„Die Gewalt lebt davon, dass sie von Anständigen nicht für möglich gehalten wird“ – Jean Paul Sartre. Gespräche mit ACR (Teil 3)

Aus dem Blogpost „Ein Herz für Kinder!? Oder: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch…“, entwickelte sich ein sehr persönlicher Austausch mit Angela Charlotte Reichel. Gemeinsam haben wir entschieden, unsere Gespräche hier in Fortsetzungen öffentlich zu machen. Ich unterhalte mich mit Charlotte über ihre Erfahrungen als schwer misshandeltes Kind und Jugendliche, über die Folgen und wie wichtig es ist, dass Anständige erfahren, dass es so etwas doch gibt …

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Teil 3: „Charlotte, magst du mir von deinen Eltern erzählen?“

Charlotte, was weißt du über die Entwicklung deines Vaters?

Mein Vater, 1916 oder 1917 geboren, ist Berliner. Er kommt aus einem Beamtenhaushalt. Liebevoller Vater, sehr dominante Mutter. Mein Vater hat zwei Brüder. Im Grunde ein durchaus übliches Bild. Mutters abendliches Lamento über die ungehorsamen Jungs, sorgt ab und an dafür, dass die Drei antreten müssen. Vater fragt: „Wer war das?“ Alle drei treten vor. Der Gürtel des Vaters tut manchmal wirklich weh. Und manchmal zeigt sich der „alte Herr“ milde (die Burschen sollten ja nur ordentlich jammern) und lässt den Gürtel aufs Sofa knallen. Hernach dürfen sie in seiner Joppe aus jeweils einer Tasche eine Überraschung ziehen. (Die gab es täglich, das wurde Hasenbrot genannt.) „Weil wir uns nie gegenseitig in die Pfanne gehauen haben“, erinnere ich mich an die Begründung meines Vaters, wenn er solche Geschichten erzählt hat.

Er hat geheiratet. Dann kam der Krieg. Mein Vater zieht gen Osten, landet in Stalingrad, berittene Truppe, Pioniere. Sehr schwer verwundet, gehört er zu den Letzten, die noch ausgeflogen werden. Aufgrund einer Notlandung kommt er in Gefangenschaft. Lazarett der Russen. Seine Rettung ist ärztliche Kunst für diese Zeit. Ich glaube, er kam 1949 zurück. Geschult für die Zukunft. Genosse.

Als überzeugter Kommunist und mit dem Parteibuch der SED in der Hand?

Ja.

Wurde bei euch zu Hause über den Krieg, Stalingrad und die Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft gesprochen?

Ja, damit bin ich groß geworden. Das waren zwischen meinen Eltern Themen. Die Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend, die Bombenangriffe, Straßenkämpfe, dann die „Befreiung“, mein Vater an der Ostfront. Stalingrad war wie ein Passwort bei uns. Fiel dieses Wort war sogar meine Mutter plötzlich still. Und mein Vater erzählte. Ausgerechnet dann ist Frieden in meine Welt eingekehrt. Ist das nicht unglaublich? Da erzählt mein Papa vom Krieg und der Tag bekam dadurch für mich eine friedliche Note …

Die Kinder im Krieg hätten Tage und Nächte in Todesangst in Kellern sitzen müssen oder wären ins KZ gekommen. So etwas erzählte mir meine Mutter, wenn sie mir vorhielt, wie gut es mir im Vergleich zu ihr ginge.

Wie ging es mit deinem Vater und seiner ersten Ehefrau nach dessen Rückkehr aus russischer Gefangenschaft weiter?

Charlotte 1955 © ACR

Charlotte 1955 © ACR

Seine Ehefrau war ihm fremd geworden, sein Sohn unbekannt, aber wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie arbeiten an ihrer Ehe. Sein Betrieb wird von Berlin nach Sachsen verlegt. (Werkzeugmacher, später Meister. Eine Persönlichkeit. Er ist beliebt bis zu seinem Tod und darüber hinaus.) Er geht mit. Seine Frau löst in Berlin alles auf, zieht mit Sohn nach. So landet die kleine Familie in einem sächsisches Beamtenstädtchen, Bombenschäden, kaum Männer, aber viele Frauen ohne Männer. Mein Vater ist ein schöner Mann.

Und hier kommt meine Mutter ins Spiel. Ein schöner Mann, mit – inzwischen öffentlich bekannt geworden – angeknackster Ehe. Da wollte nicht nur meine Mutter sehen, was möglich ist.

Sie hat ihn sich geangelt?

Ja, sie hatte nichts und wollte wenigstens eine eigene Familie. In der kleinen Stadt sind fast keine Männer und die, die da sind, sehen so aus wie das letzte Aufgebot des Krieges eben aussehen kann. Da entdeckt sie meinen Vater. Sie konnte besser kochen als die anderen und war schlauer, nämlich bald von ihm schwanger. Das war ein Triumph für sie. Scheidung, Heirat, meine Geburt – relativ kurzfristig hintereinander. Na und als sie ihn hatte, war sie die Siegerin und ich der Beweis dafür, dass sie sich einen geangelt hat, der potent ist. Keinen Kriegsversehrten!

Es sollen sie eine Menge Frauen dafür gehasst haben. „Geh‘ doch zu den andern Ziegen, die gedacht haben, sie schnappen dich mir weg!“, schreit sie später oft meinen Vater an. So erinnerte sie sich und ihn an ihre Siegesstunde.

Erzähle mir ein wenig über deine Mutter …

Meine Mutter, 14 Jahre jünger als mein Vater, ist in Leipzig geboren. Stiefvater, ich hörte das Wort unehelich nur ein einziges Mal in dem Zusammenhang. Ihre Mutter ist ohne Liebe, sehr dominant, viele Prügel. Ihre Mutter wirft ihr oft vor, mit Prügel und trocken Brot großgezogen worden zu sein und sie bekomme sogar Milch.

„Du hast es besser als ich“, das hat dir deine Mutter ebenfalls immer wieder vorgehalten …

Ja. Der Krieg machte jedenfalls alle ihre Träume kaputt. Meine Mutter ist wirklich hochtalentiert gewesen, wahrscheinlich hochbegabt, unglaublich eloquent, sie konnte glasklare Gedankenstränge bilden, rhetorisch kreuzgeschickt, Fremdsprachen muss sie nicht lernen, sie hört und kann sie, so wie manch‘ Wunderkind Klavierspielen lernt. Sie erfasst mit den Augen, begreift durch anfassen, kann irgendwie alles, ist Autodidaktin. Sie ist schön, lebhaft, klug.

Eine Kindheit im Krieg; und zwar sowohl innen, innerhalb der Familie,  und außerhalb in Leipzig …

Sie überleben zweimal Bombenangriffe auf Leipzig und verlieren jedes Mal alles. Beim zweiten Mal findet sie ihre Puppe in den Trümmern, die ihre Mutter ein paar Tage später für den Tabak des Stiefvaters eintauscht. Verlust scheint sie zu prägen. Immer wieder erzählte sie mir solche Schlüsselerlebnisse, wenn sie mir später mein gutes Kinderleben vorwarf…

Wie kam die Familie deiner Mutter in jenes sächsische Beamtenstädtchen, in das dein Vater später versetzt wurde?

Flucht vor den Bomben, weg aus Leipzig; jenes kleine Städtchen war das zugewiesene Ziel. Inzwischen muss sie die sehr kranke Mutter pflegen, ernähren. Und dazu den Stiefvater, der mehr raucht als es Tabak gibt, und erst viele Jahre später wieder arbeitet. So hat sie keine Seidenstrümpfe, riecht aber den Tabak.

Genau in den Jahren jedenfalls, die das Fundament für das berufliche Leben bilden, gab es für meine Mutter nichts, was sie mutig hätte in die Zukunft tragen können: Kein Studium, keine Kunst, nichts mit Sprachen, kaum Bücher, sondern ungelernt in die Stanzerei. Bleche stanzen. Später in einem anderen Betrieb anderes. Immer ungelernt.

Was weißt du über ihren Stiefvater, deinen Opa?

Ich weiss nicht mehr, warum er nicht an der Front gewesen ist. Meine Mutter hat ihm immer Feigheit vorgeworfen. Ich erinnere mich an meinen Großvater nur als Gehbehinderten und weiß, er hatte starkes Rheuma. Ihm ist in den 60er Jahren sogar ein Knie versteift worden, deshalb. Nach der Flucht ist er daheim geblieben, bis die Registrierung erfolgt ist, dass er arbeiten muss. Dann war er als Betriebsschutz, heute würde man Pförtner sagen, in dem Betrieb, in dem auch meine Eltern gearbeitet haben.

Wie hast du deinen Opa erlebt?

Ich habe ihn lebhaft in Erinnerung, auch die Mutter meiner Mutter noch sehr gut. Ich erinnere mich an meine Vorschulzeit: Die Beziehung zwischen meinem Opa und meiner Mutter war auffällig von Wut, Zorn und Hass geprägt. Ich habe nur hasserfüllte Seitenhiebe, keine Gespräche zwischen meiner Mutter und ihm gehört. Meist saß er dann einfach nur still da oder lachte mit schräg verzogenem Gesicht und verließ das Zimmer. Nur einmal, in einem Wutanfall schrie meine Mutter plötzlich verzweifelt etwas von ‚Dieses Schwein hat mich angedatscht‘. Schlägt wild auf mich ein und ich wusste in dem Moment, sie schlägt eigentlich meinen Opa …

Hier haben wir diesen „Kreislauf der Gewalt“, der sich über Generationen fortsetzen kann, so man nicht die Kraft aufbringt, den Teufelskreis zu durchbrechen. – Deine Mutter gab ihre Erfahrungen an dich weiter; anders: sie ließ sie an dir aus …

Ja, so kann man das sehen.

Was ist mit ihrer Mutter, deiner Oma?

Meine Oma? Ich kenne sie nur als schwerkranke Frau. Sie lachte nie. Ihre Stimme war hart, unbewegt. Sie drohte oft mit Schlägen, war allerdings zu unbeholfen für die Praxis, sie saß meist. Jede Bewegung oftmals unter enormer Atemnot. Sie musste häufig ins Krankenhaus. Gesine, ich weiss nicht, wie ich es erklären soll. Ich war in den letzten beiden Jahren ihres Lebens tagsüber die Aufsicht meiner Oma. Meine Mutter gab mich dort ab und ich blieb den ganzen Tag bei meiner Oma. Es gab Dinge, die ich zu erledigen hatte. Klappte das nicht mit meinen kleinen Kinderhänden, schlug sie mit der Fliegenklatsche nach mir. Ging es ihr schlechter, (ich wusste, worauf ich diesbezüglich zu achten hatte), musste ich zum Betrieb laufen, meinem Opa, der am Tor Aufsicht hatte, Bescheid sagen. Der rief meine Mutter raus und die hetzte mit mir zu meiner Oma zurück. Lag meine Oma dann einmal wieder im Krankenhaus, konnte ich in den Kindergarten gehen.

Auch von deiner Oma kam für dich keine Zuwendung …

Aber ja doch. Meine Großmutter liebte mich, das fühlte ich. Manchmal streichelte sie mich. Das war sehr viel Liebe für ihre Verhältnisse. Kinder schlagen ist für sie auch Liebe gewesen. In ihrer Gedankenwelt bedeutete das Aufmerksamkeit und Verantwortung. Meine Oma ist gestorben als ich in die erste Klasse ging. Ich erinnere mich an den Tag.

Weißt du etwas über die Ehe deiner Großeltern?

Die Ehe meiner Großeltern? Meine Oma sprach meinen Opa nur mit dem Familienname an. Harte Stimme und nie mit Du – sie rief einfach immer den Familiennamen. Mein Großvater trank immer mehr. War später straffer Alkoholiker. Das war seine Schmach, er wurde missachtet von allen. Immerhin gab es viel Unwissen, niemand wusste, es ist eine Krankheit. Es war mindestens Antipathie, wahrscheinlich sogar Abscheu zwischen den beiden. Irgendwann setzte meine Mutter durch, dass er in ein Pflegeheim kam. Er starb als ich 17 oder 18 war. Ich hatte bis zuletzt zu ihm als Einzige Kontakt. Ich weiss, er fühlte sich schuldig und hatte Angst vor dem Gottesgericht.

Unter einem guten Stern stand die Ehe deiner Eltern wahrlich nicht …

Die Ehe steuerte meine Mutter. Mein Vater ist still, leidet unter Kriegsfolgen. Ich erinnere mich an seine Todesangst, zu verhungern, habe heftige Anfälle erlebt. Außerdem hatte seine schwere Kriegsverwundung Spätfolgen. Granatsplitter, die gefährlich auf die Wirbelsäule zuwanderten. Meine Mutter zerstört den Kontakt zu seinem Sohn. Ich erfahre zufällig mit 7 oder 8 Jahren auf dem Schulweg, dass ich einen Halbbruder habe. Mir wird jegliche Verbindung verboten. Nach 10 Jahren soll ein weiteres Kind die Ehe haltbar machen. Meine Mutter will das so. Ich höre ihre laute fordernde Stimme durch die Wand. Meine Schwester wird geboren. Meine Mutter hat mir das Baby übergeben. Außer Stillen und fein ausfahren, musste ich alles machen, sobald ich daheim war. Sie behauptete, ich hätte mir eine Schwester gewünscht. Ich habe viele Nächte Stubenwagen hin und hergefahren. Himmel, die Kleine hat aber auch keine Nacht durchgeschlafen!

Charlotte, lass uns hier pausieren. – Womöglich vertiefen wir die Situation in deinem Elternhaus in einem unserer nächsten Gespräche noch ein wenig?

Gerne Gesine

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Eine Anmerkung: Die „Gespräche mit ACR“ haben einen eigenen Ort gefunden. Zukünfig setzen wir unseren Austausch lediglich dort fort

4 Kommentare zu “„Die Gewalt lebt davon, dass sie von Anständigen nicht für möglich gehalten wird“ – Jean Paul Sartre. Gespräche mit ACR (Teil 3)

  1. cafegaenger
    9. März 2013 um 06:54 | Antwort

    Die Falle der Vergleiche

    “Die Kinder im Krieg hätten Tage und Nächte in Todesangst in Kellern sitzen müssen oder wären ins KZ gekommen. So etwas erzählte mir meine Mutter, wenn sie mir vorhielt, wie gut es mir im Vergleich zu ihr ginge…”

    Wer geht nicht alles in die Falle der Vergleiche?!
    Besser als, schlauer als, erfolgreicher als, mächtiger als, schöner als …etc.
    und natürlich geht das auch “ganz wunderbar” in die andere Richtung:
    dümmer als, fauler als, hässlicher als, undankbarer als, schlechter als …

    Immer geht es um die Zuweisung eines Ranges, um eine Ordnung zu stabilisieren
    und auszubauen. Dabei geht es um Macht, um das Bedürfnis sich über andere
    zu erhöhen. Mit Liebe hat das wenig bis rein gar nichts zu tun.
    Es wurde und wird, aber als Liebe und Zuneigung deklariert.
    Man wolle ja nur das Beste für das Kind, die Frau, den Mann, das Volk …

    Diese Art von Selbst- und Fremdbetrug, nämlich permanent aufzuspalten,
    in gute & böse Menschen, in das werte und unwerte Leben,
    immer wieder praktiziert, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr,
    installiert Abhängigkeiten und zerstört Existenzen.

    P.S. Danke für die Fortführung dieses Interviews,
    welches ich weiterhin aufmerksam begleiten möchte.

  2. Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass die Menschen keine Scham haben, privateste Dinge im Internet zu veröffentlichen. Allerdings im negativen Sinn.

    Was dort oben veröffentlicht wurde, erzählen sich selbst gute Freunde nur nach Jahren, nachdem es ein sehr tiefes Vertrauensverhältnis gibt.

    Eine Bekannte hat mal nach 5 (!) Jahren erzählt, dass sie zwei Kinder über einen langen Zeitraum in den Tod begleiten musste. Das wusste keiner von uns, obwohl wir uns mindestens einmal die Woche treffen.

    Und im Internet werden die intimsten Dinge ausbreitet, obwohl gar nicht klar ist, wer das alles liest. Unter Garantie wäre da bei einer Gegenüberstellung auch jemand bei, den man total unsympathisch findet.

    • Nachtrag:

      Wobei ich es in diesem Fall noch besonders widerwärtig finde, weil die Persönlichkeitsrechte der Eltern verletzt werden.

      Letztendlich kann sich auch niemand mit dem Seelenmüll fremder Leute beschäftigen und sich aufladen. So außergewöhnlich ist das Schicksal schließlich auch nicht, auch wenn es individuell immer hart ist. Da ist nichts, was man nicht schon öfters gehört hat.

      Entschuldigung, wenn sich das respektlos liest, aber so ist es nun einmal.

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