der Übernahme durch ihren Ausbildungsbetrieb war sie dort für die Sortimente Fachbuch und Gesellschaftswissenschaften zuständig. Umzug nach Erfurt, wo sie ab 1988 im „Antiquariat des Volksbuchhandels“ tätig war. Die Leiterin des Antiquariats, das damals fünf Mitarbeiter hatte, wagte nach der Wende den Schritt in die Selbstständigkeit.

1992 kam Simone Zopf zu „Peterknecht“. Dort war sie 20 Jahre lang beschäftigt; zunächst für das Fachbuch verantwortlich, in späteren Jahren dann für Belletristik und als 1. Sortimenterin. Im Sommer 2012 holte ein junger Berufskollege die erfahrene Buchhändlerin in seine Buchhandlung „Die Eule“ nach Weimar. Nach 30 Berufsjahren brauchte Simone Zopf dann frischen Wind; nach ersten Erfahrungen als Verlagsvertreterin in 2015 möchte sie zukünftig hier anknüpfen.

„Wir Buchhändler haben im Grunde mit viel Aufwand den Mangel verwaltet.“ – Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Maritta Tanzer, Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Simone Zopf ihre Erinnerungen. Sie kam 1981 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und blieb dem Beruf über 30 Jahre treu.

Warum hast du dich für den Beruf des Buchhändlers entschieden?

Ich konnte lesen – das war schon einmal ein guter Anfang. Buchhändler war der einzige Beruf, den ich wirklich lernen wollte. Die Vorstellung der großen, offenen, vielfältigen Welt der Bücher und Schriftsteller hat mich fasziniert. In der Schule war ich eine der wenigen, die Literaturunterricht spannend fanden, fast ein Exot in meiner Klasse und so hoffte ich, in der Berufsausbildung Gleichgesinnte zu finden, denen Bücher so viel bedeuteten wie mir. An der Berufsschule für Buchhändler in Leipzig und auch in der Buchhandlung in Halle habe ich genau dies in einigen (wenigen) Lehrern, Kollegen und Mitschülern gefunden. Wir haben sehr viel gelesen, mit und für Bücher gelebt und diese wertgeschätzt.

Die Verlage und der Buchhandel gehörten zum kulturellen Bereich in der DDR, so wie Film, Theater, Kunst, Bibliotheken und Museen.

Selbstverständlich war es in der DDR nicht, dass man seinen Wunschberuf ergreifen konnte …

Nein, das war es nicht. Für meinen Jahrgang war genau eine Ausbildungsstelle als Buchhändler im zentral herausgegebenen Lehrstellenverzeichnis der Stadt Halle verzeichnet. Jeder Schüler erhielt in der 9. Klasse eine einzige Bewerberkarte und nur mit dieser konnte man sich auf genau eine Stelle bewerben.

War dir bewusst, dass dem Buchhandel eine erzieherische Funktion zugedacht war und er dementsprechend auch in der Pflicht stand, politisch genehme „Schwerpunkttitel“ zu vertreiben?

Nein, in diesem frühen Stadium nicht. Allerdings haben wir davon in unserer Ausbildung schnell und umfassend erfahren. Aber verinnerlicht? Eher nicht. Es gab in der DDR ein „Lehrbuch für Buchhändler“. Daraus konnte ich lernen, zum Beispiel dass „Die Triebkraft im kapitalistischen Verlagswesen und Buchhandel ist das Streben nach Profit“ während „In der sozialistischen Gesellschaf (es) Aufgabe des Verlagswesens und Buchhandels (ist), zur immer besseren Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung beizutragen“. Worthülsen angesichts der Realität in der DDR und der Arbeitswirklichkeit in den Buchhandlungen.

Wie sah denn die Wirklichkeit in der Buchhandlung aus?

LKG Umfrage Ende 1960er Jahre (1)

LKG Umfrage Ende 1960er Jahre (1)

Die Buchhandlung war alt, schlecht zu heizen, durch Umbauten im sozialistischen Stil verhunzt, z.B. Kassenhäuschen mit Glasscheibe wie in der Kaufhalle. Die Kunden durften nur mit einem am Eingang bereitstehendem Korb durch den Laden gehen (Anzahl limitiert), mussten die Bücher kaufen, die halt gerade da waren und dann die gekauften Bücher selbst einpacken (wenn Papier da war). Kundenservice Fehlanzeige. Tatsächlich war der Kunde nicht willkommen. Das war DDR Alltag.

Auf ungefähr 400 qm Verkaufsfläche kamen 40 Mitarbeiter (Laden, Büro, Hauptkasse, Hausmeister, Wareneingang, Abholfach, Parteileitung, Buchhandelsleiter….) Viele Mitarbeiter und doch wurde nicht genug gearbeitet. Und wir als Buchhändler haben im Grunde mit viel Aufwand den Mangel verwaltet.

Wie schätzt du deine Lehrzeit bei „Das Gute Buch“ im Rückblick ein?

Anfangs eröffnete sich mir tatsächlich eine neue, weite Welt. Ich lernte noch einige Kollegen aus der alten Buchhandelszeit kennen, vielleicht kann ich sie als bürgerlich bezeichnen, die waren irgendwie anders, nicht politisch durchdrungen, normal eben. Im Unterschied zu den jüngeren, politisch gebundenen Kollegen, die selbst schon die Stufen der politischen Erziehung durchlaufen hatten. Dazu kamen wir – Lehrlinge und sogenannte Jungfacharbeiter. Wir waren doch sehr anders (meinten wir jedenfalls damals) und haben versucht in diesen, für uns antiquierten Strukturen neue Wege zu finden. Aber vieles war so eng, so begrenzt, so unbeweglich. Andererseits waren wir irgendwie ganz normale Kollegen, haben gelacht, gestritten, gefeiert und ein bisschen gearbeitet 🙂

Gab es etwas, was dich als Lehrling besonders „genervt“ hat?

Die Arbeitszeit von 8,45 Stunden plus Pausen war in 2 Schichten eingeteilt. 7:00 Uhr bis 16:30 Uhr oder 9:00 Uhr bis 18:00 Uhr. Früh 7 Uhr (!) wurde mit Staubtuch, Wasser und Lappen alles durchgeputzt. Jeden Tag. Alle Regale. Im Alter von 16/17 Jahren empfand ich das als ziemlich sinnlos. Das ganze Land war dreckig und ich sollte um 7 Uhr morgens dagegen ankämpfen…

So habe ich sehr gern und oft meinen Dienst gegen die Spätschicht getauscht, oder einfach länger geschlafen. Natürlich gab es dann auch Ärger, aber who cares, niemand konnte entlassen werden in der DDR. Immerhin habe ich so meinen Ausbildern eine gute Gelegenheit verschafft, an mir im Sinne des Sozialismus erzieherisch tätig zu werden….

Wie bewertest du den theoretischen Unterricht an der Leipziger „Berufsschule für Buchhändler“ aus heutiger Sicht?

LKG Umfrage Ende 1960er Jahre (2)

LKG Umfrage Ende 1960er Jahre (2)

Das war eine inhaltlich sehr gute, fundierte, umfangreiche Ausbildung. Sehr besonders waren die Fächer „Literaturkunde“ und „Wissenschaft und Technik“. In Literatur wurden uns sehr gründlich Literaturkenntnisse aller Epochen vermittelt. Hauptaugenmerk lag allerdings auch hier auf der sozialistisch geprägten Literatur: sozialistischer Realismus, Bitterfelder Weg, Sowjetliteratur oder den bürgerlichen Schriftstellern, die ins ideologische Bild der DDR passten bzw. passend gemacht wurden wie zum Beispiel Arnold Zweig.

Das Fach „Wissenschaft und Technik“ unterrichtete eine sehr kluge, für uns allwissende Lehrerin. Hier ging es nur um Fakten. Basiswissen aus wirklich allen Fachgebieten. Medizin, Technik, Bergbau, Sprachen, Philosophie, Pädagogik, Chemie… Die ganze Bandbreite des Sortiments und das ganze praktisch unpolitisch. Eine Oase in der Ausbildungszeit. Die Tiefe und Breite dieses Unterrichts war genau die Art von Horizonterweiterung, die ich brauchte. Je mehr ich hörte, desto mehr wollte ich wissen und lesen und diskutieren und dabei sein. – Im Laufe des Buchhändlerjahre kam dann allerdings die Erkenntnis: Das Wissen eines Buchhändlers ist Fußballfeld groß, aber nur Spatentief. 😉

Welchen Anteil hatte die Staatsbürgerkunde im Rahmen deiner Ausbildung?

Kannten wir alles schon aus vier Schuljahren an der POS. Da war Staatsbürgerkunde auch schon langweilig. Es gab kein Entrinnen. Allerdings versuchten wir im Unterricht immer zu diskutieren. Die Klassenstruktur war recht durchmischt, kirchlich Gebundene, politisch Korrekte, Suchende, Zweifelnde und Gleichgültige, denen eine politisch linientreue Staatsbürgerkundelehrerin gegenüberstand. Die Diskussionen hörten an der Schultüre nicht auf. Hier prallten Welten aufeinander. Aber es war spannend.

Worauf wurde während deiner Ausbildung besonders großen Wert gelegt?

Die Ausbildung allgemein war schon darauf angelegt, aus uns nützliche Glieder der Gesellschaft zu schmieden. Egal, was gearbeitet wurde – Bücher verkaufen, Straßenbahn fahren, Häuser bauen – das waren offiziell nicht einfach nur Tätigkeiten, nein, alles wurde politisch überhöht und sollte immer ein Kampf für Frieden und Sozialismus sein. Ich hatte aber auch das Glück, noch auf einige ältere, erfahrene Buchhändler zu treffen, die mir weitab vom Politischen noch etwas vom ursprünglichem Beruf des Buchhändlers lehren konnten: Wissen, Zuhören, Belesenheit, Klugheit, Umgang mit Menschen, Integrität.

Schlussendlich haben wir unsere Arbeit getan. Die große Aufgabe – Sozialismus bla, bla – hat uns in der täglichen Arbeit nicht interessiert.

Was war während deiner Lehrzeit Pflichtlektüre?

Zwischen ungeliebten Ladenhütern (hohe Auflagen, praktisch immer in der Buchhandlung verfügbar) – Willi Bredel, Hans Marchwitza, Erik Neutsch – und begehrten Büchern (kleine Auflage, selten zu haben) – de Bruyn, Cibulka, Fritz Erpenbeck, Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller – gab es die breite Masse an Titeln, die so schlecht nicht war und in Ermangelung besserer Bücher gekauft wurde. Zwischen all diesen Titeln lag auch unsere Pflichtlektüre. Sehr viel Wert wurde auf Buchbesprechungen gelegt. Die haben wir sehr oft geschrieben. Manchmal nicht gern …

Spielten die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ und das „Statut für den Volksbuchhändler“ noch eine Rolle?

Wenn es diese Ordnung gab, sollte ich davon während meiner Buchhändlerzeit gehört haben. Allerdings scheint es mich nicht nachhaltig beeindruckt zu haben, bzw. war es für die tägliche Arbeit nicht von Belang, sodass mir die Inhalte in Vergessenheit geraten sind. Während der täglichen Arbeit war es eben doch wichtiger, die Kartei ordentlich zu führen, ohne Differenzen an der Kasse zu arbeiten, Buchlaufkarten korrekt auszufüllen oder Bücher auf einer Palette so aufzubauen, dass sie nicht umfielen. Vielleicht stand das ja drin. Dann habe ich doch etwas daraus gelernt 😉

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Nach dem Abschluss der Polytechnischen Oberschule (POS) absolvierte Simone Zopf (geb. 1965) zwischen 1981 und 1983 ihre buchhändlerische Lehre in Halle/Saale bei „Das Gute Buch“, der größten Volksbuchhandelsfiliale im Bezirk Halle. Nach der Übernahme durch ihren Ausbildungsbetrieb war sie dort für die Sortimente Fachbuch und Gesellschaftswissenschaften zuständig. Umzug nach Erfurt, wo sie ab 1988 im „Antiquariat des Volksbuchhandels“ tätig war. Die Leiterin des Antiquariats, das damals fünf Mitarbeiter hatte, wagte nach der Wende den Schritt in die Selbstständigkeit.

1992 kam Simone Zopf zu „Peterknecht“. Dort war sie 20 Jahre lang beschäftigt; zunächst für das Fachbuch verantwortlich, in späteren Jahren dann für Belletristik und als 1. Sortimenterin. Im Sommer 2012 holte ein junger Berufskollege die erfahrene Buchhändlerin in seine Buchhandlung „Die Eule“ nach Weimar. Nach 30 Berufsjahren brauchte Simone Zopf dann frischen Wind; nach ersten Erfahrungen als Verlagsvertreterin in 2015 möchte sie zukünftig hier anknüpfen.

„Der Begriff ‚Leseland‘ müsste neu aufgerollt werden.“ Gespräche mit ehemaligen Volksbuchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Maritta Tanzer ihre Erinnerungen. Sie kam 1961 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und ist bis zu ihrem Renteneintritt im Jahr 2007 eine Buchhändlerin aus Leidenschaft geblieben.

Frau Tanzer, im ersten Teil unseres Gespräches (den man hier nachlesen kann) haben wir u.a. auch darüber gesprochen, welche Titel im Sortiment häufig gefehlt haben. Was ging bei Ihnen wie „geschnitten Brot“?

Doppelbödige Texte. Sozialistische Gegenwartsliteratur, die versteckte Kritik übte, die ging „wie geschnitten Brot“, auch „unter dem Ladentisch“ weg. Hermann Kants „Aula“, Christa Wolf, Brigitte Reimann, K.H. Jacobs, die Strittmatters, um hier nur einige gängige Autoren aus meinen Anfangsjahren im Buchhandel zu nennen. Unvergesslich bleibt mir die Leipziger Herbst-Buchmesse im Jahr 1965. Vor dem ehemaligen Buchmessehaus am Alten Markt habe ich gemeinsam mit Erik Neutsch dessen Neuerscheinung „Spur der Steine“ verkauft. Etwa 200 Exemplare (natürlich mit Autogramm) gingen binnen kurzer Zeit weg. Das wäre heute ein Traumergebnis – und das mit Literatur, die im Zuge des Bitterfelder Weges entstanden ist.

War das alles nur „unter dem Ladentisch“ zu haben?

Kants „Aula“, 1965 erschienen, war anfangs sehr gefragt, später aber fast immer im Sortiment vorrätig. Auch Strittmatters Bücher gab es nicht nur unter dem Ladentisch – doppelbödig und aufregend war von ihm eigentlich doch nur „Ole Bienkopp“, erstmals 1963 erschienen. Doppelbödig war Christa Wolf. Nehmen wir beispielsweise ihren 1976 erschienenen Titel “Kindheitsmuster“, in dem der ganz normale Alltag im Nationalsozialismus ein Thema war. Erstmals in der DDR-Literatur war das ein Thema. Oder ihre „Kassandra” aus dem Jahr 1983 – die ersten Auflagen von diesem Buch gab es tatsächlich nur unter dem Ladentisch. Meine eigene “Kassandra”-Ausgabe hat eingeklebte Streifen. – Ich hatte mir die geschwärzten Stellen besorgt, abgeschrieben und in meine DDR-Ausgabe eingeklebt. Doppelbödige Texte, die sehr gefragt waren, gab es allerdings nicht nur bei der deutschen, sondern in der Perestroika-Zeit eher noch bei der sowjetischen Literatur. Da waren auch die Kinos zur “Woche des sowjetischen Films” rammelvoll. Daniil Granins „Sie nannten ihn Ur“ bekam man 1988 nur unter dem Ladentisch.

Sie haben ganze Passagen aus Büchern abgeschrieben?

Ich habe vieles abgeschrieben, ganze Bücher. Biermanns “Drahtharfe”, 1965 bei Wagenbach in West-Berlin erschienen, habe ich komplett in einer Nacht kopiert, weil ich das Buch am nächsten Tag an eine Ausstellerin aus der BRD zurückgeben musste.

Welche Möglichkeiten haben Sie darüber hinaus genutzt, um an Bücher zu kommen, die der Zensur zum Opfer gefallen waren?

Maritta Tanzer bei der Inventur © privat

Maritta Tanzer bei der Inventur (nach der Wende) © privat

1963 war bei „Volk und Welt“ erstmals Jewtuschenko erschienen – ein Gedichtband. Mir ist es mit Jewgeni Jewtuschenko ähnlich ergangen wie mit Wolf Biermann. Ich fand seine Texte faszinierend aufmüpfig. Wegen dem darin enthaltenen Gedicht „Babi Jar“, in dem Jewtuschenko dem Massenmord an Kiewer Juden im Jahr 1941 gedenkt, wurde der Titel einige Tage später eingezogen und auch aus den Bibliotheken entfernt. Leider waren die zwei, drei Exemplare, die wir von der Auslieferung erhalten hatten, bereits am ersten Tag verkauft. Ich hatte das Buch, aus welchen Gründen auch immer, leider verpennt. Zum Glück hatte ich damals eine Freundin an der Theaterhochschule, die es aus der dortigen Bibliothek ausgeliehen hatte, bevor es aus dem Bestand entfernt wurde. Es ging “verloren“ und musste deshalb von meiner Freundin bezahlt werden. Bis heute steht es mit Bibliotheksstemmpel in meinem Bücherschrank. Anderenfalls wäre es sicher eingestampft worden.

Wie lief das mit Titeln aus dem sogenannten nicht-sozialistischen Ausland?

Die Devisen, die nötig gewesen wären, um Rechte von westlichen Verlagen zu bekommen, waren ja mehr als beschränkt. Viele Kinderbücher und moderne Autoren konnten auch aus diesem Grund nicht oder nur in geringen Auflagen erscheinen. „Pippi Langstrumpf“ erschien in der DDR einmal in einer kleinen Taschenbuchausgabe. Wir erhielten sie so gekürzt, dass es gerade einmal für die Kinderbibliothek und die eigenen Kollegen mit Kindern oder Enkeln gereicht hat. Ähnlich war es zum Beispiel mit Büchern von Erich Kästner.

Wie sind Sie dennoch an Bücher von West-Verlagen gekommen?

In den Internationalen Buchhandlungen ließen sich manchmal Autoren aufstöbern, deren Rechte westliche Verlage innehatten. Der Sowjetunion war, wie Sie vielleicht wissen, das Copyright ziemlich wurscht. Über diesen Umweg konnte man an Titel in deutscher Sprache gelangen (meist lediglich mit einem russischsprachigen Vorwort versehen), die in der DDR nie erschienen wären. Ich besitze zum Beispiel Ausgaben von Remarque. Dessen Roman „Im Westen nichts Neues“ wurde im Original in der DDR ja erst 1989 veröffentlicht.

Entdeckergeist und Erfindungsreichtum waren demnach vom Buchhändler im starken Maße gefragt?

Wenn ich von mir und meinen langjährigen Kolleginnen ausgehe: Wir hatten immer viel Freude daran, lesbare Bücher für unsere Kunden aufzustöbern. Viele dieser Bücher, die vor der Wende oft, leider nicht immer, im Laden standen, sind heute vom Markt verschwunden. Diese Kostbarkeiten haben wir über die Jahre gehegt und immer wieder gerne verkauft. Eines davon ist heute noch mein Lieblingsbuch, nämlich „Der Fremde von Barra“ vom kanadischen Autor Fred Bodsworth. Die deutsche Übersetzung ist 1965 im Aufbau Verlag erschienen und leider nur noch antiquarisch erhältlich.

Der Bestand an lieferbaren Titeln war so übersichtlich, dass wir ausreichend Zeit für die Suche nach besonderen Büchern hatten. Und da gab es, wie heute auch, einige Entdeckungen zu machen, die man dem Kunden gerne vermittelte. Das war immer sehr schön für uns, wenn sich Kunden beraten lassen wollten. Neben den von ihnen angesprochenen Ladenhütern, gab es durchaus Nischenprodukte. Zum Beispiel aus dem LDPD-Verlag „Buchverlag Der Morgen“, die wir gern empfohlen haben. Wie viele andere DDR-Verlage existiert dieser Verlag heute auch nicht mehr.

Was ging nur mäßig über die Ladentheke?

Natürlich standen Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung (Gotsche, Bredel und andere Namen), aber auch geförderte, mittelmäßige Autoren, die alle schon in der x-ten Auflage erschienen waren, wie Blei im Regal. Das betraf in erster Linie die Bücher aus dem Mitteldeutschen Verlag. Wir mussten Buchlaufkarten führen, um die Titel im Blick zu behalten und den Verkauf nachzuweisen. Abgesehen von einem gewissen Grundsortiment aus dem Dietz-Verlag hatten wir die Regale übrigens nie voller unverkäuflicher Literatur. Dabei halfen auch die Buchlaufkarten. Meiner Erinnerung nach gab es eher Zeiten, wo wir mangels Masse viele Bücher frontal gestellt haben.

Buchlaufkarten – ein Mittel zur Kontrolle?

Mittels der Buchlaufkarten sollten diese Titel immer wieder nachbestellt werden und am Lager gehalten werden. In Leipzig kamen regelmäßig zwei Autoren in die Buchhandlung, um zu kontrollieren, dass ihre Bücher auch im Sortiment standen – Hildegard Maria Rauchfuss und Ferdinand May (der Vater von Gisela May). Die haben sich dann beim Verlag beschwert, wenn sie ihre Bücher nicht im nicht Sortiment gefunden haben.

Die Leipziger Buchhandlung „Am Neumarkt“ war zu Ihrer Zeit Testbuchhandlung des Staatsverlags. Erhoben wurden dort Daten für die Programm- und Auflagenplanung.

Ja, genau. Die Volksbuchhandlung „Buch und Kunst“ in Dresden, wo ich meine buchhändlerische Lehre absolviert habe, war sogar für zwei Verlage Testbuchhandlung: Für den Verlag Bauwesen und den Transpress-Verlag für Verkehrswesen. Übrigens hatten nur die Testbuchhandlungen das vollständige Sortiment des jeweiligen Verlages vorrätig zu halten. In Leipzig, in der Buchhandlung “Am Neumarkt“, waren es der Verlag Wirtschaft und der Staatsverlag. Später in Freiberg dann der Verlag für Grundstoffindustrie. Etliche Titel dieses Verlages werden heute antiquarisch gesucht, weil es nichts Besseres für bestimmte Spezialgebiete gibt.

Wie war das mit der Parteiliteratur?

Die Genossen, die in den Betrieben die unselige Parteiliteratur verkaufen mussten, waren schon bemitleidenswert. Denn irgendwann hatten ihre Mitgenossen weder die Lust, das Zeug zu lesen, noch den Willen, es zu bezahlen, auch wenn es sich nur um Pfennigbeiträge handelte. Die Bestände stauten sich dann in den Buchhandlungen, was den Warenbestand belastete.

Zu DDR-Zeiten war das Buch nicht nur eine begehrte Ware, sondern auch ein beliebtes Tauschobjekt…

Der Begriff „Leseland DDR“, mit dem sich der Staat gerne geschmückt hat, müsste für meine Begriffe neu aufgerollt werden. Viele Kunden haben rare Titel bestellt, ob sie die je gelesen haben, weiß ich nicht. Für viele (nicht alle) waren Bücher Statussymbole oder auch Geldanlagen als Ersatz für Dinge, die sie sowieso nicht kriegen konnten (wie etwa Reisen, Konfektion, Elektronik). Mangels anderer Alternativen waren Bücher natürlich auch Geschenkartikel. Für uns Buchhändler – auch nicht für alle – waren sie bisweilen auch Tauschobjekte. Ja, irgendwann benötigten auch unsere Kinder einen neuen Anorak oder Vitamine im Winter. Und nach Ladenschluss war das eben nicht mehr zu bekommen.

Meine Skizze wirft mehr Fragen auf als sie Antworten geben kann. Wo haben Sie besonders viele Fragezeichen gesetzt?

Einige Punkte habe ich ja bereits angeschnitten. Besonders aufgestoßen ist mir, dass die Skizze den Eindruck erweckt, als sei der Alltag des Buchhändlers in der DDR freudlos gewesen. Trotz der geringen Auswahl, die es gab, und trotz aller Widrigkeiten, die ich erlebt habe, hat der Beruf des Buchhändlers in der DDR Spaß gemacht. Wir haben beileibe nicht den ganzen Tag an Partei und Regierung gedacht. Ich meine, dass Sie das in Ihren Ausführungen zu verbissen sehen. Ein wichtiger Grund ist zudem, dass die Kollegen sich lange kannten, über viele Jahre hinweg (in der Akademischen Buchhandlung in Freiberg sogar bis heute) zusammengearbeitet haben und viele Schwierigkeiten auch mit Humor umschifften. Ich glaube, solche „Kollektive“, wie sie in der DDR gang und gäbe waren, sind heute rar. Ich sehe nicht, dass wir damals groß gelitten hätten.

Auf jeden Fall möchte ich Ihnen vermitteln, dass ich (wie viele meiner Kolleginnen) trotz aller Widrigkeiten mit Leib und Seele Buchhändler war. Wenn wir uns heute treffen, sprechen wir weniger über die Schwierigkeiten, sondern eher über sehr lustige Weihnachtsfeiern, Wanderungen, Betriebsausflüge, die es so heute nicht mehr gibt. Und die – auch wenn angeordnet gewesen war, darüber einen Artikel für das Brigadetagebuch zu verfassen – ungeheuer Spaß gemacht haben.

Gibt es etwas, was Sie aus dem DDR-Buchhandel gerne in die Bundesrepublik „rübergerettet“ hätten?

Maritta Tanzer beim Verkauf © privat

Maritta Tanzer beim Verkauf (nach der Wende) © privat

Während meiner Zeit in der „Akademischen Buchhandlung“ existierte ein System von monatlichen Ausstellungen, die in den jeweiligen Speiseräumen der Betriebe in und um Freiberg herum stattfanden. Jeder Kollege war für zwei Betriebe zuständig. Für die Ausstellungen wurde monatlich Literatur gesammelt. Nur so konnte möglich gemacht werden, dass die Beschäftigten in den Betrieben wenigstens begrenzt zu Büchern kamen, die sie im Laden nie gesehen hätten. Der Andrang in der Mittagspause war immer irre. Und die Hemmschwelle für viele, die nie eine Buchhandlung betreten hätten, war beseitigt.

Fächer, in denen Bücher gesammelt wurden, existierten bei uns auch für die sogenannten Vertriebsmitarbeiter, für die ich in der „Akademischen Buchhandlung“ verantwortlich gewesen bin. Wir hatten circa 70. Das waren literaturinteressierte Mitarbeiter in Betrieben, Schulen, Instituten und Bibliotheken, aber auch in den umliegenden Dörfern, die Bücher im Namen unserer Buchhandlung verkauften. Dafür bekamen sie eine Aufwandsentschädigung. Bei uns waren es zehn Prozent. – Ich weiß, dass all diese Dinge im heutigen Buchgeschäft weder praktikabel noch nützlich wären. Ich möchte Ihnen anhand dieser Beispiele lediglich einige Besonderheiten des DDR-Buchhandels vor Augen führen.

Was stößt Ihnen im Vergleich zur DDR beim heutigen Literaturbetrieb auf?

Die Titelflut mit unendlich viel Müll, die Fokussierung auf die Bestsellerlisten, die Rückgabe vom Hardcover nach nur sechs Monaten, die Unmengen von Remittenden, besonders im Taschenbuchbereich, empfinde ich aus ökonomischer Sicht ähnlich wie das Entsorgen der überflüssig gewordenen Literatur in den stillgelegten Braunkohletagebau Espenhain um die Wendezeit. Man braucht Zeit zur Sortimentspflege, d.h. längere Verweildauer belletristischer Titel im Sortiment, damit sich der Buchhändler vertraut machen kann mit dem, was er verkaufen will. Und die Riesenbuchhandlungen, deren Sortimente die Leute fast erschlagen, sind auch nicht das, was ich mir als Buchhändler mal erträumt habe.

Liebe Frau Tanzer, herzlichen Dank für diesen Einblick. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir im Gespräch blieben.

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Maritta Tanzer (geb. 1944) absolvierte zwischen 1961 und 1964 ihre buchhändlerische Lehre in der Volksbuchhandlung „Buch und Kunst“ in Dresden. Bis in die heutigen Tage wird ihr damaliger Chef, Hans Führer, von den Ehemaligen als Vaterfigur verehrt. 1964 wechselte sie nach Leipzig in die Volksbuchhandlung „Am Neumarkt“, die 1967 mit der „Hinrichs’sche Buchhandlung“ zusammengelegt wurde. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrausbilderin war sie dort für die Belletristik und das Kinderbuch zuständig.

Nach Differenzen mit der Bezirksdirektion des Leipziger Volksbuchhandels kam sie 1968 als Referentin bei der Abteilung Buchmarktforschung beim Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) unter. 1969 schloss sie ein vierjähriges Fernstudium an der 1957 gegründeten „Fachschule für Buchhändler“ in Leipzig-Leutzsch ab, die seit 1960 berufsbegleitende Fernstudiengänge möglich machte. Die Schule war damals im selben Gebäude wie die „Fachschule für Bibliothekare Erich Weinert“ untergebracht war, die Lehrpläne und Dozenten waren jedoch andere. Die Fusion zur „Fachschule für Bibliothekare und Buchhändler Erich Weinert“ erfolgte 1985. Die Abschlüsse wurden erst weit nach der Wende vom Kultusministerium als Fachhochschulabschluss anerkannt.

1972 Umzug nach Freiberg, wo Maritta Tanzer zunächst in der Hochschulbibliothek der Bergakademie arbeitete. 1978 wechselte sie zur „Akademischen Buchhandlung für Montanwissenschaften“, bei der sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2007 für die Ausbildung der Lehrlinge, die Betreuung der Vertriebsmitarbeiter sowie für die Sortimente Belletristik und Kinderbuch verantwortlich war.

 

„Die Wahrheit liegt – wie bei der ganzen DDR-Geschichte – irgendwo dazwischen.“ Gespräche mit ehemaligen Volksbuchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Maritta Tanzer ihre Erinnerungen. Sie kam 1961 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und ist bis zu ihrem Renteneintritt im Jahr 2007 eine Buchhändlerin aus Leidenschaft geblieben.

Wie hat mein Versuch auf Sie gewirkt, die Geschichte des DDR-Buchhandels zu rekonstruieren?

Wie Sie richtig festgestellt haben, ist die Geschichte der DDR-Verlage wesentlich besser aufgearbeitet. Insofern ist das Vorhaben, die Geschichte des Buchhandels rekonstruieren zu wollen, lobenswert. Allerdings scheint mir, dass Sie die Entwicklungen zu theoretisch erfassen. Das heißt zu sehr aus dem Blickwinkel der Partei, respektive wie wir Buchhändler funktionieren sollten, nicht immer funktionieren wollten und schlussendlich doch funktioniert haben. Die Planerfüllung, die Einhaltung des vorgegebenen Warenbestandes, ein gutes Inventurergebnis lagen ja insofern in unserem Sinne, dass wir die Monatsprämien alle gut brauchen konnten. Also, die Wahrheit liegt – wie bei der ganzen DDR-Geschichte – irgendwo dazwischen. Mit pauschalen Urteilen kann ich mich nicht anfreunden.

Würden Sie meiner These zustimmen, dass die Buchhändler in der DDR mitunter recht eigensinnig gewesen sind?

Richtiger müsste es wohl heißen, dass die meistens Buchhändler nicht nur eigensinnig, sondern auch kreativ waren. Das waren sie, um die (ja, die restriktiven) Planaufgaben zu erfüllen. Aber nicht etwa, um dem Staat einen Gefallen zu tun, sondern um zur monatlichen Umsatzprämie zu kommen. Unsere Gehälter waren (und sind es auch nach der Wende noch) an der Untergrenze!

Mögen Sie das ein wenig ausführen?

Maritta Tanzer © privat

Maritta Tanzer © privat

Beispielsweise behaupten Sie in Ihrer Skizze, dass die Schaufensterauslagen der Buchhandlungen wegen fehlender Dekomaterialien zeitweilig leer geblieben seien. Gemüsegeschäfte und andere Läden, deren Fenster nicht gerade liebevoll gestaltet beziehungsweise leer waren, kenne ich aus der DDR. Im Buchhandel habe ich derartiges NIE erlebt. Um die Schaufenster aufzumöbeln, haben wir viele Deko-Elemente selbstgemacht. Aufgrund der vielen Mängel waren wir (wie jeder andere DDR-Bürger auch) im Beruf immer sehr einfallsreich und haben bei der Schaufenstergestaltung auch aus Nichts etwas gemacht. Das war übrigens bereits während der Lehrzeit ein Thema. Während meiner Lehre bei „Buch und Kunst“ in Dresden haben wir beispielsweise einmal eine größere Menge von „Klamanns Puppentheater“ erhalten, einem damals sehr begehrten und seinerzeit recht freizügigen Comic aus dem Eulenspiegel-Verlag. Wir haben das ganze Fenster von innen schwarz verklebt und nur ein Guckloch gelassen. Vor dem stauten sich die Passanten. Die Lehrlinge der Buchhandlung „Gutenberg“ haben sogar einmal im Schaufenster Theater gespielt …

In der Buchhandlung „Am Neumarkt“, die ich ab 1965 geleitet habe, gab es sechs kleine Schaufenster. Es fiel nicht immer leicht, die zu bestücken, aber Ideen waren immer da. Für das Kinderbuchfenster lieh ich vom Spielwarenladen nebenan Blickfänge aus und für das Messefenster in der „Hinrichs’schen“ Kunstgegenstände aus dem Grassi-Museum.

Meint das, dass man bei der Gestaltung der Schaufenster alle Freiheiten hatte?

Nicht ganz. Bei der Schaufenstergestaltung in Leipzig (besonders in der Innenstadt) und vorrangig zur Buchmesse war zu beachten, dass auch nur im Entferntesten politisch anstößige Bücher nicht ins Fenster kamen. Ich erinnere mich, dass 1968 am Morgen vor Eröffnung der Herbstmesse eine Kommission der Bezirksdirektion des Volksbuchhandels durch die Innenstadt lief, um die Auslagen in den Schaufenstern kritisch in Augenschein zu nehmen. Ich musste damals den Stadtplan Prag aus dem Fenster nehmen!!!

Heutzutage stellen Verlage den Buchhandlungen reichlich Dekomaterial zur Verfügung …

Von den DDR-Verlagen selbst kamen höchstens Plakate, die wir selbst aufgezogen haben. Was es von ihnen außerdem gab, waren nachbestellbare Schutzumschläge für die lieferbaren Titel. Dadurch sollte gewährleistet werden, dass die Bücher, die länger im Sortiment standen, nicht abgegriffen aussehen (Einschweißen war ja noch nicht üblich). Das ist ja heute nicht mehr nötig, weil die Hardcover höchstens solange im Sortiment stehen, bis das Taschenbuch erscheint. Ich frage mich manchmal, was aus den ganzen Remittenden wird!

Wo haben Sie Ihre buchhändlerische Lehre absolviert?

Die theoretische Ausbildung erfolgte an der „Deutschen Buchhändler-Lehranstalt“ in Leipzig. Wir waren dort internatsmäßig untergebracht und 4 x 4 Wochen im Jahr vor Ort. In der Schule existierten zu meiner Zeit übrigens noch getrennte Klassen für Volksbuchhändler und Privatbuchhändler. Die Dresdner Volksbuchhandlung „Buch und Kunst“, in der ich zwischen 1961 und 1964 gelernt habe, war mit über 20 Lehrlingen und je einem Lehrausbilder für jede Abteilung (Fachbuch, Belletristik, Bestellwesen, Werbung usw.) die Lehrbuchhandlung für den Bezirk Dresden. Alle vier Wochen wurde die Abteilung gewechselt und ab dem zweiten Lehrjahr erfolgte ebenfalls jeweils für vier Wochen eine Ausbildung in Spezialbuchhandlungen. Dazu gehörten das Antiquariat, das „Internationale Buch“, die zentrale Buchhaltung und für den naturwissenschaftlich-technischen Bereich die Buchhandlung der Technischen Universität Dresden.

Stichwort „ES Schneider“ …

Genau. Leiter der Buchhandlung der TU Dresden war der damals schon legendäre Walther Schneider – genannt „ES-Schneider“. Sein Verdienst war die „Einheitliche Systematik“, die er Ende der 1950er entwickelt hat, um für alle Volksbuchhandlungen eine einheitliche Sortierung zu ermöglichen. Das war für die Fachbuchhandlungen besonders wichtig. Bei der von ihnen in der Skizze erwähnten „Dresdner Kartei“ handelt es sich übrigens nicht um die „Einheitliche Systematik“, sondern die Bestellkartei, die LKG früh eingeführt hat. Die Titelkarten waren hier nach Verlagen geordnet, jeder Verlag hatte eine eigene Nummer. Es gab die Kartei für die laufenden Bestellungen (manchmal jahrelang) und eine „tote“ Kartei für alle Titelkarten, bei denen keine Bestellung lief. Im ersten Lehrjahr durften wir nur diese sortieren, um Titel kennenzulernen.

Wie würden Sie Ihre Lehrzeit im Rückblick bewerten?

Unsere Ausbildung empfinde ich heute noch als sehr gut. Vieles davon habe ich während meiner Zeit in Leipzig und Freiberg als Lehrausbilderin übernommen. Zur Ausbildung gehörte beispielsweise, dass wir monatlich eine längere schriftliche Buchbesprechung und ein kürzeres schriftliches “Verkaufsargument“ (also, wie wir das Buch dem Kunden empfehlen würden) abzuliefern hatten. Keine schlechte Sache, oder? Betriebswirtschaft wurde im Gegensatz zu heute damals eher klein geschrieben. Das war wohl auch nicht nötig, da es kaum Anreize gab, es anders zu machen als vorgegeben. Partien, Rabatte und ähnliches kannten wir nicht und die Handelsspanne betrug überall 27,5%. Diese ohne Taschenrechner auszurechnen war in der Lehrausbildung eine beliebte Aufgabe. Ich glaube, das können heute nur noch wenige im Kopf ausrechnen.

Und der literarische Kanon, der vermittelt wurde?

Geschichte und Literatur bestimmter Epochen (z.B. die Antike) kamen extrem kurz weg, dafür wurde die “Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung” ausführlich gelehrt. Wie überall kam es aber auch hier auf den entsprechenden Lehrer an. An der Fachschule hatten wir zwei tolle Literaturlehrer, die sich um den Lehrplan nicht allzu sehr kümmerten. Einer davon war der 2006 verstorbene Rolf Recknagel, der sich u.a. um die Traven-Forschung verdient gemacht hat.

Welche Bedeutung hatten die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ und das „Statut für den Volksbuchhändler“ in Ihrem buchhändlerischen Alltag?

Das „Statut“ und andere Arbeitsanweisungen, die Sie als Pflichtlektüre für die Buchhändler ausweisen, standen in der Handbibliothek. Wir haben sie nicht gelesen, höchstens mal reingeschaut, wenn es irgendwelche Differenzen zu klären gab. Ebenso wenig von Bedeutung war die Betriebszeitung „Der Volksbuchhändler“, die von der Zentralen Leitung des Volksbuchhandels bis 1965 herausgegeben wurde. Das Organ bot keine Hilfestellung bei der praktischen Arbeit. Die Redaktion war übrigens in einem Gebäude in Leipzig am Gerichtsweg untergebracht. Das „Börsenblatt“ vom Leipziger Börsenverein hatte schon allein deshalb einen größeren Wirkungskreis, weil sämtliche Betriebe, Bibliotheken, Institute und auch Privatpersonen den beiliegenden Vorankündigungsdienst (VD) beziehen wollten. Das zog nach sich, dass bereits eine Woche nach Erscheinen des VD Bücher hoffnungslos überzeichnet waren.

Die utopischen Bestellmengen, die der Buchhandel orderte, um überhaupt mit gängigen Titeln beliefert zu werden, muten aus heutiger Sicht kurios an …

In der “Hinrichs’schen Buchhandlung“ in Leipzig hatten wir deshalb einmal ein irres Problem. Die höchste Spalte in den Bestellformularen war eine dreistellige, sprich: die bestellbare Höchstmenge lag bei 999 Exemplare. Unsere Bestellzahl bei Titeln, von denen wir annahmen, dass sie stark gekürzt geliefert werden, (wie zum Beispiel bei Kalendern) bewegte sich in der Regel zwischen 600 und 700. Woraufhin 7, 10 oder 20 Exemplare geliefert wurden. In diesem Rahmen haben wir 1967 auch das wunderschöne tschechische Kinderbuch “Die kleine Ameise Ferdinand“ von Ondrej Sekora bei LKG geordert. Vermutlich hatten die Tschechen gerade genug Papier- und Druckkapazitäten, jedenfalls kam die Bestellung bei uns nahezu ungekürzt an. Der Buchhandlungsleiter wollte an andere Buchhandlungen umlagern. Wir wehrten uns dagegen, weil das Weihnachtsgeschäft vor der Tür stand und der restliche Kinderbuchbestand in der “Hinrichs’schen“ damals nicht eben üppig war. Ich glaube, es gab keinen Kunden, der “Die kleine Ameise Ferdinand“ nicht mitgenommen hat. Der hohe Bestand war nach Weihnachten jedenfalls komplett verkauft. Obwohl wir eine super Arbeit geleistet hatten, gab es keine Umsatzprämie für uns. Es wurde damit argumentiert, dass der Warenbestand überschritten war.

Können Sie die These bestätigen, dass Titel im Vorankündigungsdienst nicht mehr angekündigt wurden, um Überzeichnungen zu vermeiden?

Meines Wissens stimmt das so nicht. Ich glaube, wir hätten uns das manchmal sogar gewünscht. Der Vorankündigungsdienst weckte Begehrlichkeiten …

Woran fehlte es Ihrer Erinnerung nach hauptsächlich?

Also Klassiker, wie Sie in der „Skizze zum DDR-Buchhandel“ schreiben, die fehlten nicht. Wir – und jede andere Buchhandlung auch, die ich kenne – hatten immer ein Klassik-Regal. Die Bibliothek der deutschen Klassiker (BdK) war zwar nie vollständig da und die zehnbändige Goethe-Ausgabe immer Mangelware. Aber irgendetwas war immer da. Ich weiß, sehr viele Titel gab es nicht in genügender Stückzahl und viele nur unter dem Ladentisch. Man brauchte einen langen Atem und einen guten Draht zum Buchhändler, um die BdK vollständig zu bekommen.

An welchen Titel mangelte es darüber hinaus?

Mangel bestand beispielsweise bei Lizenzausgaben in Belletristik, auch linientreuer Autoren wie etwa Jorge Amado oder B. Traven, und beim Kinderbuch. Zu niedrig waren die Auflagen bei Kochbüchern, Kalendern, Blumenbüchern oder Naturführern (nicht nur aus dem Neumann-Verlag Radebeul), weil hochwertiges Kunstdruckpapier in der DDR rar war. Ich erinnere mich noch, dass der Verlag Kunst während meiner Lehrzeit bei „Buch und Kunst“ eine Nachauflage von Fritz Löfflers reich bebilderten Band „Das alte Dresden“ angekündigt hatte – ein Titel, der lange vergriffen gewesen war. Viele, viele Dresdner waren damals bedürftig, unsere Kartei von Bestellzetteln „hochschwanger“. Die starke Nachfrage wurde bei der Zuteilung insoweit bedacht, als Dresdner Buchhandlungen von LKG mehr Exemplare erhalten haben als die Buchhandlungen in den anderen Bezirken. Was glauben Sie, wie viele wir abbekommen haben? Etwa 20 Stück!

Danke für heute, liebe Frau Tanzer, wir setzen unser Gespräch fort.

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Maritta Tanzer (geb. 1944) absolvierte zwischen 1961 und 1964 ihre buchhändlerische Lehre in der Volksbuchhandlung „Buch und Kunst“ in Dresden. Bis heute wird ihr damaliger Chef, Hans Führer, von den Ehemaligen als Vaterfigur verehrt. 1964 wechselte sie nach Leipzig in die Volksbuchhandlung „Am Neumarkt“, die 1967 mit der „Hinrichs’sche Buchhandlung“ zusammengelegt wurde. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrausbilderin war sie dort für die Belletristik und das Kinderbuch zuständig.

Nach Differenzen mit der Bezirksdirektion des Leipziger Volksbuchhandels kam sie 1968 als Referentin bei der Abteilung Buchmarktforschung beim Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) unter. 1969 schloss sie ein vierjähriges Fernstudium an der 1957 gegründeten „Fachschule für Buchhändler“ in Leipzig-Leutzsch ab, die seit 1960 berufsbegleitende Fernstudiengänge möglich machte. Die Schule war damals im selben Gebäude wie die „Fachschule für Bibliothekare Erich Weinert“ untergebracht war, die Lehrpläne und Dozenten waren jedoch andere. Die Fusion zur „Fachschule für Bibliothekare und Buchhändler Erich Weinert“ erfolgte 1985. Die Abschlüsse wurden erst weit nach der Wende vom Kultusministerium als Fachhochschulabschluss anerkannt.

1972 Umzug nach Freiberg, wo Maritta Tanzer zunächst in der Hochschulbibliothek der Bergakademie arbeitete. 1978 wechselte sie zur „Akademischen Buchhandlung für Montanwissenschaften“, bei der sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2007 für die Ausbildung der Lehrlinge, die Betreuung der Vertriebsmitarbeiter sowie für die Sortimente Belletristik und Kinderbuch verantwortlich war.

„Ich sage mit Absicht nicht ‚Kunden‘ sondern ‚Leser‘.“ Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Das Vorhaben, das Wissen über den Buchhandel in der DDR aufzufrischen, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Im ersten Teil unseres Gesprächs erinnert sich Holger Brandstädt an die Jahre 1989/90. Anschließend haben wir über seine Erfahrungen nach der Privatisierung unterhalten und heute sprechen wir u.a. über die traditionsreiche „Friedrich-Wagner- Buchhandlung“ in Ueckermünde, die er seit 2001 führt.

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Die „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“ in Ueckermünde, die Sie seit 2001 verantworten, hätten Sie von der Inhaberin bereits 1991 übernehmen können. Was hat Sie damals davon abgehalten, Johanna Wagners Angebot anzunehmen?

die Gründer der Buchhandlung Friedrich und Anna Wagner © privat

die Gründer der Buchhandlung Anna und Friedrich Wagner © privat

Oh ich habe das Angebot damals angenommen, konnte jedoch erst Jahre später anfangen. Bevor Johanna Wagner das zwangsverstaatlichte Haus, in dem sich die Buchhandlung befindet, rückübertragen bekam, hatte ein früherer Kollege die Buchhandlung von der Treuhand bereits gekauft. Nachdem ich das Haus erworben hatte, präsentierte er mir einen recht frischen Mietvertrag über zehn Jahre, den die Städtische Wohnungsgesellschaft während des Rückübertragungsverfahrens mit ihm abgeschlossen hatte. Rechtlich war das wohl nicht in Ordnung, doch eine Klage wäre langwierig gewesen und hätte wohl auch für schlechte Presse gesorgt. Also entschloss ich mich, den Vertrag hinzunehmen, garantierte dem damaligen Mieter die Laufzeit und signalisierte frühzeitig, dass diese nicht verlängert wird. Im Jahr 2001 war es dann endlich soweit. Der Kollege hatte den Laden Monate zuvor geschlossen und an anderer Stelle in der Stadt eine Buchhandlung eröffnet. Ohne Erfolg. – Die Tradition am alten Standort war zu wichtig, die Familie Wagner stand hinter mir, noch dazu stammt die Familie meines Vaters aus Ueckermünde und meine Großmutter war ihr Leben lang in der Buchhandlung tätig. Dazu kam, während der Kollege den Laden wie einen Bestellshop führte und keinerlei Veranstaltungen anbot, setzte ich auf Impulskäufe durch ein attraktives Sortiment und etablierte die Buchhandlung als lokales Kulturzentrum. Wichtig für mich war jedoch auch, dass dies nur eine Filiale des Kollegen war und ihm mit der Übernahme nicht die Existenz weg brach.

Johanna Wagner hat die „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“ in der DDR bis 1981 in Eigenregie geführt. Dann wurde das traditionsreiche Geschäft vom Volksbuchhandel übernommen. Wissen Sie etwas über die Hintergründe?

Johanna Wagners Großvater Friedrich hat 1883 als Buchbinder in Ueckermünde angefangen, sein Sohn Johannes schuf dann die eigentliche Buchhandlung und Johanna Wagner oblag es, die Buchhandlung durch die DDR-Zeit zu führen. Sie schloss dafür einen Kommissionsvertrag mit dem Volksbuchhandel ab, der sie mit Büchern belieferte und ergänzte das Sortiment nach Wegfall der Buchbinderei und Druckerei durch Kunstgewerbe, das sie selbständig einkaufte. Mit dem Erreichen des Rentenalters stellte sich die Frage der Weiterführung. In der Familie Wagner gab es hierfür keinen Nachfolger. Die beiden Schwestern Wagner waren unverheiratet geblieben und der Bruder Frank Wagner hatte in Berlin die Tochter von Otto Grotewohl geehelicht, dem ersten Ministerpräsidenten der DDR. Wer wollte da schon unter der DDR-Mangelwirtschaft eine Buchhandlung im unsanierten Ueckermünder Altbau übernehmen? (Immerhin eine der Enkelinnen Frank Wagners ist heute eine angesehene Buchbindermeisterin in der Berliner Staatsbibliothek – die Familientradition wird also weitergetragen.)

Wie ging es nach der Übernahme durch den Volksbuchhandel mit der Buchhandlung weiter?

Johanna Wagner und Holger Brandstädt © privat

Johanna Wagner und Holger Brandstädt © privat

Der Volksbuchhandel war an der Lage der Buchhandlung direkt am Markt interessiert, die Räumlichkeiten waren größer als die der örtlichen Volksbuchhandlung und mit der Übernahme fiel die private Konkurrenz weg. Daher bot sich die Übernahme an. Die Mitarbeiter wurden wohl übernommen, die Geschäftsräume umfassend saniert und der Standort blieb erhalten. Johanna Wagner wohnte bis 2012 über der Buchhandlung. Heuer wird sie 94 Jahre und kommt immer noch regelmäßig vorbei, um einen neuen Krimi zu holen. Leider gibt es schon lange nichts Neues mehr von Pierre Mangan, die modernen Krimis sind ihr oft zu dick und zu brutal.

Würden Sie vom Literaturbetrieb, so wie Sie ihn in der DDR kennen gelernt haben, etwas auf den hiesigen Betrieb übertragen wollen?

Die Liebe zum Text, die Neugier auf Neues, die Verpflichtung dem Leser gegenüber. Und ich sage mit Absicht nicht ‚Kunden‘ sondern ‚Leser‘. Es gibt sie noch und das macht diesen Beruf so wunderbar.

Was stößt Ihnen im Vergleich zur DDR beim heutigen Buchmarkt auf? Was schätzen Sie besonders?

Ich schätze die Vielfalt, bin immer wieder entsetzt über die schiere Masse der Neuerscheinungen, hasse die Schnelllebigkeit des Marktes und bin in Hassliebe den Medien verbunden. Es gibt großartige Bücher, die dank der Medien entdeckt werden und ebenso großartige, die hoffnungslos untergehen, weil ihnen die öffentliche Wahrnehmung verwehrt bleibt. Es ist an uns, dem immer aufs Neue zu entgegnen, und es ist tröstlich zu wissen, dass überall in diesem Land unabhängige Buchhandlungen dem Einheitsbrei Paroli bieten.

Herzlichen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben.

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Der ausgebildete Koch Holger Brandstädt (geb. 1966) fing im September 1989 als ungelernte Kraft im „Internationalen Buch“ in der Spandauer Straße in Berlin/Mitte an. Eingestellt wurde er von Gerald Nußbaum, dem damaligen Direktor des Ostberliner Volksbuchhandels, der zu DDR-Zeiten unter dem Namen „Berliner Buchhandelsgesellschaft“ firmierte. 1989 gehörten circa 64 volkseigene Buchhandlungen zum Verbund.

Nußbaum trug sich bereits früh mit dem Gedanken, mit einem starken, westdeutschen Partner zu fusionieren. Nach Verhandlungen mit Thomas Grundmann von der Bouvier Buchhandelsgruppe in Bonn entstand im Juli 1990 die „Berliner Buchhandelsgesellschaft Bouvier und Nicolai“ GmbH (BBN), die sich die interessantesten Objekte der ehemaligen Hauptstadt der DDR sicherte. Unter den ehemaligen Renommierläden wie „Universitätsbuchhandlung“, „Kunstsalon unter den Linden“, war auch das „Internationale Buch“, wo Holger Brandstädt beschäftigt war. Er absolvierte 1990/91 in Bonn und Köln bei Bouvier diverse Praktika; zeitgleich machte er per Fernstudium seinen Abschluss als Buchhändler. Im August 1992 kam das Einsehen, dass sich die BBN überhoben hatte. Die vermeintlichen Filetstücke des Ostberliner Buchhandels hatten sich als nicht lukrativ genug erwiesen. Die meisten Buchhandlungen der BBN machten dicht; lediglich zwei konnten im Rahmen eines Management-Buy-Out an ehemalige Mitarbeiter verkauft werden.

Nach dem Zerfall der BBN ging Holger Brandstädt zur „Wohlthat’schen Buchhandlung“ GmbH, bei der er zuletzt als Filialleiter in Berlin/Friedrichshagen beschäftigt war. Im Oktober 2001 übernahm er in Ueckermünde die traditionsreiche „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“.

„Der Buchhandel war eine jener Nischen, in der viele Unangepasste überwinterten.“ – Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Bedingungen des sozialistischen Literaturvertriebs und den Strukturwandel des ostdeutschen Buchhandels infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Einiges hat uns bereits Heike Wenige wissen lassen. Heute erinnert sich Holger Brandstädt an die Jahre 1989/90. Unsere nächsten beiden Gespräche werden sich um seine Erfahrungen infolge der Privatisierung des DDR-Buchhandels drehen.

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Was hat Sie von der Gastronomie in den Buchhandel getrieben?

Meine Großmutter war Buchhändlerin, ich wollte immer schon was mit Büchern machen. Leider war 1983 landesweit keine Lehrstelle für männliche Bewerber vorgesehen. 1989 war ich beruflich als Koch soweit gekommen, dass sich die Frage Studium, Meisterausbildung oder wechseln stellte. Der Wechsel kam dann gerade noch rechtzeitig, um in den Buchhandel einzusteigen, bevor dieser in die Wendewirren stürzte.

Wie haben Sie die letzten Monate im DDR-Buchhandel erlebt?

Kulturstaatsministerin Monika Grütters überreicht Holger Brandstädt den Deutschen Buchhandlungspreis 2015 © Bundesregierung/Orlowski

Kulturstaatsministerin Monika Grütters überreicht Holger Brandstädt den Deutschen Buchhandlungspreis 2015 © Bundesregierung/Orlowski

Im Sommer 1989 sind reihenweise Buchhändler in den Westen ausgereist, andere hatten einen Ausreiseantrag gestellt und so stand die Berliner Buchhandelsgesellschaft vor dem Problem, die Läden zu besetzen. Mir wurden vier Filialen zur Auswahl gestellt, verbunden mit der Bitte, ein paar Wochen im „Internationalen Buch“ auszuhelfen. Letztlich blieb ich dort. Die Buchhandlung war hell, groß, man musste weder heizen noch putzen, es gab jeden Tag neue Ware und das Publikum war international. Ich bekam eine Stelle in der Belletristik, in der damals neben einer Buchhändlerin noch ein Maurer, eine Melkerin und eine Bürofachfrau arbeiteten. Alles motivierte Seiteneinsteiger, die recht schnell selbstständig arbeiten konnten. Daran war gerade in kleinen Buchhandlungen nicht zu denken.

War Ihnen bewusst, dass der Volksbuchhandel ursprünglich eine erzieherische Funktion hatte und dementsprechend auch in der Pflicht stand, politisch genehme „Schwerpunkttitel“ zu vertreiben?

Natürlich gab es palettenweise Werke von Otto Gotsche & Co, die Buchhandlungen waren jedoch auch damals schon bestrebt, Umsätze zu erzielen. Dazu kam, dass der Buchhandel eine jener Nischen war, in der viele Unangepasste überwinterten. Da hatten die hohlen Parolen des SED-Regimes wenig Widerhall. Werke wie die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ und das „Statut für den Volksbuchhändler“ sind mir nie untergekommen.

Inwieweit unterschied sich das Sortiment der Internationalen Buchhandlungen von dem der anderen volkseigenen Betriebe?

Das „Internationale Buch“ (IB) in Berlin/Mitte war eine der größten Buchhandlungen der DDR. Das Sortiment setzte sich aus deutsch- und fremdsprachigen Titeln zusammen. Da gab es Fachbücher auf Russisch und Böll auf Vietnamesisch (letztere mussten aus Angst vor Flöhen immer erst auf der Warenrampe in Quarantäne). Es gab Buchhändler aus der UdSSR, die Humboldt-Uni war nah und Westberlin ebenso, weshalb die Buchhandlung auch als Schaufenster der DDR dienen sollte. Alles war aus hellem Holz, großflächig verglast und großzügig angelegt. Viele Kunden kamen, um ihren Zwangsumtausch in Bücher anzulegen, und es gab eine Kasse an der zum Kurs 1:1 mit D-Mark bezahlt werden konnte. Das IB belieferte Bibliotheken und Botschaften. Die Amerikanische Botschaft schickte jedes Jahr kalifornischen Cabernet Sauvignon als Dankeschön – ein für unseren damaligen Geschmack fürchterlich saurer Wein. Und die russischen Kollegen gingen manchmal mittags rüber in die Botschaft Unter den Linden und holten aus der Kantine große Tüten mit noch warmen Gebäck.

Können Sie bestätigen, dass die Internationalen Buchhandlungen eine privilegierte Stellung hatten und aufgrund ihres Sortiments in der DDR besonders beliebt waren?

Ganz klar ja. Während viele Buchhandlungen einmal in der Woche beliefert wurden, traf im IB täglich neue Ware ein. Nur leider reichten die gelieferten Exemplare pro Titel oft nicht einmal aus, um alle Bibliotheken und Kollegenbestellungen zu erfüllen. Als ich im August 1989 anfing sollten die Erinnerungen von Pu Yi, Chinas letztem Kaiser, erscheinen. Der Bertolucci-Film war gerade wie ein Straßenfeger durchs Land gerollt und so war die Nachfrage riesig. Zweimal am Tag fragten manche Kunden, ob das Buch denn schon da sei. Als es kam (sieben Exemplare) knobelten wir dann aus, wer den Kunden sagt, dass es schon durch sei. Das war keine schöne Aufgabe. Vor der Buchhandlung stand immer eine lange Schlange. Denn auch hier galt: Kein Rundgang ohne Korb!

Mauerfall im November 1989, Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im Juni 1990, deutsche Einheit am 3. Oktober 1990. Wie erinnern Sie sich an diese turbulenten Monate im Buchhandel?

Es ging alles wahnsinnig schnell und war viel zu komplex, um es hier in Kürze festzuhalten. Ich erinnere mich daran, dass wir am 4. November am Fenster standen und die Demonstration zum Alexanderplatz ziehen sahen. Erst nach Schichtschluss reihten wir uns ein. Und am 10. November wurde die Buchhandlung trotz durchgefeierter Nacht natürlich pünktlich geöffnet. Den 3. Oktober verbrachte ich in einem Pub an der Westküste Irlands und vor der Währungsunion stapelten sich im Tresor Kleingeldrollen, da dieses erstmal weiterhin im Umlauf war und zwar zum Kurs 1:1, was das Geschäftskapital stärkte. Die Frage, welchen Rabatt die Buchhandlung denn z.B. beim Aufbau Verlag bekam, war gar nicht so schnell zu beantworten und führte erstmal zu hektischen Aktivitäten der Einkaufsabteilung. Und die Frage, ob denn nun noch ausgeliefert wird, was bestellt war – das waren ja oft Mondzahlen (1000 Exemplare bestellt = 80 Stück geliefert) trieben uns plötzlich Schweißperlen auf die Stirn.

Nach der Wende war der Hunger nach Lesestoff groß, der zu DDR-Zeiten verboten oder nur schwer zugänglich war. Die Geschäfte im Buchhandel florierten. Können Sie sich erinnern, was damals besonders stark nachgefragt wurde?

Bahros „Alternative“ ebenso wie die Protokolle des Politbüros, Schriften von Basisdruck fallen mir als erstes ein. Später dann westlicher Mainstream von Wimschneider über Cardella, Tolkien und Fromm bis zur „Möwe Jonathan“. Viele Leser ergänzten ihre Sammlungen von Grass und Lenz bis Orwell mit einigen ausgewählten Titeln, dafür hatten wir KV-Kataloge; sprich: die Barsortimentskataloge von Köhler & Volkmar, damals fest gebunden und auf Papier gedruckt. Die Bestellungen gaben wir telefonisch auf, was oft am völlig überlasteten Telefonnetz scheiterte. Anfangs fuhren wir auch nach Westberlin, um Bestellungen direkt aufzugeben. Bei der VAH Jager war ich mal persönlich, die schauten ganz schön erstaunt drein ob dieses Bestellweges.

Um Westtiteln Platz zu machen, haben viele Buchhandlungen nach der Währungs- und Wirtschaftsunion ihre DDR-Bestände leer geräumt. Wie war das bei Ihnen?

Geräumt haben wir auch reichlich und aussortiert. Allerdings hatte das „Internationale Buch“ viel internationale Kundschaft, da waren die DDR-Bestände durchaus noch gefragt. Klemperes „LTI“ kostete bei Reclam Leipzig 2,50 Mark, die erste Nachwendeauflage dann circa 16 Mark. Das war schon ein Unterschied als der Staat zu jedem verkauften Buch nicht noch was drauflegte. Hatten wir zuvor 500 Stück geordert, stellte sich jetzt die Frage ob wir fünf nehmen sollten und ob diese einen Käufer finden würden. Wo früher die Abteilung Gesellschaftswissenschaft im Erdgeschoss gewesen war, wurde nun eine Taschenbuchabteilung eingerichtet, dazu Berlin-Literatur und es gab Neue Medien gleich im Kassenbereich. Die fremdsprachigen Titel wurden reduziert und das Fachbuch ausgebaut. Die unaussprechlichen russischen Originale zu verkaufen war wohl das schwierigste Unterfangen.

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Der ausgebildete Koch Holger Brandstädt (geb. 1966) fing im September 1989 als ungelernte Kraft im „Internationalen Buch“ in der Spandauer Straße in Berlin/Mitte an. Eingestellt wurde er von Gerald Nußbaum, dem damaligen Direktor des Ostberliner Volksbuchhandels, der zu DDR-Zeiten unter dem Namen „Berliner Buchhandelsgesellschaft“ firmierte. 1989 gehörten circa 64 volkseigene Buchhandlungen zum Verbund.

Nußbaum trug sich bereits früh mit dem Gedanken, mit einem starken, westdeutschen Partner zu fusionieren. Nach Verhandlungen mit Thomas Grundmann von der Bouvier Buchhandelsgruppe in Bonn entstand im Juli 1990 die „Berliner Buchhandelsgesellschaft Bouvier und Nicolai“ GmbH (BBN), die sich die interessantesten Objekte der ehemaligen Hauptstadt der DDR sicherte. Unter den ehemaligen Renommierläden wie „Universitätsbuchhandlung“, „Kunstsalon unter den Linden“, war auch das „Internationale Buch“, wo Holger Brandstädt beschäftigt war. Er absolvierte 1990/91 in Bonn und Köln bei Bouvier diverse Praktika; zeitgleich machte er per Fernstudium seinen Abschluss als Buchhändler. Im August 1992 kam das Einsehen, dass sich die BBN überhoben hatte. Die vermeintlichen Filetstücke des Ostberliner Buchhandels hatten sich als nicht lukrativ genug erwiesen. Die meisten Buchhandlungen der BBN machten dicht; lediglich zwei konnten im Rahmen eines Management-Buy-Out an ehemalige Mitarbeiter verkauft werden.

Nach dem Zerfall der BBN ging Holger Brandstädt zur „Wohlthat’schen Buchhandlung“ GmbH, bei der er zuletzt als Filialleiter in Berlin/Friedrichshagen beschäftigt war. Im Oktober 2001 übernahm er in Ueckermünde die traditionsreiche „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“.

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Mein Dank gilt allen, mit denen ich mich bislang habe austauschen dürfen. Ich würde mich freuen, wenn sich weitere Zeitzeugen einfänden, um das eine und andere aus der eigenen Erfahrung zurechtzurücken und/oder Lücken zu schließen.

 

„Wir waren doch keine Dealer!“ Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Nach Sommerpause, Sommerflaute und Sommerhitze geht es hier mit dem Vorhaben weiter, auf den Buchhandel in der DDR zurückzuschauen. Im Unterschied zu den DDR-Verlagen fand er ja im Rahmen der zeithistorischen Forschung bislang wenig Beachtung. Dietrich Löffler, der sich mit dem Funktions- und Strukturwandel des Buchhandels der DDR beschäftigt hat, hält es aufgrund der Quellenlage sogar für möglich, dass sich die Vorgänge heute nur noch über Berichte von ehemaligen Mitarbeitern rekonstruieren lassen.

Meinen hier publizierten Versuch, die Bedingungen des sozialistischen Literaturvertriebs und den Strukturwandel des ostdeutschen Buchhandels infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Die besagte Skizze – auf magerer Quellenlage entstanden – mag hierbei vielleicht einige Denkanstöße bieten.

… ich wollte einfach Erinnerungen provozieren. Die meisten unserer Erinnerungen liegen ja versteckt und sind nicht willentlich heraufzubeschwören; es bedarf eines Anstoßes von außen, einer bestimmten Geste, eines bestimmten Wortes, eines bestimmten Bildes, um sie ins Bewusstsein heraufzuholen. (Franz Fühmann, Böhmen am Meer)

Mein Dank gilt allen, mit denen ich mich bislang habe austauschen dürfen. Ab sofort werde ich die Gespräche in loser Folge dokumentieren. Den Anfang macht die ehemalige Volksbuchhändlerin Heike Wenige, die sich zum Vorhaben selbst bereits zu Wort gemeldet hat. Heute erinnert sie sich an ihre Lehrjahre im volkseigenen Buchhandel ab 1986. Teil 2 unseres Gesprächs dreht sich um ihre Erfahrungen nach der Wende.

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Heike, warum wolltest du Buchhändlerin werden?

Das ist nach 27 Berufsjahren mittlerweile eine schwer zu beantwortende Frage… Damals wollte ich das wirklich sehr gerne. Ich komme aus einer Buchhändler- und Antiquariatsfamilie, das prägte die Liebe zum geschriebenen Wort, zum Buch.

Den praktischen Teil deiner Ausbildung hast du in der „Akademischen Buchhandlung für Montanwissenschaften“ im sächsischen Freiberg absolviert. War das dein Wunschbetrieb?

Den Ausbildungsbetrieb legte der Volksbuchhandel fest, da gab es nicht viel zu wünschen. Als jugendlicher Leser war ich eher in der anderen Buchhandlung meiner Stadt Stammgast, das war aber auch örtlich bedingt. Ich habe mich damals sehr über die Zusage gefreut. Lehrstellen im Buchhandel waren damals rar. Meiner Erinnerung nach gab es im gesamten Bezirk Karl-Marx-Stadt im Jahr 1986 nur zehn davon.

Wo bist du während deiner Lehre zur Schule gegangen?

Die theoretische Ausbildung fand in Leipzig an der Buchhändlerschule statt. Sie unterstand damals dem Direktor Härtling. Unsere Klasse besuchten Lehrlinge aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden und Leipzig. Genauso wie heute wurde im Block unterrichtet. Zu meiner Zeit ging es dort schon ziemlich liberal zu.

Was war in Leipzig anders als in deinem Ausbildungsbetrieb?

Heike Wenige © Marco Borrmann

Heike Wenige © Marco Borrmann

Die Zeit in Leipzig unterschied sich wesentlich von der praktischen Ausbildung in Freiberg. Man hatte sehr viel mehr freie Zeit zur Verfügung, da die Schule jeden Tag um ein Uhr aus war. Untergebracht waren wir in einer schönen, aber sehr baufälligen Villa in Gohlis. Wir lebten das typische Mädcheninternatsleben, wie viele andere auch. Aber Leipzig bot uns eben eine ganze Menge – vor allem Theater (wir bekamen die Eintrittskarten vergünstigt), Kino, Oper, Museen… Unsere „Ausgangszeiten“ wurden bis zur letzten Minute ausgeschöpft. Eine wunderbare Zeit!

Gab es etwas, woran du als Lehrling besonders Anstoß genommen hast?

Eigentlich nicht. Außer den Schließzeiten des Internats vielleicht, fällt mir nichts Schwerwiegendes ein. Die Lehrzeit fiel mir sehr leicht. Neben den geforderten Buchbesprechungen, Hausarbeiten und dem Lernen der Fachtermini musste ich nicht allzu viel machen.

Auf was wurde während deiner Ausbildung besonders großen Wert gelegt?

Etwas, was ich heute sehr vermisse – umfassende Allgemeinbildung, die uns hauptsächlich in der theoretischen Ausbildung vermittelt wurde. In der Praxis war es unter anderem auch sehr wichtig, dass man Autorenkenntnisse und literarisches Wissen hatte und sich bei den Verlagsprofilen auskannte. Es gab auch einen sozialistischen Berufswettbewerb unter den Lehrlingen. Dieser Wettbewerb wurde nach den Benotungen und der Anzahl der angefertigten Buchbesprechungen entschieden. So kam man vierteljährlich zu einer Prämie ohne viel Aufheben dafür machen zu müssen.

Welchen Anteil hatte die Staatsbürgerkunde im Rahmen deiner Ausbildung?

In der Praxis gar nicht. Und in der Theorie wurde eigentlich nur Stoff vermittelt, der aus der allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule sowieso schon bekannt war. Wie ich hier schon einmal gesagt habe: 1986 waren in der DDR andere politische Zeiten angebrochen.

Was war während deiner Lehrzeit buchhändlerische Pflichtlektüre?

Ich habe nachschauen müssen: Pflichtlektüre im Sinne einer Literaturliste gab es nicht. Man musste Buchbesprechungen machen und die waren gemischt aus eigens gewählter Lektüre und solchen Büchern, die der Lehrausbilder aus dem aktuellen Sortiment für wichtig hielt. Diese Titel wurden unter anderem dann auch den Mitarbeitern im Ausbildungsbetrieb vorgestellt. Es gab einen Leseplan, der dem Lehrling, dem Ausbilder und der Schule eine gewisse Auswahl vorschrieb, das wurde aber eher großzügig gehandelt. Man musste beispielsweise sich je eine Neuerscheinung aus der Verlagen Neues Leben, Mitteldeutscher Verlag, Aufbau Verlag, Hinstorff und Verlag Volk und Welt auswählen und besprechen.

Welche Bedeutung hatten die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ und das „Statut für den Volksbuchhändler“ in deinem buchhändlerischen Alltag?

Nominell waren die beiden Verordnungen während meiner Ausbildung und der sich daran anschließenden Tätigkeit in der „Akademischen Buchhhandlung“ bis zur Wende sicherlich von Bedeutung. Aber dass ich bewusst danach gehandelt hätte, daran kann ich mich nicht erinnern. Die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ zumindest wurde in der theoretischen und praktischen Ausbildung ausführlich behandelt. An das „Statut für den Volksbuchhändler“ kann ich mich überhaupt nicht erinnern.

Kannst du bestätigen, dass der Volksbuchhandel eine erzieherische Funktion hatte und dementsprechend auch in der Pflicht stand, politisch genehme „Schwerpunkttitel“ an den Mann und die Frau zu bringen?

Zu meiner Zeit galt das wahrlich nicht mehr.

Nach der bestandenen Lehre hat dich dein Ausbildungsbetrieb übernommen. Warst du mit dieser Entscheidung glücklich?

Ja sehr! Die „Akademische Buchhandlung“ in Freiberg  war (und ist) eine sehr angesehene Buchhandlung und die Mitarbeiter sind zum Teil Freunde geworden, mit denen man auch die Freizeit verbrachte. Die Übernahme des Marxismus-Leninismus-Sortimentes war natürlich nicht mein Wunsch. Das war wohl eher dem Umstand geschuldet, dass die dafür Verantwortliche, die Mitglied der Partei war, entlassen wurde.

Waren zu deiner Zeit Schriften des Marxismus-Leninismus überhaupt noch gefragt?

Ich habe gerade unser riesiges Lager im Keller vor Augen, das mit all den roten Bänden gefüllt war. Nach meiner Lehre wurde es allerdings wieder spannend (zumindest für meinen damaligen studentischen Freundeskreis), sich diese Literatur zuzulegen…

Wichtig war die Planerfüllung. Aber auch der Umsatz von Parteiliteratur und Importbuch musste stimmen. Wie wurde in eurem Betrieb verfahren, wenn absehbar war, dass der Plan nicht erfüllt werden konnte?

Ganz einfach – die Parteigenossen wurden angeschrieben, dass die zugeteilte Literatur doch bitte abzuholen sei. Das kam offenbar einer Parteirüge nahe… Und der sonstige Plan wurde recht ähnlich erfüllt. Man schrieb Rechnungen, etwa an die Adresse der diversen Vertriebsmitarbeiter, die im Namen unserer Buchhandlung in Betrieben und anderen Einrichtungen Bücher verkauften.

Idealerweise waren leitende Stellen mit SED-Mitgliedern besetzt. Wie präsent war die Partei in deinem Betrieb?

In unserem Kollektiv gab es lediglich eine Mitarbeiterin, die der SED angehörte – und das war ziemlich unsichtbar. Meiner Erinnerung nach verließ sie die Frühstücksrunde immer dann, wenn die politische Diskussion zu heftig oder Unmut zu laut geäußert wurden.

Wie sah eure Zusammenarbeit mit der Bezirksdirektion des Volksbuchhandels aus? Und wie mit der Zentralen Leitung des Volksbuchhandels?

Dazu kann ich nichts sagen. Unsere Buchhandlungsleiterin informierte nur regelmäßig über Gespräche.

Habt ihr als Mitarbeiter diese Funktionäre überhaupt jemals zu Gesicht bekommen?

In der Buchhandlung nicht, aber zu offiziellen Terminen für die Lehrlinge schon.

Welche Titel waren während deiner Zeit besonders schwer zu beschaffen und welche lagerten wie Blei?

Ach, das kann man gar nicht so einfach beantworten, eigentlich gar nicht im Detail. Zum Beispiel waren Bücher von Christa Wolf und von Christoph Hein gefragt. Dafür lagen andere zeitgenössische Autoren im Laden, zu denen ich keine Namen mehr parat habe. Die „Edition Neue Texte“ aus dem Mitteldeutschen Verlag fällt mir in diesem Zusammenhang ein. Wobei es da auch manche Entdeckung gab.

Bückware. Gingen in eurem Betrieb auch Bücher unter der Ladentheke weg? Erinnerst du dich noch daran, was besonders begehrt war?

Begehrt war alles, was nicht im Laden stand! Unsere Chefin hatte einen Schrank in ihrem Büro, wo die begehrten Schätze lagerten. Angefangen vom Kinderbuch über das Kochbuch bis hin zu populären Autoren und bibliophilen Ausgaben. Nicht zu vergessen Importware, etwa vom Diogenes Verlag, die ebenfalls ausschließlich von der Chefin höchstpersönlich verteilt wurde.

Wie haben eure Kunden reagiert, wenn Wunschlektüre partout nicht lieferbar war?

Man lebte in einer Mangelwirtschaft und war es gewöhnt, nicht alles zu bekommen, was man wollte.

Wie lief das mit den Vorbestellungen?

Davon hatten wir dicke Stapel in der Buchhandlung. Unparteiisch ging es bei der Verteilung nicht immer zu. Da hieß es beispielsweise „Das ist mein Zahnarzt“ und „Das ist mein Fernsehmechaniker“. Oder „Da bekommen wir Eintrittskarten für…“, aber auch „Die hat jetzt das dritte Kind bekommen – die sollten wir bedenken“ oder „Der braucht das für sein Studium“. In unserem Wareneingangskeller gab es häufig viel zu Lachen. Und manches Mal war man einfach überglücklich, wenn das Zettelchen bedacht wurde, auf dem der eigene Namen stand, obwohl der Stapel der gelieferten Vorbestellungen arg klein war. Einmal habe ich vorsichtig nach einem Märchenbuch nachgefragt. Dafür bekam ich im Schuhladen dann die dringend benötigten Winterstiefel…

Das Buch war nicht nur eine begehrte Ware, sondern auch ein beliebtes Tauschobjekt. Hat das auch das Image des Buchhändlers beeinflusst?

Der Buchhändler galt zu DDR-Zeiten als Intellektueller, als ein politisch aufgeschlossenes Mitglied der Gesellschaft. – Nein, wir waren doch keine Dealer!!

Woran erinnerst du dich besonders gerne in dieser Phase zwischen 1986 – 1989?

An den fast täglichen Wandel, an offene Worte, an verbotene Meetings und Demonstrationen, an Plakate malen, an ein Miteinander.

Hat dich die Wende überrascht?

Nein.

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Heike Wenige (geb. 1969) wurde nach einer buchhändlerischen Lehre 1986 – 1988 von ihrem Ausbildungsbetrieb, der „Akademischen Buchhandlung für Montanwissenschaften“ in Freiberg, übernommen. Nach der Vereinigung führte Barbara Hackel, die den Buchladen seit 1972 leitete, den ehemals volkseigenen Betrieb in die Selbstständigkeit. 1992 wechselte Heike Wenige von dort nach Chemnitz in den Buchladen einer Freundin. 1994 kehrte sie nach Freiberg zurück, wo sie im November ihren Taschenbuchladen eröffnete.

Ich würde mich freuen, wenn sich weitere Zeitzeugen einfänden, um das eine und andere aus der eigenen Erfahrung zurechtzurücken und/oder Lücken zu schließen.

Die Situation der Druckereien. Ein Gastbeitrag zum Buchhandel in der DDR von André Gottwald

Druckereien © Uwe Kalkowski

Druckereien © Uwe Kalkowski

In der Beitragsfolge zum Buchhandel in der DDR wurde wiederholt auf die schwierige Lage bei der Beschaffung der Bücher hingewiesen. Ich möchte aus persönlicher Sicht meine Erfahrungen aus der DDR-Druckindustrie der 1980er Jahre schildern.

Leider bin ich nicht in der Lage, einen historischen Abriss zu liefern. Nachfolgende Anmerkungen resultieren nur aus meinen persönlichen Erfahrungen. Mir liegen leider keine Unterlagen vor und ich muss mich auf mein Gedächtnis verlassen. Ergänzungen und Korrekturen wären also sehr willkommen.

André Gottwald

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Ich arbeitete in dieser Zeit (1980-1989) erst als Lehrling, dann als Drucker und schließlich als Ingenieur im Graphischen Großbetrieb Interdruck in Leipzig. Dieser Betrieb war meines Wissens der größte polygraphische Betrieb in der DDR (2.400 Mitarbeiter), aber wohl nicht der größte Buchhersteller. Die meisten Bücher dürften wohl im Karl-Marx-Werk Pößneck hergestellt worden sein. Diese Firma existiert übrigens heute noch als GGP Media Pößneck und gehört zur Bertelsmann-Gruppe. Interdruck entstand durch die Zusammenlegung vieler historischer Druckbetriebe und Bindereien in Leipzig: Oskar Brandstätter, C. Fikentscher, den Druckereien von Reclam und des Bibliographischen Instituts u.v.a.m. Im ganzen waren es über 30 Betriebstätten, in denen vom Möbeldekor für Spanplatten über Bücher bis zur Farbenherstellung (Keilitz Künstlerfarben) so ziemlich alles gefertigt wurde, was mit der Polygraphie im Zusammenhang stand. Wer die Fernsehserie „Soko Leipzig“ gesehen hat, kennt das Reclamgebäude in der Inselstraße 22 als Polizeirevier. Zu DDR-Zeiten war dort eine der Buchbindereien von Interduck untergebracht.

Andrés erster Arbeitsplatz bei Interdruck © André Gottwald

Andrés erster Arbeitsplatz bei Interdruck © André Gottwald

Zurück zur Situation in den achtziger Jahren: Die meisten Druckereien der DDR waren keine volkseigenen Betriebe, sondern in Parteibesitz. Das meint nicht nur die SED, sondern auch die sogenannten Blockparteien wie CDU oder LDPD. Die Organisationsform war die „Vereinigung organisationseigener Betriebe“, kurz VOB. Die größte davon war natürlich die der SED, die Zentrag, zu der auch Interdruck gehörte. Die Organisation in VOB statt VEB hatte neben der juristischen große praktische Bedeutung: bei Berichterstattung, Investitionen und Vergünstigungen für die Beschäftigten waren die Betriebe gegenüber normalen volkseigenen Betrieben vielfach privilegiert. Die technische Ausstattung der großen Druckbetriebe war gut bis sehr gut, allerdings der Gebäudebestand vielfach in schlechtem Zustand und vernachlässigt. Da der polygraphische Maschinenbau (Planeta [Bogenmaschinen], Plamag [Rollenmaschinen], Brehmer [Buchbindereimaschinen]) ein hohes Niveau hatte war die Ausstattung vielfach auf modernem Stand und gerade die Umstellung von Buchdruck auf Offsetdruck anfangs der achtziger Jahre ging in der DDR schneller vonstatten als in der Bundesrepublik.

Da zudem ein hoher Anteil der Druckleistungen exportiert wurde (ca. 20-30 %) gab es auch die finanzielle Möglichkeit, westliche Technik und Papier zu importieren. Bei Interdruck war z.B. Technik von Hell, Linotype, Kochsiek und Albert-Frankenthal zu finden. Trotzdem reichten die Kapazitäten für den Bedarf nie aus, da es viele Ersatz- aber wenige Erweiterungsinvestitionen gab, sprich: es wurden keine neuen Druckereien gebaut und die bestehenden nur sehr zögerlich erweitert. Es fehlte an Baukapazitäten. Die Kapazitätsauslastung der Druckereien war deshalb immens hoch. Maschinenstillstände wegen Materialmangels wie andernorts waren unbekannt. Die Maschinen liefen in drei Schichten und es war trotzdem immer zu wenig. Verlässliche Zahlen habe ich leider nicht, aber bei Interdruck wurden ungefähr pro Jahr 3.000 Titel mit einer Gesamtauflage von 50 Mio. Exemplaren produziert. Darunter aber ein hoher Anteil von Schulbüchern, hauptsächlich für den Export in die Sowjetunion. Die russische Lesefibel für die Unterstufe hatte z.B. eine Jahresauflage von 1 Mio. Exemplaren.

Ausgehend von der hohen Kapazitätsauslastung gab es immer einen sehr langen Planungsvorlauf. Es konnte sehr zum Leidwesen der Verlage durchaus sein, dass eine Neuerscheinung zwei Jahre auf freie Kapazitäten warten musste. Normal war, dass zum Ende eines Jahres das Folgejahr komplett verplant war. Das heißt, man konnte im Januar schon sehen was im Dezember gedruckt werden würde. Für die heutige Druckindustrie unvorstellbar. Heutzutage gibt es einen Planungsvorlauf von vielleicht zwei Monaten. Das Prozedere bei der Planung lief ungefähr wie folgt ab: im Ministerium für Kultur wurden die Mengen an verfügbarem Papier und Druckkapazität erfasst und auf die Verlage aufgeschlüsselt. Wie die Verteilung vonstattenging entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß allerdings, dass es ein heftiges Tauziehen und Feilschen war. Auf jeden Fall waren der Dietz-Verlag (Parteiverlag der SED), der Militärverlag und der Verlag Volk und Wissen (Schulbücher) privilegiert. Der Verlag also beschloss nach erfolgter Druckgenehmigung, einen Titel erscheinen zu lassen. Ohne eine Druckgenehmigung, die in Form einer Art Urkunde vorlag, durfte keine Druckerei ein Buch produzieren. (Für Akzidenzen gab es eigene Regeln.)

Brigadeabend in der firmeneigenen Kegelbahn © André Gottwald

Brigadeabend in der firmeneigenen Kegelbahn © André Gottwald

Auf jedem Druckerzeugnis war aber die Nummer der produzierenden Druckerei zu vermerken. Die Nummer von Interdruck lautete III/18/97. (Sie können diese Nummer im Impressum eines von Interduck gedruckten Buches finden.) Die Auflagenhöhe richtete sich dabei nach dem zur Verfügung stehenden Papierkontingent. Die Aufteilung des Kontingents sorgte immer für lebhafte Diskussionen. Die Druckerei hatte dabei nur am Rande Mitspracherecht. Allerdings gab es da auch Möglichkeiten jenseits der Unmöglichkeiten. Jeder Druckereichef hatte natürlich Vorräte gehortet. Jeder Betrieb hatte Vorräte gehortet. Man konnte ja nie wissen, was man plötzlich brauchen würde. Allerdings hielt sich das alles in Grenzen, der grundlegende Mangel konnte nie behoben werden. Die Ursache dafür war die faktische Aushebelung des Preismechanismus zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage und natürlich die fehlende konvertible Währung, so dass man sich nicht auf dem Weltmarkt bedienen konnte. Es gab in geringerem Umfang auch Papierimporte, vor allem aus Finnland. Nach welchen Maßgaben das erfolgte, ist mir unbekannt. Auf jeden Fall konnte das nicht der Verlag oder die Druckerei entscheiden, sondern nur die Zentrag bzw. die zuständige Abteilung im ZK der SED.

Nach Klärung der hochsensiblen Papierfrage kam die Zuweisung der Druckkapazität. Auch hier waren Verlag und Druckerei nicht frei in ihrer Entscheidung. Die Zuweisung erfolgte wohl hauptsächlich nach den technischen Möglichkeiten und nach einer gewissen regionalen Präferenz, also z.B. Leipziger Verlage zu Leipziger Druckereien. Ferner gab es politische Erwägungen. SED-Parteiliteratur wurde natürlich nur in SED-Parteibetrieben gedruckt. Bei Interdruck war es ein buntes Gemisch. Aufgrund der technischen Ausstattung wurde wenig Belletristik gedruckt. Der Hauptanteil entfiel auf Schul- und Sachbücher, Bildbände, Kochbücher und ähnliches im Vierfarbenbereich. Die hochwertige Belletristik wurde hauptsächlich bei Offizin Andersen Nexö in Leipzig gedruckt. Allgemeine Belletristik in Pößneck und Taschenbücher beim Graphischen Großbetrieb Völkerfreundschaft in Dresden. Der Betrieb Sachsendruck in Plauen hatte sich auf hochwertige Bildbände spezialisiert. Daneben gab es auch noch andere spezialisierte Betriebe wie H.F. Jütte für Kunstdrucke, den Diagrammdruck Quedlinburg und den Vordruckleitverlag in Spremberg und Freiberg für Formulare, Haack in Gotha für Landkarten usw. Neben den produktspezialisierten Druckereien gab es in jedem der 15 DDR-Bezirke und für die zentrale Zeitung „Neues Deutschland“ eine Zeitungsdruckerei. Diese Zeitungsdruckereien produzierten nebenbei immer auch andere Erzeugnisse. Die Druckerei des Neuen Deutschland zum Beispiel Zeitschriften, die Druckerei der Leipziger Volkszeitung hochwertige Broschuren. Vor 1989 dürfte mindestens ein Drittel der Diogenes-Taschenbücher aus Leipzig gekommen sein. Das hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass in der Leipziger Mehringbuchhandlung ab und zu einige Diogenes-Taschenbücher auftauchten, die natürlich immer gleich wieder vergriffen waren.

die Broschüre zum Honecker-Besuch 1977

die Broschüre zum Honecker-Besuch bei Interdruck 1977

Nach Zuweisung der Papier- und Druckkapazität erfolgte die eigentliche Planung, in der Regel für das Folgejahr. Weniger privilegierte Verlage durften auch schon einmal länger warten. Vor allem die kleineren Verlage wie der Greifenverlag in Rudolstadt oder die christlichen Verlage waren davon betroffen, aber das hatte kein System. Sie rutschten einfach auf der Prioritätenliste nach hinten. Denn es gab privilegierte Buchkategorien. Die oberste und wichtigste Kategorie waren „Beschlusstitel“. Das heißt für die Produktion eines solchen Titels war ein Beschluss des Politbüros oder des ZK der SED gefasst worden. Der entsprechende Titel hatte dadurch höchste Priorität und wurde auf jeden Fall, zur Not durch Verschiebung anderer Titel, termingemäß produziert. Gegebenenfalls wurde das notwendige Papier importiert. Nach dem Besuch Honeckers bei Kohl 1987 wurde binnen einer Woche eine Broschüre mit einer Auflage von 150.000 Expl. auf Importpapier produziert. Unter dieser Praxis hatten natürlich die anderen Verlage durch Verschiebung ihrer Titel zu leiden.

Die nächstniedrige Kategorie war der devisenbringende „NSW-Export“ (NSW= nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet). Da die westlichen Verlage sich natürlich nicht dem DDR-Planungsschema unterordneten konnte es im Lauf des Jahres passieren, das ungeplante Titel hereinkamen. Da sie wegen der Devisen Priorität hatten, mussten die einheimischen Verlage wieder leiden. Exportiert wurde in verschiedene Länder. Bei Interdruck hauptsächlich in die Bundesrepublik (Springer Wissenschaft, Harri Deutsch, Dumont Reiseführer u.a.), die Niederlande (Meulenhoff) und Großbritannien (Thames & Hudson). Die nächste Kategorie war SW-Export (sozialistisches Wirtschaftsgebiet). Hier gilt das gleiche wie bei NSW-Export, nur eine Stufe niedriger. Zielländer waren hauptsächlich die Sowjetunion und Polen. Bei der nächsten Kategorie „Schönstes Buch“ konnten dann auch inländische Verlage profitieren. Bei Titeln dieser Kategorie handelte es sich um Anwärter auf die jährliche Ausstellung „Schönste Bücher aus aller Welt“ und die in größeren Abständen abgehaltene Internationale Buchkunst-Ausstellung. Die Titel wurden in Sachen Termintreue und Materialeinsatz bevorzugt behandelt. Typische Verlage für solche Titel waren E.A. Seemann, Edition Leipzig, Aufbau und der Henschel-Verlag. Ein Beispiel für ein solches Buch ist „Kunstmetropole Berlin 1918-1933“ vom Aufbau-Verlag. Ein schöner Text-/Bildband im seltenen Illustrationstiefdruck. Im Antiquariat ist es noch zu haben.

aus der Honecker-Broschüre © ADN-ZB

aus der Broschüre zum Honecker-Besuch © ADN-ZB

Die verschiedenen Kategorien wurden auf den Auftragsunterlagen vermerkt, so dass jeder Mitarbeiter um die Dringlichkeit wusste. Nach diesen vier Vorzugskategorien reihten sich alle anderen Titel ein. Diese normalen Titel waren aber immer die Leidtragenden bei den ständigen Engpässen, die sich durch die permanente hundertprozentige Kapazitätsauslastung ergaben. Dadurch entstanden auch immer wieder zum Teil langfristige Terminverzögerungen, denn der Planungsrahmen war immer der Monat. Eine Verschiebung eines Titels bedeutete nämlich in der Regel, dass er komplett neu eingeordnet werden musste. Das heißt, ein Titel der nicht bis zum 31. geliefert werden konnte rutschte nicht um ein oder zwei Tage nach hinten sondern um einen Monat oder auch zwei. Das führte natürlich zu viel Verdruss bei Verlagen und Buchhandel. Es war ein Problem, das bis zum Ende der DDR nicht bewältigt wurde.

Anders als es heute üblich ist, war Interdruck ein Kompletthersteller inklusiv der Satzherstellung und (Bild-) Lithographie (Begriff in der DDR: Reproduktion). Die Fertigung erfolgte ab Eingang des Maschinen- oder Handschriftmanuskripts und der Bildvorlagen bis zum fertigen Buch in einem Betrieb. Es war sogar möglich (und ist auch gemacht worden) vom Gemäldeoriginal zu reproduzieren. Die reine Fertigungszeit variierte je nach Schwierigkeit zwischen drei und sechs Monaten. Das ist deutlich mehr als heute möglich und üblich. Es lag vor allem daran, dass sehr intensiv Korrektur gelesen wurde. Es gab mehrere Korrekturgänge: 1. Hauskorrektur in der Setzerei, 2. Korrektur durch den Verlag und den Autor, 3. Ausführen der Korrekturen mit anschließender Hauskorrektur, 4. Gegenlesen durch Verlag/Autor und dann schließlich die Druckfreigabe (Imprimatur). Je nach Wunsch des Verlages gab es unter Umständen noch einen weiteren Korrekturgang. Das war besonders bei der Marx-Engels-Gesamtausgabe, der Bibliotheca Teubneriana (Sammlung von altsprachlichen Klassikern als Referenzausgaben) und beim Thesaurus Linguae Latinae der Fall. Gerade beim Thesaurus konnte die Fertigung eines Faszikels schon einmal gut und gern zwei Jahre dauern. Es dauerte ja alles sehr lange, weil die Korrekturabzüge immer per Post verschickt werden mussten und ehe das dann von der Setzerei zum Verlag, vom Verlag zum Autor und wieder zurück expediert wurde, gingen die Wochen ins Land.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Probleme der Druckindustrie die gleichen wie sonst im Lande waren: zu geringe Kapazität, zu geringe Investitionen und kein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage wegen gesetzlich festgezurrter Preise. Denn die Preise für Druck- und Buchbinderleistungen waren amtlich festgelegt. Es gab eine Preisanordnung Nr. 334 des Amtes für Preise beim Ministerrat der DDR, nach der alle Leistungen abgerechnet wurden. Der Verlag hatte also nicht die Möglichkeit, einen günstigen Anbieter zu wählen, er bezahlte überall das gleiche. Die Preise wurden übrigens anhand der Produktparameter ohne Berücksichtigung der Fertigungskosten ermittelt. Das bedeutet, dass es für die Druckereien keinen wirtschaftlichen Zwang gab, effektiv zu arbeiten. Die Kosten waren nur eine statistische Größe. Stattdessen erfolgte der notwendige Leistungsdruck durch administrative Maßnahmen und ein ausgedehntes Berichtswesen. Die Produktivität der DDR-Druckindustrie war trotzdem sehr hoch. Sie lag geschätzt bei 80 % des Niveaus in der Bundesrepublik. Das konnte ich feststellen, als ich nach der Währungsunion anhand des Marktgeschehens unsere Preise vergleichen konnte. Allerdings war es verblüffend zu sehen, zu welchen Dumpingpreisen zu DDR-Zeiten die Druckleistungen verschleudert wurden. Ein Wert zum Vergleichen: eine Seite wissenschaftlicher Formelsatz oder altsprachlich gemischt, mit Fußnoten zu einem Preis von 8 DM. In der Bundesrepublik hätte eine solche Seite zwischen 20 und 30 DM gekostet.

die Betriebszeitung

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Die Auslieferung der fertigen Bücher erfolgte entsprechend eines Verteilerschlüssels, der der Druckerei vom Verlag übermittelt wurde. Die Hauptlieferung ging immer an den LKG (Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel). Eine geringe Menge, 20 bis 30 Exemplare gingen an den Verlag als Beleg- und Autorenexemplare. Einen Direktvertrieb über die Verlage gab es in der Regel nicht. Manchmal gab es Teillieferungen an den Buch- und Zeitschriftenvertrieb der Nationalen Volksarmee oder den Zeitschriftenvertrieb der Post.

Die Auflagenhöhen waren sehr unterschiedlich. Das ging von 500 Expl. bei wissenschaftlichen Spezialtiteln bis zu Auflagen von 100.000 Expl. bei Dauerbrennern wie dem Duden, dem Autoatlas, „Rat für jeden Gartentag“ oder „Wir kochen gut“. Ein gutgehender Belletristiktitel wie Erwin Strittmatters „Wundertäter III“ hatte eine Startauflage von 50.000 Expl. Bei den politischen Ladenhütern vom Dietz-Verlag (Willi Stoph „Gesammelte Reden und Aufsätze“) waren die Auflagen in den achtziger Jahren stark zurückgefahren worden. Bei dem genannten Stoph (langjähriger Vorsitzender des Ministerrates der DDR) lag die Auflage nur bei 1.500 Expl. Gelesen hat das außer den bedauernswerten Mitarbeitern im Verlag und dem Setzer niemand. Was natürlich ständig lief waren die Nachauflagen der blauen Marx- und braunen Leninbände. Aber auch da hielten sich die Auflagen in Grenzen. Jeweils 2.000 bis 3.000 Expl. wurden bei Bedarf nachgedruckt.

Beim Ende der DDR waren die Druckereien abgesehen von der Bausubstanz in recht guter Verfassung. Weshalb es auch mit Neubauten auf der grünen Wiese für viele Druckereien nach der Währungsunion erst einmal weiterging. Dass die DDR-Druckindustrie (mit Ausnahme der Zeitungsdruckereien) mittlerweile trotzdem fast verschwunden ist, hat eher Ursachen in den allgemeinen Entwicklungen dieser Branche. Aber das ist ein Kapitel für sich.

© André Gottwald