Klassiker der Weltliteratur. Odessa: Stadt der Literatur (7)

„Es geschah, es geschah in Odessa!“, heißt es überschwänglich in Wladimir Majakowskis frühem Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ (1915). Das ist nicht die einzige Hymne, die Künstler auf die Stadt am Schwarzen Meer gesungen haben. Geprägt vom liberalen Geist und mediterranem Klima hat die Stadt – neben den literarischen Zentren Lviv (früher: Lemberg) und : Ivano-Frankivsk (früher: Stanislaw)viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Ihre Werke haben das Bild von Odessa geprägt.

Ich bin auf Autoren gestoßen, die die Umstände der Zeit gebrochen haben, aber auch auf solche, die widerstanden oder einfach Glück gehabt haben. Auf Dissidenten, Kriegsgefallene und Opfer der stalinistischen Säuberungen. Und so ist eine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen, die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben: Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Dann wurden einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur und Autoren skizziert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Es folgten einige Schriftsteller, die politisch nicht genehm gewesen sind, einst berühmte Namen, die in Vergessenheit geraten sind, und schließlich einige literarische Entdeckungen. Heute stehen Klassiker an, die eng mit Odessa verbunden waren.

 

Zu den wirklich großen Namen zählt gewiss Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809 – 1852), der seine Werke auf Russisch verfasst hat, als junger Mann nach St. Petersburg gezogen war, später nach Moskau. Im Herzen aber ist er Ukrainer geblieben, wo er aufgewachsen und zweisprachig erzogen worden war. In Odessa verfasste er 1850/51 weite Teile seines berühmten Romans „Die toten Seelen“, einen Klassiker der Weltliteratur. Autographen von ihm sind im dortigen Literaturmuseum ausgestellt. Eine Büste befindet sich unweit jener berühmten Oper, die im neo-barocken Stil nach Entwürfen der Wiener Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer ab 1884 erbaut wurde und heute neben der Potemkinschen Treppe zu den Wahrzeichen der Stadt zählt.

Iwan Alexejewitsch Bunin (1870 – 1953) verschlug es erstmals 1895 in die Hafenstadt. Danach hat er Odessa häufig besucht. Er war als Autor von Weltrang zwar anerkannt, eine Breitenwirkung hat sein Werk aber indes bis heute nicht erzielt. 1933 bekam er als erster russischer Autor überhaupt und als erster Schriftsteller, der im Exil lebte, den Literaturnobelpreis. Als Sohn eines verarmten adligen Gutsbesitzers geboren, hatte er früh zu schreiben begonnen und sich alsbald mit Erzählungen einen Namen gemacht. Über ihn hat Maxim Gorki, der ihm zeitweilig nahestand, gesagt: „Nehmen Sie Bunin aus der russischen Literatur heraus und sie wird glanzlos, verliert ihren Regenbogenschein.“

Iwan Bunin © Wikipedia

Die revolutionären Ereignisse erlebte Bunin 1918 noch in Moskau, um sich dann nach Odessa zurückzuziehen. Nachdem die Bolschewisten die Hafenstadt im Frühjahr 1919 erobert hatten, rieten ihm Freunde zur Flucht. Diesen Ratschlag befolgte er. Mit dem letzten Schiff reiste er gemeinsam mit seiner Frau Wera Muromzewa 1920 aus Odessa über Konstantinopel nach Frankreich aus. Er lebte dort abwechselnd in Paris und in einem Dörfchen in der Provence. Bis zu seinem Tod im Jahr 1953.

Die russische Revolution hat Bunin nicht nur als brutale Zerstörung der Tradition, sondern auch der Umgangsformen erfahren – als eine „Orgie des Todes“ im Namen einer „lichten Zukunft“, bei dem das Volk letzten Endes „vom Regen in die Traufe kommt“. Entsetzt hat er die einsetzende Verwahrlosung der Sprache, die großspurigen Lügen und das schwülstige Pathos aufgezeichnet. Und mit großer Bitterkeit beobachtet, wie frühere Freunde, darunter Gorki und Majakowski, versuchten, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen.

Seine Tagebuchaufzeichnungen über die Ereignisse in Moskau 1918 und Odessa 1919 wurden erstmals 1925 unter dem Titel „Okajannye dni“ in einer Pariser Exilzeitschrift veröffentlicht. Auf Deutsch liegen sie in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg seit Jahr 2005 vor, und zwar im Rahmen einer Bunin-Werkausgabe, welcher der Schweizer Verlag Dörlemann besorgt hat. Anlässlich des 100. Jahrestages der Russischen Revolution ist Ende September 2017 beim Verlag eine Sonderausgabe von „Verfluchte Tage. Ein Revolutionstagebuch“ erschienen.

Weltweit bekannt ist der Erzähler und Dramatiker Maxim Gorki (1868 – 1936). Den Stoff für seine ersten Erzählungen hat er in der Hafenstadt gefunden. Als junger, mittelloser Mann war er 1891 von dort zu einer viermonatigen Wanderung nach Tiflis aufgebrochen. Die Route führte am Nordufer des Schwarzen Meeres entlang. Begleitet hatte ihn ein Georgier namens Schakro, dem er im Hafen von Odessa begegnet war und der ihn auf dem endlos langen Fußmarsch dann nach Strich und Faden ausnutzen sollte.

Maxim Gorki © Encyclopedia Britannica

Das Zusammentreffen mit dem Georgier hat Gorki in der 1894 erschienenen Erzählung „Mein Weggefährte“ zum Anlass genommen, um die Arbeitsbedingungen im Hafen zu beschreiben. „Er [Schakro] war absolut unverständlich hier im Hafen, beim Pfeifen der Dampfschiffe und Lokomotiven, beim Rasseln der Ketten, bei den Schreien der Arbeiter, in diesem tollen und nervösen Getriebe des Hafens, das den Menschen von allen Seiten erfasst und seinen Verstand und seine Nerven abstumpft. Alle Menschen im Hafen waren von den riesenhaften Mechanismen geknechtet, die von ihnen die wachsamste Aufmerksamkeit und unermüdliche Arbeit erforderten; alle machten sich an den Dampfern und Eisenbahnwagen zu schaffen und waren mit dem Ausladen und Einladen beschäftigt. Alle waren erregt und ermüdet, alle liefen hin und her, schrien und fluchten im Staube und Schweiß, und mitten in diesem Arbeitsgetriebe spazierte langsam die seltsame Gestalt mit dem zu Tode gelangweilten Gesicht, gleichgültig gegen alles.“

Kolportiert wird, dass sich Gorki als Lastenträger im Hafen verdingt haben soll. Andere wiederum meinen, dass er den Stoff für seine berühmte Erzählung „Tschelkasch“ (1894) schlicht von einem Landstreicher übernommen habe. Wie auch immer. Mit dieser sozialkritischen Erzählung war ihm der literarische Durchbruch endgültig gelungen. Auch hier stellt der Hafen von Odessa den Rahmen dar, in dem Deklassierte und Kriminelle aufeinandertreffen. Grischka Tschelkasch, ein Landstreicher, zwingt einen Bauernburschen, ihn bei einem nächtlichen Diebeszug im Hafen zu unterstützen. Um den erbeuteten Ballen entbrennt ein Streit …

Auch Wladimir Majakowski (1893 – 1930) hat Odessa immer wieder gerne besucht. Er, die Ikone der künstlerischen Avantgarde, gefeierter Rezitator, Idol der Jugend, Frauenschwarm und nach seinem Freitod im Jahr 1930 von Stalin in den Status eines Vorzeige-Sowjetautors gehoben, war dem Charme der Hafenstadt verfallen gewesen.

1930 war einiges zusammengekommen; ein Tiefpunkt in seinem Leben. Gescheiterte Liebesbeziehungen mit Elli Jones, der er 1925 auf einer Lesereise durch die USA begegnet war, mit Tatjana Jakowlewa, um deren Hand er 1928 in Paris erfolglos angehalten hatte, und schließlich mit der 21-jährigen Schauspielerin Veronika Polonskaja, die 1930 die Kraft nicht aufbrachte, ihren Mann für Majakowski zu verlassen. Er war gesundheitlich angeschlagen, fürchtete, seine Stimme zu verlieren, und hatte immense Steuerschulden. Die Kulturbürokratie, die ihn einst als „Trommler der Revolution“ protegiert hatte, widmete ihm kaum noch Aufmerksamkeit. Längst hatte sie sich dem Proletkult verschrieben. Majakowskis Bühnenstück „Das Schwitzbad“, das den bürokratischen Alltag im Sowjetstaat vorführt, von Regisseur Wsewolod Meyerhold 1930 inszeniert, wurde zerrissen und musste nach wenigen Aufführungen vom Spielplan verschwinden.

Zu Lebzeiten hatte er noch gewisse literarische Freiheiten genießen dürfen. Erst nach seinem Tod wurde der Literaturbetrieb gleichgeschaltet. Per Dekret des Zentralkomitees der KPdSU war im April 1932 der Schriftstellerverband gegründet worden. Der Sozialistische Realismus wurde per Statut verbindlich. Aus Sorge um Majakowskis Nachlass wandte sich Lilija Brik, seine langjährige Geliebte, im November 1935 in einem persönlichen Brief an Stalin direkt. Dieser las ihn und notierte dann an den Rand des Schreibens: „Majakowski war, ist und wird der beste und talentierteste größte Dichter der sowjetischen Epoche bleiben“. Danach wurde auf Geheiß des Zentralkomitees sein Oeuvre neu verlegt, Plätze und Straßen nach Majakowski benannt und die Werke, die nun in Millionenauflagen gedruckt wurden, in den Schulen Pflichtlektüre. – Ein schönes Bonmot hierzu stammt von Boris Pasternak: „Man begann ihn als Pflicht einzuführen wie die Kartoffel unter Katharina.“

Übrigens hatte Majakowski 1914 Lilja Brik bei einem seiner Auftritte in Odessa kennengelernt und sich spontan in sie verliebt. Er soll damals aus dem noch unveröffentlichten Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ rezitiert haben, in dem es heißt: „Es geschah, es geschah in Odessa.“ – Und so schließt sich der Kreis.

Literarische Entdeckungen. Odessa: Stadt der Literatur (6)

Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat Odessa – neben den literarischen Zentren Lviv (früher: Lemberg) und Ivano-Frankivsk (früher: Stanislaw)viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Nach meinem Besuch dort habe ich mich auf eine Spurensuche begeben. So ist eine kleine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt gewachsen, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben: Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Dann wurden einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur und Autoren skizziert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Es folgten einige Schriftsteller, die politisch nicht genehm gewesen sind, und einst berühmte Namen, die in Vergessenheit geraten sind.

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Ebenso erfolgreich wie Jewgeni Petrow, dem Co-Autoren des Kultromans „Zwölf Stühle“, war dessen älterer Bruder Valentin Petrowitsch Katajew (1897 – 1986). Mit dem Unterschied freilich, dass seine in der Sowjetunion ab den 1930ern gefeierten Werke im Westen nicht rezipiert wurden. Katajew war ein Schüler des Literaturnobelpreisträgers und Emigranten Ivan Bunin. Und ein Bewunderer Wladimir Majakowskis, dem er 1927 erstmals begegnet war. Beiden hat er in seinem Erinnerungsroman „Kraut des Vergessens“ (1967) Denkmäler gesetzt.[1]

Er begann als Satiriker, gehörte in den 1920er zur literarischen Avantgarde und entwickelte sich dann mit Romanen und Theaterstücken zu einem Vorzeige-Schriftsteller des Sozialistischen Realismus, von dem er sich nach Stalins Tod wieder abwandte. Er gründete die Literaturzeitschrift „Jugend“, um die sich literarische Avantgarde versammelte, und suchte selbst nach neuen experimentellen Ausdrucksmöglichkeiten; wofür er den Begriff Mauvismus benutzte.

Bekannt war er vor allem mit dem 1936 erschienenen Jugendroman „Es blinkt einsam ein Segel“ geworden, einem Klassiker der sowjetischen Kinderliteratur, der – wie viele seiner Werke – in Odessa spielt. Aus der Sicht zweier Schuljungen werden die Ereignisse in der Hafenstadt im Revolutionsjahr 1905 geschildert. Der Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt. Für den 1945 erschienen Roman „Der Sohn des Regiments“, in dem Katajew seine Erfahrungen als Kriegsberichterstatter verarbeitet hat, erhielt er 1946 den Stalin-Preis.

„Die Katakomben von Odessa“, 1949 veröffentlicht, drehen sich um die Geschehnisse in der Stadt während der deutsch-rumänischen Besetzung im Zweiten Weltkrieg. Damals hatten sich Bürger und Partisanen in das Labyrinth unter der Stadt zurückgezogen und einen Abwehrkampf gegen die Besatzer geführt. Eine Reminiszenz an die Heimatstadt ist auch das 1967/68 entstandene Buch „Kubik“, 2005 in der Übersetzung von Swetlana Geier auf Deutsch beim Schweizer Verlag Dörlemann erschienen.

Abgesehen von „Kubik“, im deutschsprachigen Feuilleton 2005 als experimentelles Meisterwerk gefeiert, wurde Katajews umfangreiches Werk im größeren Stil lediglich in der DDR rezipiert. Kaum bekannt ist auch, dass seine Stoffe international vielfach adaptiert wurden. So brachte Alfred Polger 1930/31 Katajews ersten Roman „Die Betrüger“, 1926 erschienen, unter dem Titel „Die Defraudanten“ auf die Berliner Bühnen. Kurz darauf verwendete Fritz Kortner den Stoff für den populären Stummfilm „Der brave Sünder“ mit Max Pallenberg und Heinz Rühmann in den Hauptrollen.

Persona non grata zu Sowjetzeiten war der gebürtige Odessit Vladimir Zeev Jabotinsky (1880 – 1940), der sich nach den Judenpogromen 1903/05 zu einem Zionisten entwickelte und zeitlebens radikal für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina gekämpft hat. Um die Jahrhundertwende hat er in Rom Rechtswissenschaften studiert, nach seiner Rückkehr in Odessa als Publizist gearbeitet und dort 1911 einen Verlag für Literatur in hebräischer Sprache gegründet. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam er nach Westeuropa, ging 1940 nach Amerika, wo er im gleichen Jahr einem Herzinfarkt erlag. – Odessa aber ist in seiner Erinnerung immer der wunderbare Ort geblieben, wo das Glück wohnt.

Jabotinsky war im Hauptberuf Politiker, außerdem ein ziemlich umstrittener Politiker wohlgemerkt. Dennoch hat er ein überraschend umfangreiches Oeuvre hinterlassen. Lieder, Gedichte, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Novellen und Romane, die zu seinen Lebzeiten allerdings lediglich in Frankreich, Israel und Amerika gelesen wurden. In seiner Heimat erschien eine Auswahl seiner Werke erst im Jahr 2000, nach dem Zerfall der Sowjetunion.

In Deutschland wurde bisher nur sein Roman „Die Fünf“ bekannt, eine Reminiszenz an das multikulturelle, liberale Odessa der Jahrhundertwende, als sich in der Hafenstadt noch viele Nationen und Religionen gemischt haben und Handel und Kultur blühten.

„Zehn Volksstämme nebeneinander“, schreibt Jabotinsky, „einer so pittoresk wie der andere, einer kurioser als der andere. Anfangs lachten sie übereinander, dann lernten sie, auch über sich selbst zu lachen und über alles auf der Welt, sogar über das, was wehtat, sogar über das, was sie liebten. Allmählich schliffen sie ihre Bräuche aneinander ab, lernten, ihre eigenen Altäre nicht mehr übermäßig ernst zu nehmen, und ergründeten allmählich ein wichtiges Geheimnis dieser Welt: Das eigene Heiligtum ist für den Nachbarn nichts, und schließlich ist dein Nachbar auch kein Dieb und kein Landstreicher; vielleicht hat er ja auch recht, vielleicht auch nicht – kein Grund, sich zu grämen.“

Der Roman, erstmals 1936 im französischen Exil erschienen, erzählt davon, wie fünf Geschwister die Zeitenwende der Revolution von 1905 erleben. Als die jüdische Familiensaga im Dezember 2012 auf Deutsch vorlag[2], war sich das Feuilleton einig: Ein literarisches Meisterwerk – Was für ein Fund! – Ein Fest, wie es in der Literatur und Buchwelt nur selten vorkommt.

Von „Autoren im Schatten“ spricht der Slawist Reinhard Lauer. Gemeint sind jene literarischen Schätze, die weder veröffentlicht, noch wahrgenommen wurden und erst jetzt Stück um Stück gehoben werden.[3] Zu diesem Kreis mag man auch die Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin Lidia Yakovlevna Ginsburg (1902 – 1990) zählen, deren Aufzeichnungen und Erzählungen erst unter Michail Gorbatschow rezipiert wurden. Ginsburg wurde in Odessa geboren, ging 1922 nach Leningrad, wo sie Philologie studierte. Sie hatte Kontakt zu den Leitfiguren des russischen Formalismus, etwa zu Victor Shklovsky, Yury Tynyanov und Boris Eikhenbaum, und sollte sich zu einer unter Künstlern angesehenen Literaturkritikerin und – wissenschaftlerin entwickeln.

Ginsburg hat die Zeit zwischen September 1941 und Januar 1944 miterlebt, als Adolf Hitler Leningrad dem Erdboden gleichmachen und Josef Stalin die Stadt um jeden Preis halten wollte. Nach Beginn der Blockade, die mehr als einer Million Menschen das Leben kosten sollte, begann sie ein Tagebuch darüber zu führen, wie die Bewohner der Stadt mit Angst, Hunger, Kälte und Ungewissheit umgingen. Sie hielt fest, wie sich das soziale Verhalten unter extremen Bedingungen veränderte. Alles Menschliche, Zwischenmenschliche wurde mit archaischer Gewalt zerstört. Es war nicht allein ein Kampf ums Überleben, es war auch ein Kampf gegen die Verrohung. „Die Schreibenden sterben, und das Geschriebene bleibt“, heißt es am Ende der „Aufzeichnungen“.

Im russischen Original erschienen die Beobachtungen, Reflexionen und Notate unter dem Titel „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ 1984 in der Zeitschrift „Neva“, 1989 dann in Buchformat. Die deutsche Übersetzung, 1997 vom Suhrkamp Verlag besorgt, wurde wenig beachtet.[4] Als Sensation hingegen wurde 2014 die Neuausgabe in der Übersetzung von Christiane Körner gefeiert.[5] Erstmals enthalten ist darin die „Erzählung von Mitleid und Grausamkeit“, in der es um Ginzburgs Mutter geht. Den Text hatte man 2006 im literarischen Nachlass der 1990 verstorbenen Odessitin gefunden. Behandelt wird der Hungertod von Ginsburgs Mutter während der Blockade.

„Bei der Lektüre dieser ganz und gar außergewöhnlichen Aufzeichnungen fühlt man mit Erschrecken die tiefe innere Wahrheit dieser Worte und ahnt, dass man sich unter derart extremen Umständen wahrscheinlich genau so verhalten hätte. Lidia Ginsburg, die das bedrückende Geschehen nicht verdrängt, sondern schonungslos aufgeschrieben und analysiert hat, gebührt Achtung und Bewunderung. Die ‚Erzählung von Mitleid und Grausamkeit‘ ist viel mehr als eine detailgenaue historische Schilderung des Leidens während der Leningrader Blockade. Es ist ein einzigartiges Sprachdokument über das Wesen des Menschen in seiner Erbärmlichkeit wie auch in seiner Größe“, so Rezensentin Karla Hielscher 2014 im Deutschlandfunk.

 

Anmerkungen

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

[1] Im Ostberliner Verlag Volk und Welt 1969 unter dem Titel „Das Gras des Vergessens“ veröffentlicht.

[2] Vladimir Jabotinsky: Die Fünf. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Die Andere Bibliothek, Berlin 2012. Als Taschenbuch im August 2017 beim Aufbau Verlag erschienen.

[3] Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1770 bis zur Gegenwart, München 2009.

[4] Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Aus dem Russischen übersetzt von Gerhard Hacker, Frankfurt am Main 1997

[5] Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Mit einem Nachwort von Karl Schlögel, Berlin 2014.

Vergessene Autoren. Odessa: Stadt der Literatur (5)

Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat Odessa viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Nach meinem Besuch dort begab ich mich auf Spurensuche. Und so ist eine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

 Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben. Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Es wurden einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur und Autoren skizziert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Dann ging es um einige Schriftsteller, die politisch nicht genehm gewesen sind. – Heute um einst berühmte Namen, die in Vergessenheit geraten sind.

 

Die Lyrikerin Anna Achmatowa (1889 – 1966) wurde Mitte der 1960er als potentielle Literaturnobelpreisträgerin gehandelt. Sie ist in einem kleinen Dorf unweit von Odessa geboren. Unter schrecklichen Eindrücken entstand 1937/38 Achmatowas berühmter Gedichtzyklus „Requiem“, der in der Sowjetunion erst unter Michail Gorbatschow 1987 veröffentlicht werden konnte. Ihr erster Mann, der Dichter Nikolaj Gumiljow, wurde unter dem Verdacht der Konterrevolution 1921 erschossen. Ihr Sohn Lew verbrachte zwölf Jahre in Lagerhaft und Verbannung.

die Ausgabe von 1946

Zweifellos gehört die Achmatowa zu den berühmten und gerühmten Kindern der Stadt. An andere gebürtige Odessiten erinnert kaum noch etwas. Nach der Lyrikerin Wera Michajlovna Inber (1890 – 1972) heißt zwar in Odessa eine Straße, ihr Werk freilich ging mit den Zeitläuften unter. Geehrt wurde sie 1946 mit der höchsten Auszeichnung, die die Sowjetunion damals für herausragende Leistungen auf wissenschaftlichem, musikalischem, künstlerischem und literarischem Gebiet zu vergeben hatte, dem Stalinpreis. Übrigens für das Gedicht „Pulkovskij meridian“ (1943) und ihre Schilderungen aus dem belagerten Leningrad („Pocti tri goda“ 1946). 1946/47 wurde ihr Bericht im Rahmen von Umerziehungsmaßnahmen unter dem Titel „Fast drei Jahre. Aus einem Leningrader Tagebuch“ in großen Stückzahlen von der Sowjetischen Militäradministration in Ostberlin vertrieben. In der DDR sind Inbers Werke bis in die späten 1960er Jahre erschienen. Heute ist die Lyrikerin und Kinderbuchautorin, der keine geringere als Christa Wolf 1967 ein literarisches Porträt gewidmet hat[1], vergessen.

Ein Schicksal, das sie mit anderen, in Odessa geborenen Autoren teilt. So mit Eduard Bagritsky (1895 – 1934), einem Wegbereiter der frühen sowjetischen Lyrik („Duma ob Opanase“, 1926 erschienen). Oder dem aus Odessa stammendem jüdischen Schriftsteller und Übersetzer Wilhelm Wolfsohn (1820-1865). Der war 1837 nach Leipzig gegangen, hatte über russische Literatur promoviert und sich relativ erfolgreich für deren Verbreitung in Deutschland stark gemacht. Unter anderem hat er Werke von Gogol, Puschkin, Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi übersetzt. Wolfsohn war eng mit Theodor Fontane befreundet. Hätte er nicht zwischen 1841 und 1861 einen regen Briefwechsel mit Fontane geführt, der 2006 in Tübingen herausgegeben wurde,[2] wäre auch er heute komplett vergessen. Kaum anders das Schicksal der Odessitin Olga Michailowna Freudenberg (1880 – 1955), die sich 1934 als erste Frau in der Geschichte Russlands habilitierte. In Erinnerung ist lediglich ihr Briefwechsel mit Boris Pasternak.[3]

Alexander Grin (1880 – 1932) alias Alexander Stepanowitsch Grinewski wurde in jenem Landstrich geboren, wohin sein Vater, der am polnischen Aufstand im Jahr 1863 teilgenommen hatte, verbannt worden war – in Sibirien. Nach Abschluss der Volksschule zog Grin 1896 nach Odessa, um als Matrose anzuheuern. Abgesehen von drei Fahrten misslang der Plan, zur See zu fahren. Das Meer allerdings sollte lebenslang sein großes Thema bleiben.

Grin schlug sich unter anderem als Vagabund, Torfstecher, Goldwäscher und Hafenarbeiter durch und landete schließlich als Bettler auf der Straße. Dieses Leben hatte ihn kreuz und quer durch Russland geführt. So unstet sollte es vorerst weitergehen. 1901 wurde er Soldat, desertierte, kam ins Gefängnis. Er hatte mit Sozialrevolutionären Kontakt, für die er sich als Agitator einsetzte, und landete abermals im Gefängnis, wo er schließlich Kurzgeschichten zu schreiben begann. Gefördert von Maxim Gorki entwickelte er sich mit seinen nach der Oktoberrevolution verfassten märchenhaften Geschichten („Das Purpursegel“ 1923, „Die funkelnde Welt“ 1923, „Der Rattenfänger“ 1924, Die goldene Kette 1925, „Wogengleiter“ 1928) zu einem populären Autor.

Doch schon Ende der 1920er Jahre waren seine Bücher, die sich an der Erzählkunst von Edgar Allan Poe und Robert Louis Stevenson orientierten, nicht mehr erwünscht. Man warf ihm „West-Epigonentum“ vor. Verlage nahmen keine Manuskripte mehr von ihm an. Auch die ursprünglich auf 15 Bände angelegte Werkausgabe wurde gestoppt. Einsam, krank und in großer finanzieller Not starb Alexander Grin 1932 auf der Halbinsel Krim. Rehabilitiert wurde er nach Stalins Tod.

In Russland erfreuen sich seine Bücher bis heute großer Beliebtheit. Auch in der DDR wurde sein Werk rezipiert. Im Westen hingegen wurde lediglich der 1923 entstandene, märchenhafte Roman „Purpursegel. Eine Feerie“ etwas bekannt. „Diese Erzählung ist voller Poesie und warmer Menschlichkeit, wie bis ins Innere von Sonne bestrahlt und Meeresluft umweht. Sie ist erfüllt von des Autors Lächeln – dem Lächeln, das Grin im Leben so fehlte“, urteilte der Autor Konstantin Paustowski.

Verfilmt wurde der Stoff unter der Regie von Alexander Ptuschko in der UdSSR 1961 unter dem Titel „Das Purpurrote Segel“. Heute zählt der Streifen zu den Märchenklassikern der russischen Filmgeschichte. In einer synchronisierten Fassung der DEFA-Studios kam der Film in der DDR 1962 in die Kinos und wurde ab den 1970ern auch verschiedentlich im Fernsehen gezeigt. Erstmals auf Deutsch hatte der Ostberliner Verlag der Sowjetischen Militäradministration (SWA-Verlag) den Roman 1946 herausgebracht.

Längst verblasst ist der Ruhm von Konstantin Georgieviè Paustowski (1897 – 1968), ein Sohn ukrainischer Kosaken. Marlene Dietrich (1901 – 1992) hat für ihn geschwärmt. Beide sollen sich 1964 in Moskau begegnet sein. Die Filmdiva, so ihre Biographin Eva Gesine Baur, soll bei dem Treffen kein Wort über die Lippen gebracht haben, sondern in tiefer Verehrung vor dem Schriftsteller sogar auf die Knie gegangen sein.[4] Im darauffolgenden Jahr hatte Paustowski hervorragende Aussichten, den Literaturnobelpreis zu erhalten. Auf Druck Moskaus ging er jedoch nicht an ihn, sondern 1965 an Michail Scholochow (1905 – 1984), der wenige Jahre später des Plagiats überführt werden sollte.[5]

Wer Paustowskis Büchern nachstöbern möchte, muss in Antiquariaten suchen. Paustowski, dessen literarische Vorbilder Alexander Grin und die Odessiten Issak Babel, Valentin Katajew und Jurij Olescha gewesen sind, hat in den 1950/60er Jahren mit einem literarischen Großprojekt Furore gemacht: der sechsbändigen Autobiographie „Erzählungen vom Leben“, die zwischen 1946 und 1963 entstanden ist und in der „Tauwetter“-Phase als Sensation gefeiert wurde.[6]Erinnerungen“, so Paustowski, „das sind nicht vergilbte Briefe, nicht Alter, nicht vertrocknete Blüten und Reliquien, sondern die lebendige, pulsierende volle Welt“.

Der vierte Band, „Die Zeit der großen Erwartungen“ (1958 erschienen) spielt in Odessa.[7] Anfang der 1920er Jahre arbeitete Paustowski für die dortige Zeitschrift „Morjak“ und hatte engen Kontakt zu den literarischen Größen der Stadt, mit denen er abenteuerliche Zeiten erlebt hat. Der Roman behandelt eine Phase, die von der Aufbruchsstimmung nach der Revolution, den Hoffnungen auf ein besseres Leben, aber auch von Armut, Hunger und Verzweiflung geprägt war.

Nachdem er weltweit Aufmerksamkeit bekommen hatte, konnte er weite Reisen unternehmen und machte sich auch mit Reisebeschreibungen einen Namen („Das Buch der Wanderungen“, Band 6 der Autobiographie „Erzählungen vom Leben“). Paustowski, der sich unter anderem für Babel, Bunin und Pasternak verwendete, starb 1968 in seiner Geburtsstadt Moskau.

Kenner der klassischen russischen Literatur nennen Alexander Iwanowitsch Kuprin (1870 – 1938) in einem Atemzug mit Puschkin, Tolstoi und Scholochow. In die Literaturgeschichte ist er als einer der letzten großen russischen Realisten eingegangen. Bruchteile seines umfassenden Werks wurden in der DDR gelesen, im Westen ist er bis heute nahezu unbekannt.[8]

Alexander Kuprin © Encyclopedia Britannica

Kuprins Mutter stammte aus einem alten verarmten Tartarengeschlecht. Sein Vater war ein kleiner Beamter, der durch seinen frühen Tod die Familie mittellos hinterließ. Kuprin kam auf eine Kadettenanstalt und war nach seiner Ausbildung lange beim Militär. 1894 quittierte er den Dienst dort und schlug sich mit zahlreichen Jobs durch. Unter anderem als Stahlgießer, Gutsverwalter, Vorsänger in einer Kirche und Mitglied in einer fahrenden Theatergruppe. 1901 fasste er den Entschluss, es mit der Schriftstellerei zu versuchen, und zog nach St. Petersburg, dem damaligen literarischen Zentrum. 1905 machte ihn sein Roman „Das Duell“ über Russland hinaus schlagartig berühmt.

Kuprin verließ nach der Oktoberrevolution Russland und emigrierte – wie damals viele Schriftsteller – nach Paris. „Mein Heimweh“, notierte er dort, „geht nicht vorüber, es stumpft nicht ab, sondern überfällt mich immer häufiger und wird immer tiefer…“ An Krebs erkrankt, kehrte er 1937 in die Heimat zurück. Wie schon bei Gorkis Heimkehr aus dem Exil 1927 wurde seine Rückkehr propagandistisch ausgeschlachtet als Triumph des Kommunismus.

Genaues weiß man zwar nicht, aber man sagt, dass Alexander Kuprin mehr als 200 Erzählungen und Romane geschrieben haben soll. Auch Odessa spielt darin immer wieder eine Rolle. In Russland in aller Munde war sein mehrbändiger Romanzyklus „Jama“ (dt. „Die Gruft“). Hier beschreibt er das Leben im Bordell einer südukrainischen Hafenstadt. Noch Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 1909 sollen Studenten gegen die sozialen Missstände protestiert haben, die Kuprin in „Jama“ angeprangert hat: Nicht die Damen, sondern die Umstände, die sie dazu getrieben haben, ihre Körper zu verkaufen, und die „ehrbaren“ Besucher, die die Lage der Frauen ausnutzen.

 Auf Deutsch verlegt wurde der Romanzyklus 1923 beim Interterritorialen Verlag „Renaissance“ unter dem Titel „Jama – eine Sittengeschichte“. In der Chronik des Wiener Verlages ist von 70.000 verkauften Exemplaren die Rede. In Anlehnung an Kuprins Buch erschien in der DDR der Titel „Das sündige Viertel. Sittenbilder aus dem alten Russland“ 1986 bei Rütten & Loening.

So gut wie keine Spuren sind von Jefim Dawydowitsch Sosuljas Leben (1891 – 1941) geblieben. Er soll zwischen 1911 und 1918 in Odessa gelebt haben und dort als Journalist tätig gewesen sein. Dem Slavisten Fritz Mierau (geb. 1934), der sich als Übersetzer und Herausgeber vieler Werke aus Russland hervortat und dies noch tut, ist es zu danken, dass zu DDR-Zeiten 1981 ein Band mit Erzählungen und Porträts von Sosulja erschienen ist: „Der Mann, der allen Briefe schrieb“. In der Übersetzung von Rosemarie Tietze hat Mierau zudem den Kollektivroman „Die großen Brände“ herausgegeben, der in drei Ländern 1982 zeitgleich veröffentlicht wurde. In der BRD, der DDR und in Österreich.[9]

Das literarische Experiment, im Kollektiv einen Roman zu verfassen, haben Jefim Sosulja und Michail Kolzow (1898 – 1940) um 1925 gemeinsam angeschoben. Auf ihre Initiative hin kamen 25 Autoren zusammen, darunter auch einige Altmeister der damaligen Literaturszene.[10] Erstveröffentlicht wurde die satirische Kolportage über ominöse Brände in einer südlichen Hafenstadt 1927 in der Moskauer Zeitschrift „Ogonjok“.

Im deutschsprachigen Raum bekannt geworden ist Sosuljas Erzählung „Die Geschichte von Ak und der Menschheit“, die  kurz nach der Oktoberrevolution 1919 entstanden ist und von Kai Grehn für den SFB/ORF 2002 als Hörspiel adaptiert wurde.[11] Ein gewisser Ak versteht darin sich als Weltverbesserer. Kaum an die Macht gekommen, gründet er das „Gremium der höchsten Entschlussfreude“, dessen Aufgabe es ist, schon jene Menschen aussortieren, die der neuen Ordnung skeptisch gegenüberstehen. Die Aussortierten haben dann die Möglichkeit, das Leben innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu verlassen. Sollte ihnen das aus eigner Kraft nicht gelingen, stehen Verwandte und Freunde, aber auch bewaffnete Sonderkommandos bereit, nachzuhelfen.

Das Gremium arbeitet sehr emsig; die Sterbeakten häufen sich. Dann aber befallen AK Zweifel: „Was sollen wir tun? Wo ist der Ausweg? Studiert man die lebenden Menschen, so kommt man zu dem Schluss, dass sie zu drei Vierteln ausgerottet werden müssen, aber wenn man die Hingemetzelten studiert, dann weiß man nicht, ob man sie nicht eher lieben und bemitleiden müsste? Eben hier gerät die Menschenfrage in die Sackgasse, in die unheilvolle Sackgasse der menschlichen Geschichte.[12]

 

Anmerkungen

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

[1] Der Sinn einer neuen Sache. Vera Inber, in: Christa Wolf: Moskauer Tagebücher: Wer wir sind und wer wir waren, Berlin 2014.

[2] Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn – eine interkulturelle Begegnung, hrsg. von Hanna D. von Wolzogen und Itta Shedletzky, Tübingen 2006.

[3] Boris Paternak/Olga Freudenberg: Briefwechsel 1910 – 1954. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze, Frankfurt a.M. 1986.

[4] Eva Gesine Baur: Einsame Klasse. Das Leben der Marlene Dietrich, München 2017

[5] Wolfgang Kasack: Die russischen Nobelpreisträger, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 107.

[6] Paustowskis Biographie umfasst die Bände: „Ferne Jahre“ (1946), „Unruhige Jugend“ (1954), „Beginn eines unbekannten Zeitalters“ (1956), „Die Zeit der großen Erwartungen“ (1958), „Sprung nach dem Süden (1959/60), „Buch der Wanderungen“ (1963).

[7] Konstantin Paustowski: Der Beginn eines verschwundenen Zeitalters. Aus dem Russischen von Gudrun Düwel und Georg Schwarz. / Die Zeit der großen Erwartungen. Aus dem Russischen von Georg Schwarz. Die Andere Bibliothek, Frankfurt am Main 2002.

[8] „Meistererzählungen“ von Alexander Kuprin, übersetzt von Eveline Passet und mit einem Nachwort versehen von Ilma Rakusa, sind 1989 beim Züricher  Manesse Verlag erschienen. Enthaltene Erzählungen: Der Moloch, Das Nachtlager, Die Jüdin, Die Kränkung, Die mechanische Rechtspflege, Das Granatarmband, Der schwarze Blitz, Der Stern Salomos

[9] Die großen Brände. Ein Roman von 25 Autoren, Hrsg. Fritz Mierau, Berlin/Frankfurt/Wien 1982.

[10] Beteiligt waren Alexander Arossew, Isaak Babel, Feoktist Beresowski, Sergej Budanzew, Konstantin Fedin, Alexander Grin, Wera Inber, Alexander Jakowlew, Weniamin Kawerin, Michail Kolzow, Boris Lawrenjow, Leonid Leonow, Juri Libedinski, Wladimir Lidin, Nikolaj Ljaschko, Georgi Nikiforow, Lew Nikulin, Alexej Nowikow-Priboj, N.Ognjow, Michail Slonimski, A.Soritsch, Michail Soschtschenko, Jefim Sosulja, Alexej Swirski und Alexej Tolstoj.

[11] Kulturradio vom RBB hat das Hörspiel am Freitag, den 6. Oktober 2017 ab 22 Uhr im Programm.

[12] Die Erzählung kann man hier nachlesen: Fritz Mierau (Hrsg.): Kauderwelsch des Lebens. Prosa der russischen Moderne, Hamburg 2003.