„Laut meinem alten Zeugnis hatten wir Staatsbürgerkunde und Literaturpropaganda“. Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Maritta Tanzer, Heike Wenige, Holger Brandstädt und Simone Zopf einiges haben wissen lassen, teilt nun Kerstin Hänsel (geb. 1961) ihre Erinnerungen. Zwischen 1978 und 1980 hat sie die Buchhändler-Lehranstalt in Leipzig besucht, die damals unter dem Namen „Betriebsberufsschule des Volksbuchhandels der DDR“ firmierte. Ihre praktische Ausbildung machte sie in der Volksbuchhandlung „Gutenberg“ in Zwickau, dann war sie im sächsischen Glauchau bei „Buch und Kunst“ tätig.

Was hat Sie bewogen, Buchhändlerin zu werden?

Ausschlaggebend war die Liebe zum Buch, ich habe sehr viel gelesen und als junges Mädchen haben mich auch die Großstadt Leipzig und das Internatsleben, weg von den Eltern, gereizt.

Selbstverständlich war das damals nicht, dass man seinen Wunschberuf erlernen konnte …

Kann ich nicht bestätigen. Ich wollte diesen Beruf und bin sofort genommen worden.

War Ihnen bewusst, dass dem Buchhandel eine erzieherische Funktion zugedacht war und er dementsprechend auch in der Pflicht stand, politisch genehme „Schwerpunkttitel“ zu vertreiben?

Nein, das war mir nicht bewusst. Ich hatte vor allem mit Kinderbüchern und unpolitischen Klassikern zu tun. Nie fühlte ich mich unter Verkaufsdruck und meine Schaufensterwettbewerbe konnte ich auch selbstständig und kreativ durchführen. Gestaltet wurden die Fenster mit – natürlich – sozialistischen Autoren.

Wie würden Sie Ihre Ausbildung an der Buchhandelsschule in Leipzig im Rückblick bewerten?

Jahrgang an der Buchhänderschule © Kerstin Hänsel

Ausgesprochen positiv. Es wurde Fachwissen von Shakespeare über das Verlagswesen bis zur Buchbinderei vermittelt. Das Internatsleben war streng, aber auf gar keinen Fall ideologisch geprägt.

Worauf wurde in Leipzig besonders großen Wert gelegt?

In welcher Position im Buchhandel jeder Einzelne eingesetzt werden kann, nach seinem Interesse und Wissen. Ich war die geborene Verkäuferin und kam deshalb ins Sortiment. Beim Besuch der Verlage, unter anderen Volk und Welt, oder in der Buchdruckerei wusste ich sofort, das ist nicht mein Ding. Ich wollte immer Kontakt mit Menschen.

Welchen Anteil hatte die Staatsbürgerkunde im Rahmen Ihrer Ausbildung?

Maximal 10 Prozent. Ist an mir vorbei gegangen, ich kann mich kaum noch an solche Unterrichtsstunden erinnern. Aber laut meinem alten Zeugnis hatten wir Staatsbürgerkunde und Literaturpropaganda.

Was war während Ihrer Lehrzeit Pflichtlektüre?

Dieter Noll „Abenteuer des Werner Holt“, Fallada „Wolf unter Wölfen“, Scholochow „Der stille Don“, Theodor Storm „Der Schimmelreiter“ Johann Wolfgang Goethe „Die Leiden des jungen Werther“, Bruno Apitz „Nackt unter Wölfen“, Anna Seghers „Das siebte Kreuz“. An andere erinnere ich mich nicht mehr.

Spielten die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ und das „Statut für den Volksbuchhändler“ noch eine Rolle?

Nein.

Gab es etwas, woran Sie an der Buchhandelsschule Anstoß genommen haben?

Nein, nur die sehr strenge Internatshausordnung.

Ihre praktische Ausbildung haben Sie bei der „Volksbuchhandlung Gutenberg“ in Zwickau gemacht. War das Ihr Wunschbetrieb?

Es war mein Wunschbetrieb, da ich damals ja auch in Zwickau gewohnt habe. Nach der Ausbildung musste ich bei „Buch und Kunst“ in Glauchau arbeiten und dorthin umziehen. Habe eine Nacht in Buchhandlung geschlafen, um eine Wohnung in Glauchau zu bekommen.

Der Kabarettist Bernd-Lutz Lange war zwischen 1963 und 1965 als buchhändlerische Hilfskraft in der Zwickauer „Volksbuchhandlung Gutenberg“ beschäftigt. In seinem Buch „Das gabs früher nicht. Ein Auslaufmodell zieht Bilanz“ berichtet er, dass es zu seinen Aufgaben gehörte, jene Bücher in den Schaufenster auszulegen, die im Laden wie Blei lagen. War das zu Ihren Zeiten auch noch so? Und sagt Ihnen der Begriff „Gebrauchswerber“ noch etwas?

Gebrauchswerber kamen alle Vierteljahre in die Buchhandlung und waren ausnahmslos für die Schaufenstergestaltung zuständig. Wir Buchhändler mussten die Vorarbeit leisten und schwerverkäufliche Titel heraussuchen. Die kamen dann in die Auslage. Für mich ein Grund, mehrfach an Schaufensterwettbewerben teilgenommen zu haben. Ich wollte meine eigenen Ideen verwirklichen.

Für welche Bereiche waren Sie dann bei „Buch und Kunst“ zuständig?

Vorwiegend im Sortiment und im Bestellwesen beziehungsweise der Warenannahme, wenn Paletten vom LKG (Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel) geliefert wurden.

Wichtig war die Planerfüllung im Volksbuchhandel. Aber auch der Umsatz von Parteiliteratur und Importbuch musste stimmen. Wie wurde in Ihrem Betrieb verfahren, wenn absehbar war, dass der Plan nicht erfüllt werden konnte?

Habe ich bewusst nicht wahrgenommen. Schon gar nicht als Lehrling, der an Besprechungen nicht teilnehmen musste.

Stichwort Bückware. Gingen in Ihrem Betrieb auch Bücher unter der Ladentheke weg? Erinnern Sie sich noch daran, was besonders gefragt war?

Ich würde sagen, dass gut 40 Prozent unter der Ladentheke verkauft wurden. Besonders Globen, Märchenbücher, Bücher von Christa Wolf und Titel aus dem zentralen tschechischen Exportverlag Artia, damals in Prag ansässig.

Was lagerte wie Blei?

Sowjetische Propaganda und Parteitagsbeschlüsse.

Wie lief das mit den Vorbestellungen?

Man hatte mehrere Holzkisten mit Karteikarten und sobald eine Lieferung kam, wurde ausgewählt. Ein Großteil ging an Verwandte, Bekannte, Doktoren, dann erst bekam Otto Normalkunde eine Postkarte, das er sein Buch abholen könne.

Was war bei „Buch und Kunst“ im sächsischen Glauchau anders als in der Gutenberg-Buchhandlung in Zwickau?

Vom Arbeitsstil gab es keine Unterschiede. Aber in der Kleinstadt da waren die Schiebereien noch viel ausgeprägter. Selbst ich hatte Mühe, mal ein von mir gewünschtes Buch zu kommen. Dort herrschte die Buchhandlungsleiterin und die hatte Haare auf den Zähnen. Zum 1. Mai mussten wir zum Demonstrieren nach Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Am Rosenhof wurde dann im Block des Volksbuchhandels losmarschiert.

Mauerfall im November 1989, Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im Juni 1990, deutsche Einheit am 3. Oktober 1990. Wie haben Sie diese turbulenten Monate erlebt?

Ich war damals mit einem Volkspolizisten verheiratet, der als Abschnittsbevollmächtigter tätig war. Wie er mit der Wende umgegangen ist, habe ich nicht verkraftet. 1990 habe ich mich sofort selbstständig gemacht und ein Antiquitätengeschäft eröffnet. Der Neubeginn, ob privat oder beruflich, war einfach phantastisch. Ich habe die neue Zeit genossen und ausgelebt.

Welche Hoffnungen hatten Sie für Ihr Land? Welches waren Ihre größten Sorgen?

Bis zuletzt dachte ich, die DDR würde als Staat mit demokratischer Führung und Reisefreiheit weiterexistieren. Aber als das „Volk“ dann nur noch nach der DM schrie, war mir klar, dass es vorbei sei mit der DDR als selbstständiges Land. Im Nachhinein erschreckend ist für mich die Vorgehensweise der Treuhandanstalt. Ich glaube, da ist viel Unrecht geschehen.

Welche Standards, die der volkseigene Buchhandel gesetzt hat, würden Ihres Erachtens dem Buchhandel heute gut tun?

Auf jeden Fall die persönliche Beratung. Die fehlt mir in jeder Buchhandlung. Die schauen nur in Ihren Computer, wo ein Buch steht. Eine inhaltliche Beratung fehlt komplett. Ich habe während meiner buchhändlerischen Tätigkeit immer in nahezu jedes Buch zumindest hineingeschnuppert und konnte konkrete Angaben über Inhalte machen. Man könnte auch öfter wieder Buchbesprechungen durchführen und die Menschen so an neue Bücher und Nachwuchsautoren heranführen.

Existieren die beiden Buchhandlungen noch, in denen Sie gearbeitet haben?

Nein, beide wurden in 1990er Jahren geschlossen.

Liebe Frau Hänsel, herzlichen Dank für Ihren Rückblick.

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Mein Dank gilt allen, mit denen ich mich bislang habe austauschen dürfen. Ich würde mich freuen, wenn sich weitere Zeitzeugen einfänden und ihre Erfahrungen einbringen.

„Das System an sich war nicht verhandelbar.“ – Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Maritta Tanzer, Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Simone Zopf ihre Erinnerungen. Sie kam 1981 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und blieb dem Beruf über 30 Jahre treu. – Zum vorangegangenen Gespräch geht es hier.

Du hast deine Jahre bei „Das Gute Buch“ in Halle als „bleierne Zeit“ bezeichnet. Magst du das etwas näher ausführen?

Schwer zu beschreiben. Ich war jung, dynamisch, sehr interessiert. Die DDR, die Buchhandlung, das Leben allgemein war geprägt von Tristesse, Mangel, Verfall. Einerseits verfallende Städte, Umweltverschmutzung, Mangelwirtschaft – andererseits die offizielle Linie mit Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit, der „Klassenfeind“ etc. etc. Und dazwischen wir, die einfach nur jung waren und ihr Leben leben wollten, Bücher, Familie, Freunde, Urlaub, Party.

Die Stagnation dieser Zeit war völlig konträr zu meinen Vorstellungen von Leben und Arbeiten. Ich stand mit 18 Jahren als fertige Buchhändlerin in der Buchhandlung und hasste die Vorstellung, 45 Jahre so arbeiten zu müssen. Um mich dem täglichen Einerlei und der Langeweile zu entziehen, habe ich praktisch alles gemacht, was sich mir bot, um meine Zeit sinnvoll zu nutzen. So beispielsweise an der Telefonzentrale der Bezirksleitung, Arbeitszeitnachweise geführt, Posteingänge bearbeitet und einmal für drei Wochen als delegierte Aushilfe der Buchhandlung (sogenannte sozialistische Hilfe) in einem Betrieb für die Herstellung von Kohleanzünder gearbeitet. Das war ganz besonders interessant! Und anstrengend! Direkt in der Produktion mit ganz normalen, wirklich hart arbeitenden Menschen! Das war sozialistischer Realismus pur. Kannte ich sonst nur aus Büchern. Da waren die kulturpolitischen Aufgaben ganz weit weg. Dort habe ich etwas fürs Leben gelernt.

Aufgrund deiner Parteilosigkeit hat dein Betrieb dein Ziel vereitelt, ein Direktstudium an der „Fachschule für Bibliothekare und Buchhändler Erich Weinert“ in Leipzig aufzunehmen. Wie bist du mit dieser Entscheidung umgegangen?

Ich stand der Entscheidung der Kaderleitung machtlos gegenüber. Die Möglichkeit, zu kündigen und einfach zum Studium zu gehen, bestand nicht. Meine nächste Alternative, als Kulturbeauftragte zur Trasse in die Sowjetunion zu gehen, scheiterte ebenfalls genau an diesen Mechanismen. Das System an sich war nicht verhandelbar. – Glücklicherweise bin ich dann aus persönlichen Gründen nach Erfurt umgezogen und fand im Antiquariat des Volksbuchhandels meine Nische unter Gleichgesinnten. Und zum Glück kam dann 1989 die Wende.

Idealerweise waren leitende Stellen mit SED-Mitgliedern besetzt. Wie präsent war die Partei in deinem Betrieb?

Präsent. Einerseits haben wir uns immer beobachtet und kontrolliert gefühlt, andererseits haben wir als Buchhändler auch Tag für Tag unsere ganz normale Arbeit gemacht, waren Kollegen, hatten Spaß, haben gelesen. Normal eben. Schwer zu beschreiben.

Wie sah eure Zusammenarbeit mit der Bezirksdirektion des Volksbuchhandels aus, die ja im gleichen Gebäude untergebracht war wie „Das Gute Buch“?

Wir waren ja eine Bezirksstadt, standen als größte Buchhandlung  im besonderen Fokus der Bezirksleitung, allein schon aus der räumlichen Nähe. Im Großen und Ganzen haben wir versucht, Begegnungen aus dem Weg zu gehen

Antiquariate waren bei DDR-Bürgern beliebt, weil es dort vielfach mehr zu entdecken gab als in den herkömmlichen Buchläden. In Erfurt warst du ab 1988 im dortigen „Antiquariat des Volksbuchhandels“ beschäftigt. Was war hier anders als in Halle bei „Das Gute Buch“?

das Team im Antiquariat um 1992 © privat

das Team im Antiquariat um 1992 © privat

Wir waren Gleichgesinnte. Wir haben offen und ehrlich geredet, ohne Angst vor Partei und Staatssicherheit. Das war schon etwas Besonderes. Das Antiquariat bot uns einen geschützten Raum. Die äußeren politischen Umstände waren deshalb zwar nicht anders, sie ließen sich hier aber besser ausblenden. Diese Gemeinschaft war stärkend.

Der Umgang mit dem Buch und den Kunden war ein anderer. Wir haben täglich im Laden, in Privatwohnungen und auch ganze Bibliotheken angekauft, d.h. wir wussten nie, was es am nächsten Tag Neues gibt. Und die Kunden auch nicht. Das war jeden Tag eine Überraschung und ein bisschen wie Weihnachten. Meiner Vorstellung von einem guten Buchhändler, geprägt von Kundenservice, Offenheit, Toleranz und Rücksichtnahme, kam die tägliche Arbeit im Antiquariat so viel näher. Diese besondere Situation kenne ich auch von anderen Antiquariaten des Volksbuchhandels. Das waren Oasen für Buchhändler.

Kannst du bestätigen, dass die Antiquariate des Volksbuchhandels beschlagnahmte Bibliotheken, etwa von Republikflüchtigen, aufgekauft haben?

Ja, das kann ich für Erfurt. Beispielsweise konkret der Fall eines junges Mannes, der die DDR unerlaubt Richtung BRD verlassen hatte und dessen Besitz durch die Staatlichen Organe der DDR beschlagnahmt und veräußert wurde. Die Bücher bekamen wir zur Bewertung und in den Bestand. Die Mutter des jungen Mannes kam zu uns ins Antiquariat und bat um einige Bücher aus dem Bestand des Sohnes, bevor wir die Titel in den Laden stellen. Selbstverständlich gewährten wir ihr dies. Allerdings waren wir als staatliches Antiquariat verpflichtet, uns die Bücher bezahlen zu lassen.

Das Buch war zu DDR-Zeiten nicht nur eine begehrte Ware, sondern auch ein beliebtes Tauschobjekt. Hat das auch das Image des Buchhändlers beeinflusst?

Allerdings. Buchhändler war ein angesehener Beruf. Jemanden in einer Buchhandlung zu kennen, konnte von Vorteil sein. Deshalb kenne ich Buchhändler, die beim Kennenlernen neuer Leute andere Berufe angegeben haben, um nicht plötzlich viele neue „Freunde“ zu haben und ausgenutzt zu werden. Ich gab mich bisweilen als Zahnarzthelferin aus, bis mal jemand meine Meinung zu seinem Zahnstatus haben wollte.

Woran erinnerst du dich besonders in dieser Phase zwischen 1988 – 1989?

Das Publikum im Antiquariat war sehr anders als im ´normalen´ Buchhandel. Viele Sammler, Sucher, liebenswerte Spinner, Freaks, schräge Leute mit ganz speziellem Wissen und Können. Die Mischung der Leute und die allgemeine politische Luftveränderung führten zu interessanten Gesprächen. Manchmal fast wie in einer Parallelwelt. Oder wie in einem Roman. Ja, manchmal kommt es mir so vor, als wären wir damals alle Romanfiguren gewesen.

Hat dich die Wende überrascht?

Im Grunde ja. Oder auch nicht. Das etwas passiert, war klar. Aber wie, wo, in welchem Tempo und mit welchen Konsequenzen, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar.

Über deine Erfahrungen nach dem Mauerfall sprechen wir in der kommenden Woche.

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Nach dem Abschluss der Polytechnischen Oberschule (POS) absolvierte Simone Zopf (geb. 1965) zwischen 1981 und 1983 ihre buchhändlerische Lehre in Halle/Saale bei „Das Gute Buch“, der größten Volksbuchhandelsfiliale im Bezirk Halle. Nach der Übernahme durch ihren Ausbildungsbetrieb war sie dort für die Sortimente Fachbuch und Gesellschaftswissenschaften zuständig. Umzug nach Erfurt, wo sie ab 1988 im „Antiquariat des Volksbuchhandels“ tätig war. Die Leiterin des Antiquariats, das damals fünf Mitarbeiter hatte, wagte nach der Wende den Schritt in die Selbstständigkeit.

1992 kam Simone Zopf zu „Peterknecht“. Dort war sie 20 Jahre lang beschäftigt; zunächst für das Fachbuch verantwortlich, in späteren Jahren dann für Belletristik und als 1. Sortimenterin. Im Sommer 2012 holte ein junger Berufskollege die erfahrene Buchhändlerin in seine Buchhandlung „Die Eule“ nach Weimar. Nach 30 Berufsjahren brauchte Simone Zopf dann frischen Wind; nach ersten Erfahrungen als Verlagsvertreterin in 2015 möchte sie zukünftig hier anknüpfen.

Zum ersten Teil des Gespräches geht es hier

„Entweder es gab das Buch – oder eben nicht.“ – Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Maritta Tanzer, Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Simone Zopf ihre Erinnerungen. Sie kam 1981 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und blieb dem Beruf über 30 Jahre treu. – Zum ersten Teil unseres Gesprächs geht es hier.

Nach der Lehrzeit wurdest du von „Das Gute Buch“ in Halle übernommen. War das dein Wunschbetrieb?

Nein. Am allerliebsten hätte ich schon damals im Antiquariat gearbeitet. Das Antiquariat Halle, unter der Leitung des sehr geschätzten Kollegen Herrn Wolff, war eine (gefühlte) Insel inmitten des real existierenden sozialistischen Buchhandels. Die alten Bücher und der schöne, alte Laden versprachen große Freiheit.

Als junge Buchhändlerin warst du für die Sortimente Fachbuch und Gesellschaftswissenschaften, und damit auch für die Parteiliteratur, zuständig. Waren solche Titel in den späten 1980er überhaupt noch gängig?

Simone Zopf © privat

Simone Zopf © privat

Was heißt gängig? Die waren einfach da. Die Parteiliteratur war für alle verpflichtend, die in der Partei oder parteinah waren. Sie wurde für das sogenannte Parteilehrjahr gebraucht. Auch Studenten mussten für diese Bücher ihr Geld ausgeben. Zum Beispiel: „ Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den X. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berichterstatter Erich Honecker“. Davon wurden tausende Exemplare verkauft. Aber auch gelesen??

Manches in diesem Segment haben wir unter uns auch umgedichtet. Aus Friedrich Engels „ Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ wurde „Der Affe auf dem Weg zur Arbeit“. Erich Honecker Biografie „ Mein Leben“ hieß unter Buchhändlern auch schon mal „ Aus dem Leben eines Taugenichts“. – So ganz ernst genommen haben wir das alles nicht.

Obschon es immer schwieriger wurde, ideologische Traktate an den Mann und die Frau zu bringen, war Planerfüllung wichtig. Wie seid Ihr verfahren, wenn absehbar war, dass der Umsatz von Parteiliteratur nicht stimmte?

Nichts. Wie auch? Aktiv verkaufen war nicht. Vielleicht im Kundengespräch: „Ach übrigens gibt es jetzt so ´ne neue Broschüre zum Parteitag, tolles Vorwort und gute Argumente“. Nee, das hat niemand gemacht und niemand gewollt. Am Ende war es ja auch egal, ob der Umsatz gestimmt hat, oder nicht. Ging ja trotzdem weiter. Naja, zumindest bis 1989.

Welche Titel waren während deiner Zeit besonders schwer zu beschaffen und welche lagerten wie Blei?

Interessante Fragestellung. Weil: „schwer zu beschaffen“ impliziert ja, dass es möglich war, Titel zu besorgen. Abgesehen von einigen Fachbüchern war aber nichts zu beschaffen. Entweder es gab das Buch – oder eben nicht. Das, was es gab, wollte keiner und das, was die Kunden wirklich wollten, gab es nicht.

Bückware. Gingen in eurem Betrieb auch Bücher unter der Ladentheke weg? Erinnerst du dich noch daran, was besonders begehrt war?

Wo soll ich anfangen, wo aufhören? Immer Mangelware: Autoatlanten (es gab nur zwei: einen großen, einen kleinen), Gartenbücher, Bildbände (Edition Leipzig, Seemann), Belletristik westdeutscher Autoren, kritische ostdeutsche Autoren, Bilderbücher, Lexika, Wörterbücher, Reiseliteratur etc. etc. Es gab in der Buchhandlung einen sogenannten „Giftschrank“, in dem Exemplare der besonderen Art, weil selten und somit tauschbare (!) lagerten. Über diese verfügten die Abteilungsleiter/Buchhandelsleiter.

Wie haben die Kunden reagiert, wenn Wunschlektüre partout nicht lieferbar war?

Fatalistisch. Die Kunden kannten es nicht anders. Bitter, aber wahr. Dafür war die Freude umso größer und wirklich echt, wenn sie dann tatsächlich einmal ein Buch in die Hände bekamen, das sie schon so lange haben wollten. Dafür haben wir Buchhändler auch schon mal gesorgt. Viele Kunden kamen täglich, um nach dem gewünschten Buch nachzufragen. Oft gab es eben nur 1 – 3 Exemplare für die Buchhandlung. Und so war das Buch eben „durch“, d.h. vergriffen, wenn der Kunde dann am nächsten Tag kam. Da wir unsere Kunden gut kannten, haben wir bisweilen (unerlaubt) das Buch auf einen fiktiven Namen ins Abholfach gestellt und es dem Kunden dann gegeben. – Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erscheint mir dieses Leben und dieses Arbeiten kaum mehr vorstellbar.

Wie lief das mit den Vorbestellungen?

Im „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ gab es die Beilage „Vorankündigungsdienst für den Buchhandel“ (VD). Dieser enthielt die Anzeigen der Erst- und Nachauflagen sechs Wochen vor dem Erscheinungstermin der Titel. Das war praktisch das einzige Arbeitsmittel für Titelneuankündigungen und auch die einzige Informationsquelle für die Kunden. Wir haben ca. 20 Titel ausgewählt und an ein Brett gehangen.

Diese Titel konnten die Kunden dann tatsächlich bestellen. Bestellen hieß hier allerdings auch noch nicht bekommen. Bei reinen Fachbüchern war es vergleichsweise einfacher mit der Bestellung, hier war auch mal eine Nachbestellung möglich.

Zu den wirklich begehrten Büchern wie Autoatlanten, Garten- oder Eisenbahnbüchern gab es, wenn sie denn im VD angezeigt wurden, manchmal eine Vormerkerliste. Das funktionierte dann beispielsweise so: auf die Liste konnten ca. 30 bis 50 Kunden eingetragen werden. Das war noch keine Bestellung mit Anspruch auf Erhalt. Die Kunden wussten das, waren aber froh, schon einmal auf einer Liste zu stehen. Die Buchhandlung konnte die Titel nach Anzeige im VD bei LKG ordern. Die Bestellzahlen allerdings waren utopisch. Es wurden 1000 Exemplare bestellt. Davon wurden vielleicht 60 in die Buchhandlung geliefert. Von diesen kamen 10 in den „Giftschrank“, 20 waren für Kollegen, ebenso viele für die die ersten 20 Kunden auf der Liste und der Rest war für den Freiverkauf im Laden bestimmt, wenn es gut lief.

Dieses absurde Bestellverhalten führte dazu, dass eines schönen und wundersamen Tages von 999 bestellten Kochbüchern doch tatsächlich, warum auch immer, eine große Palette mit circa 600 Exemplaren in der Buchhandlung eintraf. Das Erstaunen und die Freude für uns und die Kunden war groß. So hatten wir doch mal einen Nachmittag und auch noch am folgenden Vormittag ein sehr begehrtes Kochbuch tatsächlich vorrätig.

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Nach dem Abschluss der Polytechnischen Oberschule (POS) absolvierte Simone Zopf (geb. 1965) zwischen 1981 und 1983 ihre buchhändlerische Lehre in Halle/Saale bei „Das Gute Buch“, der größten Volksbuchhandelsfiliale im Bezirk Halle. Nach der Übernahme durch ihren Ausbildungsbetrieb war sie dort für die Sortimente Fachbuch und Gesellschaftswissenschaften zuständig. Umzug nach Erfurt, wo sie ab 1988 im „Antiquariat des Volksbuchhandels“ tätig war. Die Leiterin des Antiquariats, das damals fünf Mitarbeiter hatte, wagte nach der Wende den Schritt in die Selbstständigkeit.

1992 kam Simone Zopf zu „Peterknecht“. Dort war sie 20 Jahre lang beschäftigt; zunächst für das Fachbuch verantwortlich, in späteren Jahren dann für Belletristik und als 1. Sortimenterin. Im Sommer 2012 holte ein junger Berufskollege die erfahrene Buchhändlerin in seine Buchhandlung „Die Eule“ nach Weimar. Nach 30 Berufsjahren brauchte Simone Zopf dann frischen Wind; nach ersten Erfahrungen als Verlagsvertreterin in 2015 möchte sie zukünftig hier anknüpfen.

„Wir Buchhändler haben im Grunde mit viel Aufwand den Mangel verwaltet.“ – Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Maritta Tanzer, Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Simone Zopf ihre Erinnerungen. Sie kam 1981 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und blieb dem Beruf über 30 Jahre treu.

Warum hast du dich für den Beruf des Buchhändlers entschieden?

Ich konnte lesen – das war schon einmal ein guter Anfang. Buchhändler war der einzige Beruf, den ich wirklich lernen wollte. Die Vorstellung der großen, offenen, vielfältigen Welt der Bücher und Schriftsteller hat mich fasziniert. In der Schule war ich eine der wenigen, die Literaturunterricht spannend fanden, fast ein Exot in meiner Klasse und so hoffte ich, in der Berufsausbildung Gleichgesinnte zu finden, denen Bücher so viel bedeuteten wie mir. An der Berufsschule für Buchhändler in Leipzig und auch in der Buchhandlung in Halle habe ich genau dies in einigen (wenigen) Lehrern, Kollegen und Mitschülern gefunden. Wir haben sehr viel gelesen, mit und für Bücher gelebt und diese wertgeschätzt.

Die Verlage und der Buchhandel gehörten zum kulturellen Bereich in der DDR, so wie Film, Theater, Kunst, Bibliotheken und Museen.

Selbstverständlich war es in der DDR nicht, dass man seinen Wunschberuf ergreifen konnte …

Nein, das war es nicht. Für meinen Jahrgang war genau eine Ausbildungsstelle als Buchhändler im zentral herausgegebenen Lehrstellenverzeichnis der Stadt Halle verzeichnet. Jeder Schüler erhielt in der 9. Klasse eine einzige Bewerberkarte und nur mit dieser konnte man sich auf genau eine Stelle bewerben.

War dir bewusst, dass dem Buchhandel eine erzieherische Funktion zugedacht war und er dementsprechend auch in der Pflicht stand, politisch genehme „Schwerpunkttitel“ zu vertreiben?

Nein, in diesem frühen Stadium nicht. Allerdings haben wir davon in unserer Ausbildung schnell und umfassend erfahren. Aber verinnerlicht? Eher nicht. Es gab in der DDR ein „Lehrbuch für Buchhändler“. Daraus konnte ich lernen, zum Beispiel dass „Die Triebkraft im kapitalistischen Verlagswesen und Buchhandel ist das Streben nach Profit“ während „In der sozialistischen Gesellschaf (es) Aufgabe des Verlagswesens und Buchhandels (ist), zur immer besseren Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung beizutragen“. Worthülsen angesichts der Realität in der DDR und der Arbeitswirklichkeit in den Buchhandlungen.

Wie sah denn die Wirklichkeit in der Buchhandlung aus?

LKG Umfrage Ende 1960er Jahre (1)

LKG Umfrage Ende 1960er Jahre (1)

Die Buchhandlung war alt, schlecht zu heizen, durch Umbauten im sozialistischen Stil verhunzt, z.B. Kassenhäuschen mit Glasscheibe wie in der Kaufhalle. Die Kunden durften nur mit einem am Eingang bereitstehendem Korb durch den Laden gehen (Anzahl limitiert), mussten die Bücher kaufen, die halt gerade da waren und dann die gekauften Bücher selbst einpacken (wenn Papier da war). Kundenservice Fehlanzeige. Tatsächlich war der Kunde nicht willkommen. Das war DDR Alltag.

Auf ungefähr 400 qm Verkaufsfläche kamen 40 Mitarbeiter (Laden, Büro, Hauptkasse, Hausmeister, Wareneingang, Abholfach, Parteileitung, Buchhandelsleiter….) Viele Mitarbeiter und doch wurde nicht genug gearbeitet. Und wir als Buchhändler haben im Grunde mit viel Aufwand den Mangel verwaltet.

Wie schätzt du deine Lehrzeit bei „Das Gute Buch“ im Rückblick ein?

Anfangs eröffnete sich mir tatsächlich eine neue, weite Welt. Ich lernte noch einige Kollegen aus der alten Buchhandelszeit kennen, vielleicht kann ich sie als bürgerlich bezeichnen, die waren irgendwie anders, nicht politisch durchdrungen, normal eben. Im Unterschied zu den jüngeren, politisch gebundenen Kollegen, die selbst schon die Stufen der politischen Erziehung durchlaufen hatten. Dazu kamen wir – Lehrlinge und sogenannte Jungfacharbeiter. Wir waren doch sehr anders (meinten wir jedenfalls damals) und haben versucht in diesen, für uns antiquierten Strukturen neue Wege zu finden. Aber vieles war so eng, so begrenzt, so unbeweglich. Andererseits waren wir irgendwie ganz normale Kollegen, haben gelacht, gestritten, gefeiert und ein bisschen gearbeitet 🙂

Gab es etwas, was dich als Lehrling besonders „genervt“ hat?

Die Arbeitszeit von 8,45 Stunden plus Pausen war in 2 Schichten eingeteilt. 7:00 Uhr bis 16:30 Uhr oder 9:00 Uhr bis 18:00 Uhr. Früh 7 Uhr (!) wurde mit Staubtuch, Wasser und Lappen alles durchgeputzt. Jeden Tag. Alle Regale. Im Alter von 16/17 Jahren empfand ich das als ziemlich sinnlos. Das ganze Land war dreckig und ich sollte um 7 Uhr morgens dagegen ankämpfen…

So habe ich sehr gern und oft meinen Dienst gegen die Spätschicht getauscht, oder einfach länger geschlafen. Natürlich gab es dann auch Ärger, aber who cares, niemand konnte entlassen werden in der DDR. Immerhin habe ich so meinen Ausbildern eine gute Gelegenheit verschafft, an mir im Sinne des Sozialismus erzieherisch tätig zu werden….

Wie bewertest du den theoretischen Unterricht an der Leipziger „Berufsschule für Buchhändler“ aus heutiger Sicht?

LKG Umfrage Ende 1960er Jahre (2)

LKG Umfrage Ende 1960er Jahre (2)

Das war eine inhaltlich sehr gute, fundierte, umfangreiche Ausbildung. Sehr besonders waren die Fächer „Literaturkunde“ und „Wissenschaft und Technik“. In Literatur wurden uns sehr gründlich Literaturkenntnisse aller Epochen vermittelt. Hauptaugenmerk lag allerdings auch hier auf der sozialistisch geprägten Literatur: sozialistischer Realismus, Bitterfelder Weg, Sowjetliteratur oder den bürgerlichen Schriftstellern, die ins ideologische Bild der DDR passten bzw. passend gemacht wurden wie zum Beispiel Arnold Zweig.

Das Fach „Wissenschaft und Technik“ unterrichtete eine sehr kluge, für uns allwissende Lehrerin. Hier ging es nur um Fakten. Basiswissen aus wirklich allen Fachgebieten. Medizin, Technik, Bergbau, Sprachen, Philosophie, Pädagogik, Chemie… Die ganze Bandbreite des Sortiments und das ganze praktisch unpolitisch. Eine Oase in der Ausbildungszeit. Die Tiefe und Breite dieses Unterrichts war genau die Art von Horizonterweiterung, die ich brauchte. Je mehr ich hörte, desto mehr wollte ich wissen und lesen und diskutieren und dabei sein. – Im Laufe des Buchhändlerjahre kam dann allerdings die Erkenntnis: Das Wissen eines Buchhändlers ist Fußballfeld groß, aber nur Spatentief. 😉

Welchen Anteil hatte die Staatsbürgerkunde im Rahmen deiner Ausbildung?

Kannten wir alles schon aus vier Schuljahren an der POS. Da war Staatsbürgerkunde auch schon langweilig. Es gab kein Entrinnen. Allerdings versuchten wir im Unterricht immer zu diskutieren. Die Klassenstruktur war recht durchmischt, kirchlich Gebundene, politisch Korrekte, Suchende, Zweifelnde und Gleichgültige, denen eine politisch linientreue Staatsbürgerkundelehrerin gegenüberstand. Die Diskussionen hörten an der Schultüre nicht auf. Hier prallten Welten aufeinander. Aber es war spannend.

Worauf wurde während deiner Ausbildung besonders großen Wert gelegt?

Die Ausbildung allgemein war schon darauf angelegt, aus uns nützliche Glieder der Gesellschaft zu schmieden. Egal, was gearbeitet wurde – Bücher verkaufen, Straßenbahn fahren, Häuser bauen – das waren offiziell nicht einfach nur Tätigkeiten, nein, alles wurde politisch überhöht und sollte immer ein Kampf für Frieden und Sozialismus sein. Ich hatte aber auch das Glück, noch auf einige ältere, erfahrene Buchhändler zu treffen, die mir weitab vom Politischen noch etwas vom ursprünglichem Beruf des Buchhändlers lehren konnten: Wissen, Zuhören, Belesenheit, Klugheit, Umgang mit Menschen, Integrität.

Schlussendlich haben wir unsere Arbeit getan. Die große Aufgabe – Sozialismus bla, bla – hat uns in der täglichen Arbeit nicht interessiert.

Was war während deiner Lehrzeit Pflichtlektüre?

Zwischen ungeliebten Ladenhütern (hohe Auflagen, praktisch immer in der Buchhandlung verfügbar) – Willi Bredel, Hans Marchwitza, Erik Neutsch – und begehrten Büchern (kleine Auflage, selten zu haben) – de Bruyn, Cibulka, Fritz Erpenbeck, Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller – gab es die breite Masse an Titeln, die so schlecht nicht war und in Ermangelung besserer Bücher gekauft wurde. Zwischen all diesen Titeln lag auch unsere Pflichtlektüre. Sehr viel Wert wurde auf Buchbesprechungen gelegt. Die haben wir sehr oft geschrieben. Manchmal nicht gern …

Spielten die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ und das „Statut für den Volksbuchhändler“ noch eine Rolle?

Wenn es diese Ordnung gab, sollte ich davon während meiner Buchhändlerzeit gehört haben. Allerdings scheint es mich nicht nachhaltig beeindruckt zu haben, bzw. war es für die tägliche Arbeit nicht von Belang, sodass mir die Inhalte in Vergessenheit geraten sind. Während der täglichen Arbeit war es eben doch wichtiger, die Kartei ordentlich zu führen, ohne Differenzen an der Kasse zu arbeiten, Buchlaufkarten korrekt auszufüllen oder Bücher auf einer Palette so aufzubauen, dass sie nicht umfielen. Vielleicht stand das ja drin. Dann habe ich doch etwas daraus gelernt 😉

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Nach dem Abschluss der Polytechnischen Oberschule (POS) absolvierte Simone Zopf (geb. 1965) zwischen 1981 und 1983 ihre buchhändlerische Lehre in Halle/Saale bei „Das Gute Buch“, der größten Volksbuchhandelsfiliale im Bezirk Halle. Nach der Übernahme durch ihren Ausbildungsbetrieb war sie dort für die Sortimente Fachbuch und Gesellschaftswissenschaften zuständig. Umzug nach Erfurt, wo sie ab 1988 im „Antiquariat des Volksbuchhandels“ tätig war. Die Leiterin des Antiquariats, das damals fünf Mitarbeiter hatte, wagte nach der Wende den Schritt in die Selbstständigkeit.

1992 kam Simone Zopf zu „Peterknecht“. Dort war sie 20 Jahre lang beschäftigt; zunächst für das Fachbuch verantwortlich, in späteren Jahren dann für Belletristik und als 1. Sortimenterin. Im Sommer 2012 holte ein junger Berufskollege die erfahrene Buchhändlerin in seine Buchhandlung „Die Eule“ nach Weimar. Nach 30 Berufsjahren brauchte Simone Zopf dann frischen Wind; nach ersten Erfahrungen als Verlagsvertreterin in 2015 möchte sie zukünftig hier anknüpfen.

Die unglaubliche und eigentlich unwahrscheinliche Geschichte der ersten West-Buchhandlung in der DDR

Ein Gastbeitrag von Theo Schäfer

Alles war anders als vorher – aber nachher war auch wieder alles anders

Als am Montag, dem 18. Dezember 1989 gegen 8 Uhr in der Früh eine fahle Wintersonne ihre ersten tastenden Strahlen vom östlichen Horizont nach Dresden sickern ließ, waren sie gerade noch stark genug, winzige Feuerblitze an den güldenen Flanken des Goldenen Reiters zu entfachen. Die Szene, die sich den Augen des seit Jahrhunderten nach Osten galoppierenden August des Starken darbot, war eigentlich gespenstisch. Neben dem Sockel seines Denkmals endete eine dunkelgraue, nahezu unbewegliche Kolonne von Menschen, die mehre hundert Meter lang in Dreier- und Viererreihen in die Straße der Befreiung hineindrängte. Das Ziel dieser nur leise in sich wogenden grauen Masse war der Eingang zu dem an diesem Tage eröffneten Club-Center des Bertelsmann Buchclubs.

Dass in diesem Menschen-Konvolut Leben herrschte, war vor allem daran abzulesen, dass der Atem aller hier Wartenden in der 16 Grad kalten Winterluft zu kurzlebigen Eisfähnchen erstarrte. Ich stand dieser Szenerie völlig hilflos gegenüber, wissend, wie klein unsere Buchhandlung war, ahnend, wie unendlich lang diese Menschen in der klirrenden Kälte auszuharren haben würden. Ein Kollege ließ sich mit dem Auto an der wartenden Menschenmenge entlang fahren, streckte seinen Kopf durch das geöffnete Schiebedach, forderte die Menschen mit Hilfe eines Megaphons dazu auf, angesichts der Kälte nach Hause zu gehen: „Wir sorgen dafür, dass Sie alle die gewünschten Bücher erhalten, morgen gegen 8 Uhr kommt schon die nächste Lieferung, da müssen Sie dann nicht mehr so lange warten!“

Kein einziger Mensch verließ die Warteschlange. Augenzeugen berichteten später, diese Warteschlange sei deutlich länger gewesen, als jene vor den ersten Visa-Schaltern für Westreisen. Übrigens war die Schlange am nächsten Tag nicht kürzer, am übernächsten Tag genauso wenig – sie war im wortwörtlichen Sinn zu einer stehenden Einrichtung der Straße der Befreiung geworden und blieb es auch bis zum endgültigen Ladenschluss zehn Tage später.

Am 9. November war die Mauer gefallen, nichts war mehr wie vorher. Dass fünf Wochen später in der Straße der Befreiung 36 ein komplett eingerichteter, moderner und schöner Buchladen seine Pforten öffnen konnte, hat natürlich eine Vorgeschichte, eine sehr kurze, sehr dramatische, sehr schöne Vorgeschichte.

Zwei Versionen leben in der Erinnerungen derer, die damals dabei gewesen sind: Die eine erzählt, dass der charaktervolle und angstfreie Dresdener Oberbürgermeister, ja, genau jener, der als erster mit den „Konterrevolutionären“ sprach und sie um einen runden Tisch versammelte, also Wolfgang Berghofer, den Vorstandvorsitzenden der Verlagsgruppe „Gruner & Jahr“, die zum Medienkonzern Bertelsmann gehörte und gehört, die Frage gestellt hat, ob es denn denkbar und möglich sei, für die Bürger Dresdens noch vor Weihnachten einen westlichen Buchladen zu eröffnen. Die andere Version erzählt, dass aus dem Druckmaschinen-Kombinat „Planeta“ in Dresden, zu dessen größten Kunden Bertelsmann gehörte, der entscheidende Tipp an den Rat der Stadt Dresden ergangen sei. Und dass daraufhin der stellvertretende Bürgermeister die Bertelsmänner zu einem vorweihnächtlichen Testverkauf eingeladen habe. Wahrscheinlich ist an beiden Versionen etwas dran.

Von nun an wurde es turbulent, kurz darauf wuchs aus der Turbulenz hechelnde Hektik: Am 4. Dezember beschloss die Geschäftsleitung des Bertelmann Clubs, noch vor den Festtagen einen kompletten Buchladen in Dresden zu eröffnen. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis darauf dienlich, dass man damals in Dresden weder einen Nagel, noch einen Sack Gips oder gar ein Buchregal hätte kaufen können. Vorhanden waren zwei nackte, kahle Räume, von der Stadt zur Verfügung gestellt. Alles andere musste aus dem provinziellen ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück in die geschichtspralle Residenzstadt Dresden gekarrt werden. Und man nahm sich immerhin 14 Tage Zeit, um zu planen, die erforderliche Mannschaft zu definieren und zu informieren, Bücher, Mörtel, Nägel, Schrauben und Mobiliar zu organisieren, die erforderliche Bürokratie zu bewältigen, Werbematerialien inklusive Beitrittserklärungen zu drucken. Darf doch ein Buchclub die deutlich preisgünstigeren Lizenzausgaben ausschließlich an eingetragene Mitglieder verkaufen.

Alles schien wie am Schnürchen zu laufen. Zumindest was die DDR-Obrigkeit betraf – sie schien gar nicht vorhanden zu sein, offensichtlich war alles von höherer Stelle mit höchstem Wohlwollen gesegnet worden. Keiner fragte nach Genehmigungen, niemand interessierte sich für Beglaubigungen, keiner kümmerte sich um Berechtigungen. In der Straße der Befreiung war man – zum ersten Mal in der Geschichte dieser Straße mit dem so schönen Namen – von allem befreit!

Trotzdem gab es sehr dramatische Stunden, als unsere beiden Sattelschlepper bei Bad Hersfeld vom bundesrepublikanischen Zoll festgehalten worden: Ein bornierter und besonders blöder Beamter wollte überprüfen, ob die irgendwo in einem der beiden Sattelschlepper verstauten mehrere Jahre alten Registrierkassen nicht aufgrund des Technologietransfergesetzes Einreiseverbot bekommen müssten. Als ich dann im zuständigen Bonner Ministerium dem entsprechenden Ministerialdirigenten mitteilte, er werde am kommenden Tag in der BILD-Zeitung als „Deutschlands dümmster Beamter, der den Dresdener Brüdern und Schwestern die Weihnachtsfreude nicht gönnt“ auf der Titelseite prangen, kam das Signal für freie Fahrt sehr flott. Nobel war das nicht von mir, aber die Story war tatsächlich abgesprochen und kein Bluff. Jeder Journalist hätte im Wirbel des Ost-West-Freudentaumels damals mitgemacht. Und mich hat nie ein Gewissensbiss in diesem Kontext geplagt.

pixabay public domain

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Von diesem 4. Dezember an war alles in Bewegung – nur August der Starke blieb ganz ruhig und unbewegt, galoppierte standhaft gen Osten, ganz so wie er es seit dem Jahre 1734 zu tun pflegt. Alle anderen Menschen an diesem Ort gaben sich den Tagwerken und ohne Pause den Nachtwerken hin. Als man begann, die Schaufenster zu dekorieren, wurden im Lager die Wände noch mit Gips geglättet und dann weiß gepinselt. Und am Sonntag, dem 17.12. war tatsächlich alles Fertig, auch die beteiligten Mitarbeiter. An den Schaufensterscheiben drückten sich viele Neugierige die Nasen platt, wurden natürlich eingelassen, bestaunten die 10.000 Bücher in den Regalen, unterschrieben die Beitrittserklärung und so verfügte der DDR-Club vor der Eröffnung bereits über 1200 Mitglieder – ein in der über 40jährigen Clubgeschichte einmaliger Vorgang.

Einmalig war auch das Interesse der Medien, und das war keineswegs den so besonders tüchtigen, wackeren und emsigen Club-Mitarbeitern zu danken. Begab es sich doch am nämlichen Tag, dass es Helmut Kohl gefiel, Dresden seinen allerhöchsten Besuch abzustatten. Diesem Umstand war es zu verdanken, dass 14 TV-Teams erschienen, von Radio- und Print-Journalisten ganz zu schweigen. Rundherum war alles eitel Wonne – nur die Leiterin der uns benachbarten volkseigenen Buchhandlung „Bücherstube Gutenberg“ war durch die Diskrepanz zwischen der eigenen Situation mit der entsetzlich mangelhaften Bücherversorgung, der absolut schleppenden Renovierung ihres total verstaubten Ladens und der auch für Wessis atemberaubenden Geschwindigkeit unseres Ladenprojekts so frustriert, dass sie ihre Bücherstube resigniert zusperrte. Für einige Journalisten ein gefundenes Fressen, um über uns herzuziehen, was uns nicht egal, sondern scheißegal war.

Bereits am Montag traf sich die Club-Mannschaft mit 20 der damals 27 Dresdener Buchhändlern zu einem gründlichen, absolut amikalen Informations-Austausch. Vom ersten Tag an gab es unzählige freiwilligen Helfer, mit Hilfe der Dresdener Presse war es auch gelungen, die Menschen so zielgerichtet zu informieren, dass „nur“ noch mit zwei- bis vierstündigen Wartezeiten zu rechnen war. Das klingt aus heutiger Sicht völlig verrückt, aber zuvor gab es Menschen, die sich um 4 Uhr früh anstellten, um dann gegen Mittag mit den gewünschten Büchern nach Hause zu gehen.

Nach 10 Tagen wurde dieser „Probeverkauf“ beendet. Am 29. Dezember wurde die Tür um 13 Uhr gesperrt, an die noch Wartenden wurden als Trostpflaster die noch vorhandenen Straßenkarten und Reiseführer verschenkt, vorher noch dem 30.000 Clubmitglied mit Blumen und Sekt gratuliert, der Laden blitzblank geräumt und dann der Kassensturz zelebriert. Dazu muss darauf hingewiesen werden, dass wir alle Bücher zum Einheitspreis von 5 Ost-Mark verkauft haben. In der Kasse lagen 831.650 Ost-Mark. Die sofort auf ein Dresdener Bankkonto flossen, um dort auf den 1:1–Umtausch zu warten. Klar war bei uns eines: Diese Summe sollte ohne jeden Abzug den Dresdenern zugutekommen – in welcher Form auch immer.

In Rheda und Gütersloh begann man ungesäumt: Die Fundamente einer gesellschaftsrechtlich fundierten Firma mussten erstellt, urheberrechtliche Fragen geklärt, lager- und produktionstechnische Probleme gelöst und Standorte für Filialen gefunden werden. Innerhalb eines guten Jahres gab es zwischen Rostock und Suhl 21 Filialen und rund 1 Million Mitglieder der Firma „Deutscher Bücherbund“. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die unglaublich und fast unglaubwürdige Geschichte des ersten West-Buchladens in der DDR verdient aber noch eine Schluss-Pointe – nein, das ist mir viel zu wenig: Sie verdient ein Happy End, und just dieses vermag ich zu liefern: Als der 1:1 – Austausch DDR-Mark – DM über die Bühne gegangen war, erhielt der Dresdener Kreuzchor nach über 70 Jahren wieder eine eigene Orgel für – wenn ich mich recht erinnere – rund 275.000 DM. Der Rest des Geldes floss in Bibliotheks-Mobile, weil viele Vorstadt-Bibliotheken schließen mussten und in andere Projekte des Sozialfonds der Stadt.

Als ich viele Monate später zum ersten Mal die Engelsstimmen der Kruzianer mit der Begleitung „unserer“ Orgel hörte, rollten ein paar Freudentränen über meine Wangen – erstens weil sie wirklich himmlisch sangen und zweitens, weil ich unendlich dankbar dafür war, jene 10 magischen Tage in Dresden zum Teil miterlebt zu haben.

© Theo Schäfer

Theo Schäfer, Jahrgang 1942, Dr. phil., freier Journalist, Verlagslektor bei Hoffmann & Campe, Pressechef des ORF, Chefredakteur HÖRZU Österreich, Pressechef Bertelsmann AG, 1989 Mitglied der Geschäftsleitung des Bertelsmann Clubs, verantwortlich für Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit

„Der Begriff ‚Leseland‘ müsste neu aufgerollt werden.“ Gespräche mit ehemaligen Volksbuchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Maritta Tanzer ihre Erinnerungen. Sie kam 1961 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und ist bis zu ihrem Renteneintritt im Jahr 2007 eine Buchhändlerin aus Leidenschaft geblieben.

Frau Tanzer, im ersten Teil unseres Gespräches (den man hier nachlesen kann) haben wir u.a. auch darüber gesprochen, welche Titel im Sortiment häufig gefehlt haben. Was ging bei Ihnen wie „geschnitten Brot“?

Doppelbödige Texte. Sozialistische Gegenwartsliteratur, die versteckte Kritik übte, die ging „wie geschnitten Brot“, auch „unter dem Ladentisch“ weg. Hermann Kants „Aula“, Christa Wolf, Brigitte Reimann, K.H. Jacobs, die Strittmatters, um hier nur einige gängige Autoren aus meinen Anfangsjahren im Buchhandel zu nennen. Unvergesslich bleibt mir die Leipziger Herbst-Buchmesse im Jahr 1965. Vor dem ehemaligen Buchmessehaus am Alten Markt habe ich gemeinsam mit Erik Neutsch dessen Neuerscheinung „Spur der Steine“ verkauft. Etwa 200 Exemplare (natürlich mit Autogramm) gingen binnen kurzer Zeit weg. Das wäre heute ein Traumergebnis – und das mit Literatur, die im Zuge des Bitterfelder Weges entstanden ist.

War das alles nur „unter dem Ladentisch“ zu haben?

Kants „Aula“, 1965 erschienen, war anfangs sehr gefragt, später aber fast immer im Sortiment vorrätig. Auch Strittmatters Bücher gab es nicht nur unter dem Ladentisch – doppelbödig und aufregend war von ihm eigentlich doch nur „Ole Bienkopp“, erstmals 1963 erschienen. Doppelbödig war Christa Wolf. Nehmen wir beispielsweise ihren 1976 erschienenen Titel “Kindheitsmuster“, in dem der ganz normale Alltag im Nationalsozialismus ein Thema war. Erstmals in der DDR-Literatur war das ein Thema. Oder ihre „Kassandra” aus dem Jahr 1983 – die ersten Auflagen von diesem Buch gab es tatsächlich nur unter dem Ladentisch. Meine eigene “Kassandra”-Ausgabe hat eingeklebte Streifen. – Ich hatte mir die geschwärzten Stellen besorgt, abgeschrieben und in meine DDR-Ausgabe eingeklebt. Doppelbödige Texte, die sehr gefragt waren, gab es allerdings nicht nur bei der deutschen, sondern in der Perestroika-Zeit eher noch bei der sowjetischen Literatur. Da waren auch die Kinos zur “Woche des sowjetischen Films” rammelvoll. Daniil Granins „Sie nannten ihn Ur“ bekam man 1988 nur unter dem Ladentisch.

Sie haben ganze Passagen aus Büchern abgeschrieben?

Ich habe vieles abgeschrieben, ganze Bücher. Biermanns “Drahtharfe”, 1965 bei Wagenbach in West-Berlin erschienen, habe ich komplett in einer Nacht kopiert, weil ich das Buch am nächsten Tag an eine Ausstellerin aus der BRD zurückgeben musste.

Welche Möglichkeiten haben Sie darüber hinaus genutzt, um an Bücher zu kommen, die der Zensur zum Opfer gefallen waren?

Maritta Tanzer bei der Inventur © privat

Maritta Tanzer bei der Inventur (nach der Wende) © privat

1963 war bei „Volk und Welt“ erstmals Jewtuschenko erschienen – ein Gedichtband. Mir ist es mit Jewgeni Jewtuschenko ähnlich ergangen wie mit Wolf Biermann. Ich fand seine Texte faszinierend aufmüpfig. Wegen dem darin enthaltenen Gedicht „Babi Jar“, in dem Jewtuschenko dem Massenmord an Kiewer Juden im Jahr 1941 gedenkt, wurde der Titel einige Tage später eingezogen und auch aus den Bibliotheken entfernt. Leider waren die zwei, drei Exemplare, die wir von der Auslieferung erhalten hatten, bereits am ersten Tag verkauft. Ich hatte das Buch, aus welchen Gründen auch immer, leider verpennt. Zum Glück hatte ich damals eine Freundin an der Theaterhochschule, die es aus der dortigen Bibliothek ausgeliehen hatte, bevor es aus dem Bestand entfernt wurde. Es ging “verloren“ und musste deshalb von meiner Freundin bezahlt werden. Bis heute steht es mit Bibliotheksstemmpel in meinem Bücherschrank. Anderenfalls wäre es sicher eingestampft worden.

Wie lief das mit Titeln aus dem sogenannten nicht-sozialistischen Ausland?

Die Devisen, die nötig gewesen wären, um Rechte von westlichen Verlagen zu bekommen, waren ja mehr als beschränkt. Viele Kinderbücher und moderne Autoren konnten auch aus diesem Grund nicht oder nur in geringen Auflagen erscheinen. „Pippi Langstrumpf“ erschien in der DDR einmal in einer kleinen Taschenbuchausgabe. Wir erhielten sie so gekürzt, dass es gerade einmal für die Kinderbibliothek und die eigenen Kollegen mit Kindern oder Enkeln gereicht hat. Ähnlich war es zum Beispiel mit Büchern von Erich Kästner.

Wie sind Sie dennoch an Bücher von West-Verlagen gekommen?

In den Internationalen Buchhandlungen ließen sich manchmal Autoren aufstöbern, deren Rechte westliche Verlage innehatten. Der Sowjetunion war, wie Sie vielleicht wissen, das Copyright ziemlich wurscht. Über diesen Umweg konnte man an Titel in deutscher Sprache gelangen (meist lediglich mit einem russischsprachigen Vorwort versehen), die in der DDR nie erschienen wären. Ich besitze zum Beispiel Ausgaben von Remarque. Dessen Roman „Im Westen nichts Neues“ wurde im Original in der DDR ja erst 1989 veröffentlicht.

Entdeckergeist und Erfindungsreichtum waren demnach vom Buchhändler im starken Maße gefragt?

Wenn ich von mir und meinen langjährigen Kolleginnen ausgehe: Wir hatten immer viel Freude daran, lesbare Bücher für unsere Kunden aufzustöbern. Viele dieser Bücher, die vor der Wende oft, leider nicht immer, im Laden standen, sind heute vom Markt verschwunden. Diese Kostbarkeiten haben wir über die Jahre gehegt und immer wieder gerne verkauft. Eines davon ist heute noch mein Lieblingsbuch, nämlich „Der Fremde von Barra“ vom kanadischen Autor Fred Bodsworth. Die deutsche Übersetzung ist 1965 im Aufbau Verlag erschienen und leider nur noch antiquarisch erhältlich.

Der Bestand an lieferbaren Titeln war so übersichtlich, dass wir ausreichend Zeit für die Suche nach besonderen Büchern hatten. Und da gab es, wie heute auch, einige Entdeckungen zu machen, die man dem Kunden gerne vermittelte. Das war immer sehr schön für uns, wenn sich Kunden beraten lassen wollten. Neben den von ihnen angesprochenen Ladenhütern, gab es durchaus Nischenprodukte. Zum Beispiel aus dem LDPD-Verlag „Buchverlag Der Morgen“, die wir gern empfohlen haben. Wie viele andere DDR-Verlage existiert dieser Verlag heute auch nicht mehr.

Was ging nur mäßig über die Ladentheke?

Natürlich standen Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung (Gotsche, Bredel und andere Namen), aber auch geförderte, mittelmäßige Autoren, die alle schon in der x-ten Auflage erschienen waren, wie Blei im Regal. Das betraf in erster Linie die Bücher aus dem Mitteldeutschen Verlag. Wir mussten Buchlaufkarten führen, um die Titel im Blick zu behalten und den Verkauf nachzuweisen. Abgesehen von einem gewissen Grundsortiment aus dem Dietz-Verlag hatten wir die Regale übrigens nie voller unverkäuflicher Literatur. Dabei halfen auch die Buchlaufkarten. Meiner Erinnerung nach gab es eher Zeiten, wo wir mangels Masse viele Bücher frontal gestellt haben.

Buchlaufkarten – ein Mittel zur Kontrolle?

Mittels der Buchlaufkarten sollten diese Titel immer wieder nachbestellt werden und am Lager gehalten werden. In Leipzig kamen regelmäßig zwei Autoren in die Buchhandlung, um zu kontrollieren, dass ihre Bücher auch im Sortiment standen – Hildegard Maria Rauchfuss und Ferdinand May (der Vater von Gisela May). Die haben sich dann beim Verlag beschwert, wenn sie ihre Bücher nicht im nicht Sortiment gefunden haben.

Die Leipziger Buchhandlung „Am Neumarkt“ war zu Ihrer Zeit Testbuchhandlung des Staatsverlags. Erhoben wurden dort Daten für die Programm- und Auflagenplanung.

Ja, genau. Die Volksbuchhandlung „Buch und Kunst“ in Dresden, wo ich meine buchhändlerische Lehre absolviert habe, war sogar für zwei Verlage Testbuchhandlung: Für den Verlag Bauwesen und den Transpress-Verlag für Verkehrswesen. Übrigens hatten nur die Testbuchhandlungen das vollständige Sortiment des jeweiligen Verlages vorrätig zu halten. In Leipzig, in der Buchhandlung “Am Neumarkt“, waren es der Verlag Wirtschaft und der Staatsverlag. Später in Freiberg dann der Verlag für Grundstoffindustrie. Etliche Titel dieses Verlages werden heute antiquarisch gesucht, weil es nichts Besseres für bestimmte Spezialgebiete gibt.

Wie war das mit der Parteiliteratur?

Die Genossen, die in den Betrieben die unselige Parteiliteratur verkaufen mussten, waren schon bemitleidenswert. Denn irgendwann hatten ihre Mitgenossen weder die Lust, das Zeug zu lesen, noch den Willen, es zu bezahlen, auch wenn es sich nur um Pfennigbeiträge handelte. Die Bestände stauten sich dann in den Buchhandlungen, was den Warenbestand belastete.

Zu DDR-Zeiten war das Buch nicht nur eine begehrte Ware, sondern auch ein beliebtes Tauschobjekt…

Der Begriff „Leseland DDR“, mit dem sich der Staat gerne geschmückt hat, müsste für meine Begriffe neu aufgerollt werden. Viele Kunden haben rare Titel bestellt, ob sie die je gelesen haben, weiß ich nicht. Für viele (nicht alle) waren Bücher Statussymbole oder auch Geldanlagen als Ersatz für Dinge, die sie sowieso nicht kriegen konnten (wie etwa Reisen, Konfektion, Elektronik). Mangels anderer Alternativen waren Bücher natürlich auch Geschenkartikel. Für uns Buchhändler – auch nicht für alle – waren sie bisweilen auch Tauschobjekte. Ja, irgendwann benötigten auch unsere Kinder einen neuen Anorak oder Vitamine im Winter. Und nach Ladenschluss war das eben nicht mehr zu bekommen.

Meine Skizze wirft mehr Fragen auf als sie Antworten geben kann. Wo haben Sie besonders viele Fragezeichen gesetzt?

Einige Punkte habe ich ja bereits angeschnitten. Besonders aufgestoßen ist mir, dass die Skizze den Eindruck erweckt, als sei der Alltag des Buchhändlers in der DDR freudlos gewesen. Trotz der geringen Auswahl, die es gab, und trotz aller Widrigkeiten, die ich erlebt habe, hat der Beruf des Buchhändlers in der DDR Spaß gemacht. Wir haben beileibe nicht den ganzen Tag an Partei und Regierung gedacht. Ich meine, dass Sie das in Ihren Ausführungen zu verbissen sehen. Ein wichtiger Grund ist zudem, dass die Kollegen sich lange kannten, über viele Jahre hinweg (in der Akademischen Buchhandlung in Freiberg sogar bis heute) zusammengearbeitet haben und viele Schwierigkeiten auch mit Humor umschifften. Ich glaube, solche „Kollektive“, wie sie in der DDR gang und gäbe waren, sind heute rar. Ich sehe nicht, dass wir damals groß gelitten hätten.

Auf jeden Fall möchte ich Ihnen vermitteln, dass ich (wie viele meiner Kolleginnen) trotz aller Widrigkeiten mit Leib und Seele Buchhändler war. Wenn wir uns heute treffen, sprechen wir weniger über die Schwierigkeiten, sondern eher über sehr lustige Weihnachtsfeiern, Wanderungen, Betriebsausflüge, die es so heute nicht mehr gibt. Und die – auch wenn angeordnet gewesen war, darüber einen Artikel für das Brigadetagebuch zu verfassen – ungeheuer Spaß gemacht haben.

Gibt es etwas, was Sie aus dem DDR-Buchhandel gerne in die Bundesrepublik „rübergerettet“ hätten?

Maritta Tanzer beim Verkauf © privat

Maritta Tanzer beim Verkauf (nach der Wende) © privat

Während meiner Zeit in der „Akademischen Buchhandlung“ existierte ein System von monatlichen Ausstellungen, die in den jeweiligen Speiseräumen der Betriebe in und um Freiberg herum stattfanden. Jeder Kollege war für zwei Betriebe zuständig. Für die Ausstellungen wurde monatlich Literatur gesammelt. Nur so konnte möglich gemacht werden, dass die Beschäftigten in den Betrieben wenigstens begrenzt zu Büchern kamen, die sie im Laden nie gesehen hätten. Der Andrang in der Mittagspause war immer irre. Und die Hemmschwelle für viele, die nie eine Buchhandlung betreten hätten, war beseitigt.

Fächer, in denen Bücher gesammelt wurden, existierten bei uns auch für die sogenannten Vertriebsmitarbeiter, für die ich in der „Akademischen Buchhandlung“ verantwortlich gewesen bin. Wir hatten circa 70. Das waren literaturinteressierte Mitarbeiter in Betrieben, Schulen, Instituten und Bibliotheken, aber auch in den umliegenden Dörfern, die Bücher im Namen unserer Buchhandlung verkauften. Dafür bekamen sie eine Aufwandsentschädigung. Bei uns waren es zehn Prozent. – Ich weiß, dass all diese Dinge im heutigen Buchgeschäft weder praktikabel noch nützlich wären. Ich möchte Ihnen anhand dieser Beispiele lediglich einige Besonderheiten des DDR-Buchhandels vor Augen führen.

Was stößt Ihnen im Vergleich zur DDR beim heutigen Literaturbetrieb auf?

Die Titelflut mit unendlich viel Müll, die Fokussierung auf die Bestsellerlisten, die Rückgabe vom Hardcover nach nur sechs Monaten, die Unmengen von Remittenden, besonders im Taschenbuchbereich, empfinde ich aus ökonomischer Sicht ähnlich wie das Entsorgen der überflüssig gewordenen Literatur in den stillgelegten Braunkohletagebau Espenhain um die Wendezeit. Man braucht Zeit zur Sortimentspflege, d.h. längere Verweildauer belletristischer Titel im Sortiment, damit sich der Buchhändler vertraut machen kann mit dem, was er verkaufen will. Und die Riesenbuchhandlungen, deren Sortimente die Leute fast erschlagen, sind auch nicht das, was ich mir als Buchhändler mal erträumt habe.

Liebe Frau Tanzer, herzlichen Dank für diesen Einblick. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir im Gespräch blieben.

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Maritta Tanzer (geb. 1944) absolvierte zwischen 1961 und 1964 ihre buchhändlerische Lehre in der Volksbuchhandlung „Buch und Kunst“ in Dresden. Bis in die heutigen Tage wird ihr damaliger Chef, Hans Führer, von den Ehemaligen als Vaterfigur verehrt. 1964 wechselte sie nach Leipzig in die Volksbuchhandlung „Am Neumarkt“, die 1967 mit der „Hinrichs’sche Buchhandlung“ zusammengelegt wurde. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrausbilderin war sie dort für die Belletristik und das Kinderbuch zuständig.

Nach Differenzen mit der Bezirksdirektion des Leipziger Volksbuchhandels kam sie 1968 als Referentin bei der Abteilung Buchmarktforschung beim Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) unter. 1969 schloss sie ein vierjähriges Fernstudium an der 1957 gegründeten „Fachschule für Buchhändler“ in Leipzig-Leutzsch ab, die seit 1960 berufsbegleitende Fernstudiengänge möglich machte. Die Schule war damals im selben Gebäude wie die „Fachschule für Bibliothekare Erich Weinert“ untergebracht war, die Lehrpläne und Dozenten waren jedoch andere. Die Fusion zur „Fachschule für Bibliothekare und Buchhändler Erich Weinert“ erfolgte 1985. Die Abschlüsse wurden erst weit nach der Wende vom Kultusministerium als Fachhochschulabschluss anerkannt.

1972 Umzug nach Freiberg, wo Maritta Tanzer zunächst in der Hochschulbibliothek der Bergakademie arbeitete. 1978 wechselte sie zur „Akademischen Buchhandlung für Montanwissenschaften“, bei der sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2007 für die Ausbildung der Lehrlinge, die Betreuung der Vertriebsmitarbeiter sowie für die Sortimente Belletristik und Kinderbuch verantwortlich war.

 

„Die Wahrheit liegt – wie bei der ganzen DDR-Geschichte – irgendwo dazwischen.“ Gespräche mit ehemaligen Volksbuchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Entwicklung des DDR-Buchhandels und dessen Strukturwandel infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Nachdem uns Heike Wenige und Holger Brandstädt einiges haben wissen lassen, teilt nun Maritta Tanzer ihre Erinnerungen. Sie kam 1961 als Lehrling zum volkseigenen Buchhandel und ist bis zu ihrem Renteneintritt im Jahr 2007 eine Buchhändlerin aus Leidenschaft geblieben.

Wie hat mein Versuch auf Sie gewirkt, die Geschichte des DDR-Buchhandels zu rekonstruieren?

Wie Sie richtig festgestellt haben, ist die Geschichte der DDR-Verlage wesentlich besser aufgearbeitet. Insofern ist das Vorhaben, die Geschichte des Buchhandels rekonstruieren zu wollen, lobenswert. Allerdings scheint mir, dass Sie die Entwicklungen zu theoretisch erfassen. Das heißt zu sehr aus dem Blickwinkel der Partei, respektive wie wir Buchhändler funktionieren sollten, nicht immer funktionieren wollten und schlussendlich doch funktioniert haben. Die Planerfüllung, die Einhaltung des vorgegebenen Warenbestandes, ein gutes Inventurergebnis lagen ja insofern in unserem Sinne, dass wir die Monatsprämien alle gut brauchen konnten. Also, die Wahrheit liegt – wie bei der ganzen DDR-Geschichte – irgendwo dazwischen. Mit pauschalen Urteilen kann ich mich nicht anfreunden.

Würden Sie meiner These zustimmen, dass die Buchhändler in der DDR mitunter recht eigensinnig gewesen sind?

Richtiger müsste es wohl heißen, dass die meistens Buchhändler nicht nur eigensinnig, sondern auch kreativ waren. Das waren sie, um die (ja, die restriktiven) Planaufgaben zu erfüllen. Aber nicht etwa, um dem Staat einen Gefallen zu tun, sondern um zur monatlichen Umsatzprämie zu kommen. Unsere Gehälter waren (und sind es auch nach der Wende noch) an der Untergrenze!

Mögen Sie das ein wenig ausführen?

Maritta Tanzer © privat

Maritta Tanzer © privat

Beispielsweise behaupten Sie in Ihrer Skizze, dass die Schaufensterauslagen der Buchhandlungen wegen fehlender Dekomaterialien zeitweilig leer geblieben seien. Gemüsegeschäfte und andere Läden, deren Fenster nicht gerade liebevoll gestaltet beziehungsweise leer waren, kenne ich aus der DDR. Im Buchhandel habe ich derartiges NIE erlebt. Um die Schaufenster aufzumöbeln, haben wir viele Deko-Elemente selbstgemacht. Aufgrund der vielen Mängel waren wir (wie jeder andere DDR-Bürger auch) im Beruf immer sehr einfallsreich und haben bei der Schaufenstergestaltung auch aus Nichts etwas gemacht. Das war übrigens bereits während der Lehrzeit ein Thema. Während meiner Lehre bei „Buch und Kunst“ in Dresden haben wir beispielsweise einmal eine größere Menge von „Klamanns Puppentheater“ erhalten, einem damals sehr begehrten und seinerzeit recht freizügigen Comic aus dem Eulenspiegel-Verlag. Wir haben das ganze Fenster von innen schwarz verklebt und nur ein Guckloch gelassen. Vor dem stauten sich die Passanten. Die Lehrlinge der Buchhandlung „Gutenberg“ haben sogar einmal im Schaufenster Theater gespielt …

In der Buchhandlung „Am Neumarkt“, die ich ab 1965 geleitet habe, gab es sechs kleine Schaufenster. Es fiel nicht immer leicht, die zu bestücken, aber Ideen waren immer da. Für das Kinderbuchfenster lieh ich vom Spielwarenladen nebenan Blickfänge aus und für das Messefenster in der „Hinrichs’schen“ Kunstgegenstände aus dem Grassi-Museum.

Meint das, dass man bei der Gestaltung der Schaufenster alle Freiheiten hatte?

Nicht ganz. Bei der Schaufenstergestaltung in Leipzig (besonders in der Innenstadt) und vorrangig zur Buchmesse war zu beachten, dass auch nur im Entferntesten politisch anstößige Bücher nicht ins Fenster kamen. Ich erinnere mich, dass 1968 am Morgen vor Eröffnung der Herbstmesse eine Kommission der Bezirksdirektion des Volksbuchhandels durch die Innenstadt lief, um die Auslagen in den Schaufenstern kritisch in Augenschein zu nehmen. Ich musste damals den Stadtplan Prag aus dem Fenster nehmen!!!

Heutzutage stellen Verlage den Buchhandlungen reichlich Dekomaterial zur Verfügung …

Von den DDR-Verlagen selbst kamen höchstens Plakate, die wir selbst aufgezogen haben. Was es von ihnen außerdem gab, waren nachbestellbare Schutzumschläge für die lieferbaren Titel. Dadurch sollte gewährleistet werden, dass die Bücher, die länger im Sortiment standen, nicht abgegriffen aussehen (Einschweißen war ja noch nicht üblich). Das ist ja heute nicht mehr nötig, weil die Hardcover höchstens solange im Sortiment stehen, bis das Taschenbuch erscheint. Ich frage mich manchmal, was aus den ganzen Remittenden wird!

Wo haben Sie Ihre buchhändlerische Lehre absolviert?

Die theoretische Ausbildung erfolgte an der „Deutschen Buchhändler-Lehranstalt“ in Leipzig. Wir waren dort internatsmäßig untergebracht und 4 x 4 Wochen im Jahr vor Ort. In der Schule existierten zu meiner Zeit übrigens noch getrennte Klassen für Volksbuchhändler und Privatbuchhändler. Die Dresdner Volksbuchhandlung „Buch und Kunst“, in der ich zwischen 1961 und 1964 gelernt habe, war mit über 20 Lehrlingen und je einem Lehrausbilder für jede Abteilung (Fachbuch, Belletristik, Bestellwesen, Werbung usw.) die Lehrbuchhandlung für den Bezirk Dresden. Alle vier Wochen wurde die Abteilung gewechselt und ab dem zweiten Lehrjahr erfolgte ebenfalls jeweils für vier Wochen eine Ausbildung in Spezialbuchhandlungen. Dazu gehörten das Antiquariat, das „Internationale Buch“, die zentrale Buchhaltung und für den naturwissenschaftlich-technischen Bereich die Buchhandlung der Technischen Universität Dresden.

Stichwort „ES Schneider“ …

Genau. Leiter der Buchhandlung der TU Dresden war der damals schon legendäre Walther Schneider – genannt „ES-Schneider“. Sein Verdienst war die „Einheitliche Systematik“, die er Ende der 1950er entwickelt hat, um für alle Volksbuchhandlungen eine einheitliche Sortierung zu ermöglichen. Das war für die Fachbuchhandlungen besonders wichtig. Bei der von ihnen in der Skizze erwähnten „Dresdner Kartei“ handelt es sich übrigens nicht um die „Einheitliche Systematik“, sondern die Bestellkartei, die LKG früh eingeführt hat. Die Titelkarten waren hier nach Verlagen geordnet, jeder Verlag hatte eine eigene Nummer. Es gab die Kartei für die laufenden Bestellungen (manchmal jahrelang) und eine „tote“ Kartei für alle Titelkarten, bei denen keine Bestellung lief. Im ersten Lehrjahr durften wir nur diese sortieren, um Titel kennenzulernen.

Wie würden Sie Ihre Lehrzeit im Rückblick bewerten?

Unsere Ausbildung empfinde ich heute noch als sehr gut. Vieles davon habe ich während meiner Zeit in Leipzig und Freiberg als Lehrausbilderin übernommen. Zur Ausbildung gehörte beispielsweise, dass wir monatlich eine längere schriftliche Buchbesprechung und ein kürzeres schriftliches “Verkaufsargument“ (also, wie wir das Buch dem Kunden empfehlen würden) abzuliefern hatten. Keine schlechte Sache, oder? Betriebswirtschaft wurde im Gegensatz zu heute damals eher klein geschrieben. Das war wohl auch nicht nötig, da es kaum Anreize gab, es anders zu machen als vorgegeben. Partien, Rabatte und ähnliches kannten wir nicht und die Handelsspanne betrug überall 27,5%. Diese ohne Taschenrechner auszurechnen war in der Lehrausbildung eine beliebte Aufgabe. Ich glaube, das können heute nur noch wenige im Kopf ausrechnen.

Und der literarische Kanon, der vermittelt wurde?

Geschichte und Literatur bestimmter Epochen (z.B. die Antike) kamen extrem kurz weg, dafür wurde die “Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung” ausführlich gelehrt. Wie überall kam es aber auch hier auf den entsprechenden Lehrer an. An der Fachschule hatten wir zwei tolle Literaturlehrer, die sich um den Lehrplan nicht allzu sehr kümmerten. Einer davon war der 2006 verstorbene Rolf Recknagel, der sich u.a. um die Traven-Forschung verdient gemacht hat.

Welche Bedeutung hatten die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ und das „Statut für den Volksbuchhändler“ in Ihrem buchhändlerischen Alltag?

Das „Statut“ und andere Arbeitsanweisungen, die Sie als Pflichtlektüre für die Buchhändler ausweisen, standen in der Handbibliothek. Wir haben sie nicht gelesen, höchstens mal reingeschaut, wenn es irgendwelche Differenzen zu klären gab. Ebenso wenig von Bedeutung war die Betriebszeitung „Der Volksbuchhändler“, die von der Zentralen Leitung des Volksbuchhandels bis 1965 herausgegeben wurde. Das Organ bot keine Hilfestellung bei der praktischen Arbeit. Die Redaktion war übrigens in einem Gebäude in Leipzig am Gerichtsweg untergebracht. Das „Börsenblatt“ vom Leipziger Börsenverein hatte schon allein deshalb einen größeren Wirkungskreis, weil sämtliche Betriebe, Bibliotheken, Institute und auch Privatpersonen den beiliegenden Vorankündigungsdienst (VD) beziehen wollten. Das zog nach sich, dass bereits eine Woche nach Erscheinen des VD Bücher hoffnungslos überzeichnet waren.

Die utopischen Bestellmengen, die der Buchhandel orderte, um überhaupt mit gängigen Titeln beliefert zu werden, muten aus heutiger Sicht kurios an …

In der “Hinrichs’schen Buchhandlung“ in Leipzig hatten wir deshalb einmal ein irres Problem. Die höchste Spalte in den Bestellformularen war eine dreistellige, sprich: die bestellbare Höchstmenge lag bei 999 Exemplare. Unsere Bestellzahl bei Titeln, von denen wir annahmen, dass sie stark gekürzt geliefert werden, (wie zum Beispiel bei Kalendern) bewegte sich in der Regel zwischen 600 und 700. Woraufhin 7, 10 oder 20 Exemplare geliefert wurden. In diesem Rahmen haben wir 1967 auch das wunderschöne tschechische Kinderbuch “Die kleine Ameise Ferdinand“ von Ondrej Sekora bei LKG geordert. Vermutlich hatten die Tschechen gerade genug Papier- und Druckkapazitäten, jedenfalls kam die Bestellung bei uns nahezu ungekürzt an. Der Buchhandlungsleiter wollte an andere Buchhandlungen umlagern. Wir wehrten uns dagegen, weil das Weihnachtsgeschäft vor der Tür stand und der restliche Kinderbuchbestand in der “Hinrichs’schen“ damals nicht eben üppig war. Ich glaube, es gab keinen Kunden, der “Die kleine Ameise Ferdinand“ nicht mitgenommen hat. Der hohe Bestand war nach Weihnachten jedenfalls komplett verkauft. Obwohl wir eine super Arbeit geleistet hatten, gab es keine Umsatzprämie für uns. Es wurde damit argumentiert, dass der Warenbestand überschritten war.

Können Sie die These bestätigen, dass Titel im Vorankündigungsdienst nicht mehr angekündigt wurden, um Überzeichnungen zu vermeiden?

Meines Wissens stimmt das so nicht. Ich glaube, wir hätten uns das manchmal sogar gewünscht. Der Vorankündigungsdienst weckte Begehrlichkeiten …

Woran fehlte es Ihrer Erinnerung nach hauptsächlich?

Also Klassiker, wie Sie in der „Skizze zum DDR-Buchhandel“ schreiben, die fehlten nicht. Wir – und jede andere Buchhandlung auch, die ich kenne – hatten immer ein Klassik-Regal. Die Bibliothek der deutschen Klassiker (BdK) war zwar nie vollständig da und die zehnbändige Goethe-Ausgabe immer Mangelware. Aber irgendetwas war immer da. Ich weiß, sehr viele Titel gab es nicht in genügender Stückzahl und viele nur unter dem Ladentisch. Man brauchte einen langen Atem und einen guten Draht zum Buchhändler, um die BdK vollständig zu bekommen.

An welchen Titel mangelte es darüber hinaus?

Mangel bestand beispielsweise bei Lizenzausgaben in Belletristik, auch linientreuer Autoren wie etwa Jorge Amado oder B. Traven, und beim Kinderbuch. Zu niedrig waren die Auflagen bei Kochbüchern, Kalendern, Blumenbüchern oder Naturführern (nicht nur aus dem Neumann-Verlag Radebeul), weil hochwertiges Kunstdruckpapier in der DDR rar war. Ich erinnere mich noch, dass der Verlag Kunst während meiner Lehrzeit bei „Buch und Kunst“ eine Nachauflage von Fritz Löfflers reich bebilderten Band „Das alte Dresden“ angekündigt hatte – ein Titel, der lange vergriffen gewesen war. Viele, viele Dresdner waren damals bedürftig, unsere Kartei von Bestellzetteln „hochschwanger“. Die starke Nachfrage wurde bei der Zuteilung insoweit bedacht, als Dresdner Buchhandlungen von LKG mehr Exemplare erhalten haben als die Buchhandlungen in den anderen Bezirken. Was glauben Sie, wie viele wir abbekommen haben? Etwa 20 Stück!

Danke für heute, liebe Frau Tanzer, wir setzen unser Gespräch fort.

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Maritta Tanzer (geb. 1944) absolvierte zwischen 1961 und 1964 ihre buchhändlerische Lehre in der Volksbuchhandlung „Buch und Kunst“ in Dresden. Bis heute wird ihr damaliger Chef, Hans Führer, von den Ehemaligen als Vaterfigur verehrt. 1964 wechselte sie nach Leipzig in die Volksbuchhandlung „Am Neumarkt“, die 1967 mit der „Hinrichs’sche Buchhandlung“ zusammengelegt wurde. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrausbilderin war sie dort für die Belletristik und das Kinderbuch zuständig.

Nach Differenzen mit der Bezirksdirektion des Leipziger Volksbuchhandels kam sie 1968 als Referentin bei der Abteilung Buchmarktforschung beim Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) unter. 1969 schloss sie ein vierjähriges Fernstudium an der 1957 gegründeten „Fachschule für Buchhändler“ in Leipzig-Leutzsch ab, die seit 1960 berufsbegleitende Fernstudiengänge möglich machte. Die Schule war damals im selben Gebäude wie die „Fachschule für Bibliothekare Erich Weinert“ untergebracht war, die Lehrpläne und Dozenten waren jedoch andere. Die Fusion zur „Fachschule für Bibliothekare und Buchhändler Erich Weinert“ erfolgte 1985. Die Abschlüsse wurden erst weit nach der Wende vom Kultusministerium als Fachhochschulabschluss anerkannt.

1972 Umzug nach Freiberg, wo Maritta Tanzer zunächst in der Hochschulbibliothek der Bergakademie arbeitete. 1978 wechselte sie zur „Akademischen Buchhandlung für Montanwissenschaften“, bei der sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2007 für die Ausbildung der Lehrlinge, die Betreuung der Vertriebsmitarbeiter sowie für die Sortimente Belletristik und Kinderbuch verantwortlich war.

„Ich sage mit Absicht nicht ‚Kunden‘ sondern ‚Leser‘.“ Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Das Vorhaben, das Wissen über den Buchhandel in der DDR aufzufrischen, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Im ersten Teil unseres Gesprächs erinnert sich Holger Brandstädt an die Jahre 1989/90. Anschließend haben wir über seine Erfahrungen nach der Privatisierung unterhalten und heute sprechen wir u.a. über die traditionsreiche „Friedrich-Wagner- Buchhandlung“ in Ueckermünde, die er seit 2001 führt.

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Die „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“ in Ueckermünde, die Sie seit 2001 verantworten, hätten Sie von der Inhaberin bereits 1991 übernehmen können. Was hat Sie damals davon abgehalten, Johanna Wagners Angebot anzunehmen?

die Gründer der Buchhandlung Friedrich und Anna Wagner © privat

die Gründer der Buchhandlung Anna und Friedrich Wagner © privat

Oh ich habe das Angebot damals angenommen, konnte jedoch erst Jahre später anfangen. Bevor Johanna Wagner das zwangsverstaatlichte Haus, in dem sich die Buchhandlung befindet, rückübertragen bekam, hatte ein früherer Kollege die Buchhandlung von der Treuhand bereits gekauft. Nachdem ich das Haus erworben hatte, präsentierte er mir einen recht frischen Mietvertrag über zehn Jahre, den die Städtische Wohnungsgesellschaft während des Rückübertragungsverfahrens mit ihm abgeschlossen hatte. Rechtlich war das wohl nicht in Ordnung, doch eine Klage wäre langwierig gewesen und hätte wohl auch für schlechte Presse gesorgt. Also entschloss ich mich, den Vertrag hinzunehmen, garantierte dem damaligen Mieter die Laufzeit und signalisierte frühzeitig, dass diese nicht verlängert wird. Im Jahr 2001 war es dann endlich soweit. Der Kollege hatte den Laden Monate zuvor geschlossen und an anderer Stelle in der Stadt eine Buchhandlung eröffnet. Ohne Erfolg. – Die Tradition am alten Standort war zu wichtig, die Familie Wagner stand hinter mir, noch dazu stammt die Familie meines Vaters aus Ueckermünde und meine Großmutter war ihr Leben lang in der Buchhandlung tätig. Dazu kam, während der Kollege den Laden wie einen Bestellshop führte und keinerlei Veranstaltungen anbot, setzte ich auf Impulskäufe durch ein attraktives Sortiment und etablierte die Buchhandlung als lokales Kulturzentrum. Wichtig für mich war jedoch auch, dass dies nur eine Filiale des Kollegen war und ihm mit der Übernahme nicht die Existenz weg brach.

Johanna Wagner hat die „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“ in der DDR bis 1981 in Eigenregie geführt. Dann wurde das traditionsreiche Geschäft vom Volksbuchhandel übernommen. Wissen Sie etwas über die Hintergründe?

Johanna Wagners Großvater Friedrich hat 1883 als Buchbinder in Ueckermünde angefangen, sein Sohn Johannes schuf dann die eigentliche Buchhandlung und Johanna Wagner oblag es, die Buchhandlung durch die DDR-Zeit zu führen. Sie schloss dafür einen Kommissionsvertrag mit dem Volksbuchhandel ab, der sie mit Büchern belieferte und ergänzte das Sortiment nach Wegfall der Buchbinderei und Druckerei durch Kunstgewerbe, das sie selbständig einkaufte. Mit dem Erreichen des Rentenalters stellte sich die Frage der Weiterführung. In der Familie Wagner gab es hierfür keinen Nachfolger. Die beiden Schwestern Wagner waren unverheiratet geblieben und der Bruder Frank Wagner hatte in Berlin die Tochter von Otto Grotewohl geehelicht, dem ersten Ministerpräsidenten der DDR. Wer wollte da schon unter der DDR-Mangelwirtschaft eine Buchhandlung im unsanierten Ueckermünder Altbau übernehmen? (Immerhin eine der Enkelinnen Frank Wagners ist heute eine angesehene Buchbindermeisterin in der Berliner Staatsbibliothek – die Familientradition wird also weitergetragen.)

Wie ging es nach der Übernahme durch den Volksbuchhandel mit der Buchhandlung weiter?

Johanna Wagner und Holger Brandstädt © privat

Johanna Wagner und Holger Brandstädt © privat

Der Volksbuchhandel war an der Lage der Buchhandlung direkt am Markt interessiert, die Räumlichkeiten waren größer als die der örtlichen Volksbuchhandlung und mit der Übernahme fiel die private Konkurrenz weg. Daher bot sich die Übernahme an. Die Mitarbeiter wurden wohl übernommen, die Geschäftsräume umfassend saniert und der Standort blieb erhalten. Johanna Wagner wohnte bis 2012 über der Buchhandlung. Heuer wird sie 94 Jahre und kommt immer noch regelmäßig vorbei, um einen neuen Krimi zu holen. Leider gibt es schon lange nichts Neues mehr von Pierre Mangan, die modernen Krimis sind ihr oft zu dick und zu brutal.

Würden Sie vom Literaturbetrieb, so wie Sie ihn in der DDR kennen gelernt haben, etwas auf den hiesigen Betrieb übertragen wollen?

Die Liebe zum Text, die Neugier auf Neues, die Verpflichtung dem Leser gegenüber. Und ich sage mit Absicht nicht ‚Kunden‘ sondern ‚Leser‘. Es gibt sie noch und das macht diesen Beruf so wunderbar.

Was stößt Ihnen im Vergleich zur DDR beim heutigen Buchmarkt auf? Was schätzen Sie besonders?

Ich schätze die Vielfalt, bin immer wieder entsetzt über die schiere Masse der Neuerscheinungen, hasse die Schnelllebigkeit des Marktes und bin in Hassliebe den Medien verbunden. Es gibt großartige Bücher, die dank der Medien entdeckt werden und ebenso großartige, die hoffnungslos untergehen, weil ihnen die öffentliche Wahrnehmung verwehrt bleibt. Es ist an uns, dem immer aufs Neue zu entgegnen, und es ist tröstlich zu wissen, dass überall in diesem Land unabhängige Buchhandlungen dem Einheitsbrei Paroli bieten.

Herzlichen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben.

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Der ausgebildete Koch Holger Brandstädt (geb. 1966) fing im September 1989 als ungelernte Kraft im „Internationalen Buch“ in der Spandauer Straße in Berlin/Mitte an. Eingestellt wurde er von Gerald Nußbaum, dem damaligen Direktor des Ostberliner Volksbuchhandels, der zu DDR-Zeiten unter dem Namen „Berliner Buchhandelsgesellschaft“ firmierte. 1989 gehörten circa 64 volkseigene Buchhandlungen zum Verbund.

Nußbaum trug sich bereits früh mit dem Gedanken, mit einem starken, westdeutschen Partner zu fusionieren. Nach Verhandlungen mit Thomas Grundmann von der Bouvier Buchhandelsgruppe in Bonn entstand im Juli 1990 die „Berliner Buchhandelsgesellschaft Bouvier und Nicolai“ GmbH (BBN), die sich die interessantesten Objekte der ehemaligen Hauptstadt der DDR sicherte. Unter den ehemaligen Renommierläden wie „Universitätsbuchhandlung“, „Kunstsalon unter den Linden“, war auch das „Internationale Buch“, wo Holger Brandstädt beschäftigt war. Er absolvierte 1990/91 in Bonn und Köln bei Bouvier diverse Praktika; zeitgleich machte er per Fernstudium seinen Abschluss als Buchhändler. Im August 1992 kam das Einsehen, dass sich die BBN überhoben hatte. Die vermeintlichen Filetstücke des Ostberliner Buchhandels hatten sich als nicht lukrativ genug erwiesen. Die meisten Buchhandlungen der BBN machten dicht; lediglich zwei konnten im Rahmen eines Management-Buy-Out an ehemalige Mitarbeiter verkauft werden.

Nach dem Zerfall der BBN ging Holger Brandstädt zur „Wohlthat’schen Buchhandlung“ GmbH, bei der er zuletzt als Filialleiter in Berlin/Friedrichshagen beschäftigt war. Im Oktober 2001 übernahm er in Ueckermünde die traditionsreiche „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“.

„Der Weg Berlins zur Metropole dauerte doch länger als gedacht.“ Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Bedingungen des sozialistischen Literaturvertriebs und den Strukturwandel des ostdeutschen Buchhandels infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Einiges hat uns bereits Heike Wenige wissen lassen. Im ersten Teil unseres Gesprächs erinnert sich Holger Brandstädt an die Jahre 1989/90. Heute geht es um seine Erfahrungen infolge der Privatisierung des ostdeutschen Buchhandels und im letzten Teil werden wir u.a. über die wechselhafte Geschichte der „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“ in Ueckermünde sprechen, die Holger Brandstädt 2001 übernommen hat.

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Neben anderen Filetstücken übernahm die „Berliner Buchhandelsgesellschaft Bouvier und Nicolai“ GmbH (BBN) im Juli 1990 das „Internationale Buch“. Welche Folgen hatte das?

Es kam westdeutsches Kapital in den Betrieb, dazu Know How. Die Pressesprecherin der BBN war Monika Grütters, jetzt Kulturstaatsministerin. Thomas Grundmann aus Bonn und Sönke Christiansen aus Hamburg, dazu Dieter Beuermann von der Nicolaischen in Berlin, da konnte man sich schon gut aufgestellt fühlen. Es gaben sich reihenweise Autoren die Klinke in die Hand und mit viel PR wurde versucht, die BBN-Läden als Platzhirsch zu etablieren. Was auch gelang, denn zum Anfang wagte kaum ein großes Buchhandelsunternehmen den Sprung nach Ostberlin. Erst mit dem Bau neuer Einkaufcenter kamen Mitbewerber in die Stadt.

Waren die Arbeitsplätze nach der Übernahme garantiert?

Erstmal ja, aber mit den ersten Filialschließungen kam es auch zum Personalabbau. Ich denke schon, dass versucht wurde, die Leute möglichst lange woanders unterzubringen. Letztlich war das aber nicht zu halten. Ich selbst war ganz gut aufgestellt, da verliert sich der Blick für die Kollegen leider. Einige sind aber wohl auch durch Studium und andere neue Lebenssituationen ausgeschieden. Die Welt war plötzlich größer geworden, da brauchten sie die Nische nicht mehr.

Wie schätzen Sie im Nachhinein das Joint Venture der Berliner Buchhandelsgesellschaft mit Bouvier und Nicolai ein?

Es war ein spannender Versuch, der Ost und West zusammenführte. Ich sehe noch meinen Filialleiter an einer Karte erklären, wie unser Einzugsgebiet sich denn in Zukunft zusammensetzen würde. Allerdings brauchte es dann noch über 20 Jahre bis dieses Szenario Wirklichkeit wurde und die Bewohner der Stadt die nun unsichtbare Grenze überschritten. Leider hatte die Buchhandlung diese Zeit nicht.

1990/91 haben Sie in Bonn und Köln Praktika bei Bouvier gemacht. Wie waren Ihre Erfahrungen?

Holger Brandstädt vor seiner Friedrich-Wagner-Buchhandlung © privat

Holger Brandstädt vor seiner Buchhandlung © privat

Die BBN wollte Synergien nutzen und ihre Mitarbeiter intern fit machen. Ich wurde für einen Austausch vorgeschlagen und habe dann mehrfach Wochen in den Bouvier-Flagschiffen verbracht. Die „Universitätsbuchhandlung“ in Bonn war meine erste Station. Ich war damals erst ein paar Monate im Buchhandel, aus dem Osten und noch dazu ungelernt. Auf beiden Seiten war die Unsicherheit wohl recht groß, was da auf einen zukam. In Bonn stand zu dieser Zeit ein Leitungswechsel an, vom klassischen Buchhandel zu einem sich ausschließlich an betriebswirtschaftlichen Zahlen ausgerichteten Unternehmen. Das Gleiche habe ich ein paar Jahre später bei Wohltat erlebt. – In beiden Fällen wurden die Firmen von den Prokuristen an die Wand gefahren. Das war eine wichtige Lehre für mich: Es geht nur mit den Mitarbeitern und, klar, insgesamt muss es sich rechnen, einzelne Teile müssen jedoch nicht immer sofort Gewinn abwerfen. Manches braucht Zeit und bringt erst auf den zweiten Blick etwas.

Das „Buchhaus Gonski“, wo Sie ebenfalls gelernt haben, galt in den 1990ern als ein Meilenstein im Kölner Buchhandel …

Das „Buchhaus Gonski“ war dann noch mal ein ganz anders Konzept als die Bonner Unibuchhandlung mit ihrem angeschlossenen wissenschaftlichen Verlag und der Kunstabteilung. Gonski war ein Buchkaufhaus mit Rolltreppe und Café – nur leider war der Kölner Neumarkt von Großbuchhandlungen umstellt. Die Fläche war sehr personal intensiv und alles andere als optimal zugeschnitten. Beide Buchhandlungen einte ein riesiges Angebot, das aber auch viel Tapete beinhaltete. In Bonn stand Reclam Stuttgart 1x numerisch und 1x alphabetisch geordnet – komplett! Und dann gab es noch ein paar Regale, in denen die besser verkäuflichen Titel der RUB standen. Neu war für mich der EDV gestützte Zugriff auf ein eigenes Zentrallager und der Umgang der Kollegen untereinander. Private Kontakte unter Mitarbeitern waren von der Firmenleitung nicht gern gesehen. Da war es schon etwas Besonderes dem Ostimport die abendliche Kneipenszene zu zeigen. Im Osten interessierte das keinen und natürlich waren wir Buchhändler untereinander befreundet. Wie auch immer, es war eine spannende Zeit. Ich wurde von den Kollegen in Bonn und Köln gut aufgenommen und hab mich wacker geschlagen – eine Erfahrung, die mich beruflich sehr stärkte.

In dieser Zeit haben Sie ein Fernstudium absolviert. Wurden Sie dabei aus Fördertöpfen unterstützt?

Das Studium wurde vom Landesverband Baden Württemberg und dem Börsenverein gefördert und veranstaltet. Neben Lehrbriefen und Aufgaben gab es Seminare in Leipzig und Stuttgart, eine interne Abschlussprüfung und daran anschließend eine bei der IHK in Berlin. Der Fernunterricht war eine gezielte Fördermaßnahme für Seiteneinsteiger überwiegend aus den neuen Ländern.

Im August 1992 kam das Aus für die „Berliner Buchhandelsgesellschaft Bouvier und Nicolai“ (BBN). Welche Folgen hatte diese Zäsur für Ihren Betrieb?

Schon zuvor mussten erste Filialen geschlossen werden, weil Mietverträge gekündigt wurden. Das „Gute Buch“ am Alexanderplatz gehörte dazu und die „Buchhandlung Unter den Linden“. Deren Leiter übernahm das „Internationale Buch“, setzte überall seine Leute aus Schlüsselpositionen ein und ging dann trotzdem baden. Die Chemie in der Buchhandlung stimmte nicht mehr, die Umsätze blieben hinter den Erwartungen zurück und die westdeutschen Partner wollten wohl ihr Engagement nicht bis ins Ungewisse ausdehnen. Der Weg Berlins zur Metropole dauerte doch länger als gedacht. Zuerst wurden nach Sozialplan vor allem junge Mitarbeiter entlassen. Diese fanden dann häufig wieder eine Anstellung. Wer durch Protegé oder aus Altersgründen bleiben durfte, hatte es anschließend deutlich schwerer.

Nach dem Zerfall der BBN kamen Sie zur Wohlthat’schen Buchhandlung GmbH; eine Gruppe, die durch Zukäufe in Ostdeutschland nach 1990 stark wuchs, inzwischen aber nicht mehr existiert. Wie haben Sie die Expansion damals wahrgenommen?

Ich arbeitete zuerst für Wohlthats in Berlin/Marzahn, später dann in Berlin/Weissensee und zuletzt als Filialleiter in Berlin/Friedrichshagen. Während der ganzen Zeit war die Transformation vom Alt68er-Unternehmen zum ’normalen‘ Buchdiscounter in Bewegung. Dazu trugen die Zukäufe im Osten wesentlich bei. In diesen herrschte eine ganz andere, eher autoritär geprägte Unternehmenskultur. Es gab Filialen, die vom Personalchef geführt wurden, dem leider viel zu früh verstorbenen Klaus Roggenhausen, und welche, die der Prokurist Ojars Baumeister leitete. Beide standen für völlig unterschiedliche Konzepte in der Personalführung. Der Kampf der Firmenleitung gegen die Bildung eines Betriebsrates zeigte, wie fern die linken Ideale in den 1990ern schon waren. Mit dem Tod des Personalchefs setzte der Prokurist sich in der gesamten Firma durch.

Um sich am Markt halten zu können, setzte Wohltat zunehmend auf preiswerte Bücher und ein selbstbedienungsorientiertes Konzept? Wie sind Sie damit klar gekommen?

Ganz gut. Es gab tolle Reste exklusiv bei Wohlthats, jede Filiale kaufte eigenverantwortlich ein und gerade die Ostberliner Filialen waren in vielen Fällen eben doch Kiezbuchhandlungen für ihre Kunden. Da gingen Kalender für 49,- DM zum Originalpreis über den Ladentisch, das Sortiment war breit gefächert, das Maß an Eigenverantwortung zu meiner Zeit noch hoch. Nach meinem Weggang gab es dann immer mehr zentrale Regulierung, man sieht ja was daraus geworden ist. Letztlich gab es aber auch ein paar Punkte (Ladeneinrichtung / Veranstaltungen / Personalführung), die ich persönlich anders gestalten wollte und das ging nur über den Weg der Selbstständigkeit.

Wohltat wurde dann von Weltbild übernommen …

Letztlich blieb ein Scherbenhaufen unter Weltbildägide. Was für ein Hohn: die Firma, die ihr Geld mit Titeln wie „Sex und Folter in der Katholischen Kirche“ und den „Bakunin-Tagebücher“ gemacht hatte, die einen wesentlichen Teil der Auflage des „Heimlichen Auges“ von Konkursbuch und Erotikwälzer von Taschen vertrieb, verkaufte sich an ein Konglomerat aus Soldatenseelsorge und katholischen Diözesen. Erotik wurde sofort aus dem Angebot genommen. Mit Titeln wie „Wölfe im Eismeer“ und „Die deutschen Stukka-Asse“ hatte Weltbild leider deutlich weniger Berührungsängste. Die hätte es bei Wohltat nie gegeben. Ich erinnere mich an stundenlange Diskussionen, ob man den Leni Riefenstahl Band von Taschen denn nun anbieten solle oder nicht. Letztlich sprach sich die Mehrheit der Wohlthat-Filialleiter dagegen aus.

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Der ausgebildete Koch Holger Brandstädt (geb. 1966) fing im September 1989 als ungelernte Kraft im „Internationalen Buch“ in der Spandauer Straße in Berlin/Mitte an. Eingestellt wurde er von Gerald Nußbaum, dem damaligen Direktor des Ostberliner Volksbuchhandels, der zu DDR-Zeiten unter dem Namen „Berliner Buchhandelsgesellschaft“ firmierte. 1989 gehörten circa 64 volkseigene Buchhandlungen zum Verbund.

Nußbaum trug sich bereits früh mit dem Gedanken, mit einem starken, westdeutschen Partner zu fusionieren. Nach Verhandlungen mit Thomas Grundmann von der Bouvier Buchhandelsgruppe in Bonn entstand im Juli 1990 die „Berliner Buchhandelsgesellschaft Bouvier und Nicolai“ GmbH (BBN), die sich die interessantesten Objekte der ehemaligen Hauptstadt der DDR sicherte. Unter den ehemaligen Renommierläden wie „Universitätsbuchhandlung“, „Kunstsalon unter den Linden“, war auch das „Internationale Buch“, wo Holger Brandstädt beschäftigt war. Er absolvierte 1990/91 in Bonn und Köln bei Bouvier diverse Praktika; zeitgleich machte er per Fernstudium seinen Abschluss als Buchhändler. Im August 1992 kam das Einsehen, dass sich die BBN überhoben hatte. Die vermeintlichen Filetstücke des Ostberliner Buchhandels hatten sich als nicht lukrativ genug erwiesen. Die meisten Buchhandlungen der BBN machten dicht; lediglich zwei konnten im Rahmen eines Management-Buy-Out an ehemalige Mitarbeiter verkauft werden.

Nach dem Zerfall der BBN ging Holger Brandstädt zur „Wohlthat’schen Buchhandlung“ GmbH, bei der er zuletzt als Filialleiter in Berlin/Friedrichshagen beschäftigt war. Im Oktober 2001 übernahm er in Ueckermünde die traditionsreiche „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“.

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Mein Dank gilt allen, mit denen ich mich bislang habe austauschen dürfen. Ich würde mich freuen, wenn sich weitere Zeitzeugen einfänden, um das eine und andere aus der eigenen Erfahrung zurechtzurücken und/oder Lücken zu schließen.

„Der Buchhandel war eine jener Nischen, in der viele Unangepasste überwinterten.“ – Gespräche mit ehemaligen DDR-Buchhändlern

Meinen hier publizierten Versuch, die Bedingungen des sozialistischen Literaturvertriebs und den Strukturwandel des ostdeutschen Buchhandels infolge der Privatisierung zu skizzieren, habe ich mit der Bitte verknüpft, dass sich Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen einbringen mögen. Einiges hat uns bereits Heike Wenige wissen lassen. Heute erinnert sich Holger Brandstädt an die Jahre 1989/90. Unsere nächsten beiden Gespräche werden sich um seine Erfahrungen infolge der Privatisierung des DDR-Buchhandels drehen.

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Was hat Sie von der Gastronomie in den Buchhandel getrieben?

Meine Großmutter war Buchhändlerin, ich wollte immer schon was mit Büchern machen. Leider war 1983 landesweit keine Lehrstelle für männliche Bewerber vorgesehen. 1989 war ich beruflich als Koch soweit gekommen, dass sich die Frage Studium, Meisterausbildung oder wechseln stellte. Der Wechsel kam dann gerade noch rechtzeitig, um in den Buchhandel einzusteigen, bevor dieser in die Wendewirren stürzte.

Wie haben Sie die letzten Monate im DDR-Buchhandel erlebt?

Kulturstaatsministerin Monika Grütters überreicht Holger Brandstädt den Deutschen Buchhandlungspreis 2015 © Bundesregierung/Orlowski

Kulturstaatsministerin Monika Grütters überreicht Holger Brandstädt den Deutschen Buchhandlungspreis 2015 © Bundesregierung/Orlowski

Im Sommer 1989 sind reihenweise Buchhändler in den Westen ausgereist, andere hatten einen Ausreiseantrag gestellt und so stand die Berliner Buchhandelsgesellschaft vor dem Problem, die Läden zu besetzen. Mir wurden vier Filialen zur Auswahl gestellt, verbunden mit der Bitte, ein paar Wochen im „Internationalen Buch“ auszuhelfen. Letztlich blieb ich dort. Die Buchhandlung war hell, groß, man musste weder heizen noch putzen, es gab jeden Tag neue Ware und das Publikum war international. Ich bekam eine Stelle in der Belletristik, in der damals neben einer Buchhändlerin noch ein Maurer, eine Melkerin und eine Bürofachfrau arbeiteten. Alles motivierte Seiteneinsteiger, die recht schnell selbstständig arbeiten konnten. Daran war gerade in kleinen Buchhandlungen nicht zu denken.

War Ihnen bewusst, dass der Volksbuchhandel ursprünglich eine erzieherische Funktion hatte und dementsprechend auch in der Pflicht stand, politisch genehme „Schwerpunkttitel“ zu vertreiben?

Natürlich gab es palettenweise Werke von Otto Gotsche & Co, die Buchhandlungen waren jedoch auch damals schon bestrebt, Umsätze zu erzielen. Dazu kam, dass der Buchhandel eine jener Nischen war, in der viele Unangepasste überwinterten. Da hatten die hohlen Parolen des SED-Regimes wenig Widerhall. Werke wie die „Ordnung für den Literaturbetrieb“ und das „Statut für den Volksbuchhändler“ sind mir nie untergekommen.

Inwieweit unterschied sich das Sortiment der Internationalen Buchhandlungen von dem der anderen volkseigenen Betriebe?

Das „Internationale Buch“ (IB) in Berlin/Mitte war eine der größten Buchhandlungen der DDR. Das Sortiment setzte sich aus deutsch- und fremdsprachigen Titeln zusammen. Da gab es Fachbücher auf Russisch und Böll auf Vietnamesisch (letztere mussten aus Angst vor Flöhen immer erst auf der Warenrampe in Quarantäne). Es gab Buchhändler aus der UdSSR, die Humboldt-Uni war nah und Westberlin ebenso, weshalb die Buchhandlung auch als Schaufenster der DDR dienen sollte. Alles war aus hellem Holz, großflächig verglast und großzügig angelegt. Viele Kunden kamen, um ihren Zwangsumtausch in Bücher anzulegen, und es gab eine Kasse an der zum Kurs 1:1 mit D-Mark bezahlt werden konnte. Das IB belieferte Bibliotheken und Botschaften. Die Amerikanische Botschaft schickte jedes Jahr kalifornischen Cabernet Sauvignon als Dankeschön – ein für unseren damaligen Geschmack fürchterlich saurer Wein. Und die russischen Kollegen gingen manchmal mittags rüber in die Botschaft Unter den Linden und holten aus der Kantine große Tüten mit noch warmen Gebäck.

Können Sie bestätigen, dass die Internationalen Buchhandlungen eine privilegierte Stellung hatten und aufgrund ihres Sortiments in der DDR besonders beliebt waren?

Ganz klar ja. Während viele Buchhandlungen einmal in der Woche beliefert wurden, traf im IB täglich neue Ware ein. Nur leider reichten die gelieferten Exemplare pro Titel oft nicht einmal aus, um alle Bibliotheken und Kollegenbestellungen zu erfüllen. Als ich im August 1989 anfing sollten die Erinnerungen von Pu Yi, Chinas letztem Kaiser, erscheinen. Der Bertolucci-Film war gerade wie ein Straßenfeger durchs Land gerollt und so war die Nachfrage riesig. Zweimal am Tag fragten manche Kunden, ob das Buch denn schon da sei. Als es kam (sieben Exemplare) knobelten wir dann aus, wer den Kunden sagt, dass es schon durch sei. Das war keine schöne Aufgabe. Vor der Buchhandlung stand immer eine lange Schlange. Denn auch hier galt: Kein Rundgang ohne Korb!

Mauerfall im November 1989, Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im Juni 1990, deutsche Einheit am 3. Oktober 1990. Wie erinnern Sie sich an diese turbulenten Monate im Buchhandel?

Es ging alles wahnsinnig schnell und war viel zu komplex, um es hier in Kürze festzuhalten. Ich erinnere mich daran, dass wir am 4. November am Fenster standen und die Demonstration zum Alexanderplatz ziehen sahen. Erst nach Schichtschluss reihten wir uns ein. Und am 10. November wurde die Buchhandlung trotz durchgefeierter Nacht natürlich pünktlich geöffnet. Den 3. Oktober verbrachte ich in einem Pub an der Westküste Irlands und vor der Währungsunion stapelten sich im Tresor Kleingeldrollen, da dieses erstmal weiterhin im Umlauf war und zwar zum Kurs 1:1, was das Geschäftskapital stärkte. Die Frage, welchen Rabatt die Buchhandlung denn z.B. beim Aufbau Verlag bekam, war gar nicht so schnell zu beantworten und führte erstmal zu hektischen Aktivitäten der Einkaufsabteilung. Und die Frage, ob denn nun noch ausgeliefert wird, was bestellt war – das waren ja oft Mondzahlen (1000 Exemplare bestellt = 80 Stück geliefert) trieben uns plötzlich Schweißperlen auf die Stirn.

Nach der Wende war der Hunger nach Lesestoff groß, der zu DDR-Zeiten verboten oder nur schwer zugänglich war. Die Geschäfte im Buchhandel florierten. Können Sie sich erinnern, was damals besonders stark nachgefragt wurde?

Bahros „Alternative“ ebenso wie die Protokolle des Politbüros, Schriften von Basisdruck fallen mir als erstes ein. Später dann westlicher Mainstream von Wimschneider über Cardella, Tolkien und Fromm bis zur „Möwe Jonathan“. Viele Leser ergänzten ihre Sammlungen von Grass und Lenz bis Orwell mit einigen ausgewählten Titeln, dafür hatten wir KV-Kataloge; sprich: die Barsortimentskataloge von Köhler & Volkmar, damals fest gebunden und auf Papier gedruckt. Die Bestellungen gaben wir telefonisch auf, was oft am völlig überlasteten Telefonnetz scheiterte. Anfangs fuhren wir auch nach Westberlin, um Bestellungen direkt aufzugeben. Bei der VAH Jager war ich mal persönlich, die schauten ganz schön erstaunt drein ob dieses Bestellweges.

Um Westtiteln Platz zu machen, haben viele Buchhandlungen nach der Währungs- und Wirtschaftsunion ihre DDR-Bestände leer geräumt. Wie war das bei Ihnen?

Geräumt haben wir auch reichlich und aussortiert. Allerdings hatte das „Internationale Buch“ viel internationale Kundschaft, da waren die DDR-Bestände durchaus noch gefragt. Klemperes „LTI“ kostete bei Reclam Leipzig 2,50 Mark, die erste Nachwendeauflage dann circa 16 Mark. Das war schon ein Unterschied als der Staat zu jedem verkauften Buch nicht noch was drauflegte. Hatten wir zuvor 500 Stück geordert, stellte sich jetzt die Frage ob wir fünf nehmen sollten und ob diese einen Käufer finden würden. Wo früher die Abteilung Gesellschaftswissenschaft im Erdgeschoss gewesen war, wurde nun eine Taschenbuchabteilung eingerichtet, dazu Berlin-Literatur und es gab Neue Medien gleich im Kassenbereich. Die fremdsprachigen Titel wurden reduziert und das Fachbuch ausgebaut. Die unaussprechlichen russischen Originale zu verkaufen war wohl das schwierigste Unterfangen.

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Der ausgebildete Koch Holger Brandstädt (geb. 1966) fing im September 1989 als ungelernte Kraft im „Internationalen Buch“ in der Spandauer Straße in Berlin/Mitte an. Eingestellt wurde er von Gerald Nußbaum, dem damaligen Direktor des Ostberliner Volksbuchhandels, der zu DDR-Zeiten unter dem Namen „Berliner Buchhandelsgesellschaft“ firmierte. 1989 gehörten circa 64 volkseigene Buchhandlungen zum Verbund.

Nußbaum trug sich bereits früh mit dem Gedanken, mit einem starken, westdeutschen Partner zu fusionieren. Nach Verhandlungen mit Thomas Grundmann von der Bouvier Buchhandelsgruppe in Bonn entstand im Juli 1990 die „Berliner Buchhandelsgesellschaft Bouvier und Nicolai“ GmbH (BBN), die sich die interessantesten Objekte der ehemaligen Hauptstadt der DDR sicherte. Unter den ehemaligen Renommierläden wie „Universitätsbuchhandlung“, „Kunstsalon unter den Linden“, war auch das „Internationale Buch“, wo Holger Brandstädt beschäftigt war. Er absolvierte 1990/91 in Bonn und Köln bei Bouvier diverse Praktika; zeitgleich machte er per Fernstudium seinen Abschluss als Buchhändler. Im August 1992 kam das Einsehen, dass sich die BBN überhoben hatte. Die vermeintlichen Filetstücke des Ostberliner Buchhandels hatten sich als nicht lukrativ genug erwiesen. Die meisten Buchhandlungen der BBN machten dicht; lediglich zwei konnten im Rahmen eines Management-Buy-Out an ehemalige Mitarbeiter verkauft werden.

Nach dem Zerfall der BBN ging Holger Brandstädt zur „Wohlthat’schen Buchhandlung“ GmbH, bei der er zuletzt als Filialleiter in Berlin/Friedrichshagen beschäftigt war. Im Oktober 2001 übernahm er in Ueckermünde die traditionsreiche „Friedrich-Wagner-Buchhandlung“.

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Mein Dank gilt allen, mit denen ich mich bislang habe austauschen dürfen. Ich würde mich freuen, wenn sich weitere Zeitzeugen einfänden, um das eine und andere aus der eigenen Erfahrung zurechtzurücken und/oder Lücken zu schließen.