Odessa: Hunde in der Literatur

Odessa ist nicht nur eine Stadt der Literatur. Sondern auch eine der Hunde. So verwundert es kaum, dass Autoren, die in Odessa geboren sind,  und jene Autoren, die eng mit der Hafenstadt am Schwarzen Meer verbunden sind, häufig selbst auf den Hund gekommen sind. Sei es indem sie Vierbeinern literarische Denkmäler gesetzt oder selber Hunde gehalten haben. Das ist aber noch nicht alles. In St. Petersburg existierte zwischen 1911 und 1915 sogar ein Künstlerkeller, der den Namen „Der streunende Hund“ trug. Hier trafen sich die Größen der damaligen Theater- und Literaturszene. Darunter einige – wie etwa die bedeutende Lyrikerin Anna Achmatowa – die aus Odessa stammen.

Der Futurist Wladimir Majakowski (1893 – 1930) soll Hunde abgöttisch geliebt haben. 1915 entstand sein Gedicht mit dem Titel „Seht, so ward ich ein Hund“. Darin verwandelte er sich kafkaesk in einen verrohten Straßenköter mit Reißzähnen und einem imposanten Schwanz, der die zusammengelaufene Menschenmenge in Angst und Schrecken versetzt. Und so spottete er in den letzten Zeilen: „Als dann borstensträubend, / im Begriff, zu vertieren, / die Menge mich anfiel, / bös, riesenhaft, grau – / da stand ich mit einem Mal / auf allen Vieren, / und bellte regelrecht: ‚Wau! Wau! Wau!“

Paustowski mit Tarussa © Tatjana Halina

Der seinerzeit bedeutende Autor Konstantin Paustowski (1892 – 1968) hat ab den 1930er Jahren Hunde gehalten. Mit Tarussa, seinem gut genährten Zögling, ließ er sich 1961 sogar fotografieren. Damals noch ein relativ kostspieliges Unterfangen. Von Scholem Alejchem (1859 – 1916) – das ist der, der den Roman „Tewja, der Milchmann“ verfasst hat – ist die Hundegeschichte „Rabtschik“ überliefert. Über die Treue zwischen Mensch und Tier spricht Alexander Kuprin (1870 – 1938) in seiner Geschichte „Der weiße Pudel“.

Im Oeuvre des Literatur-Nobelpreisträgers Iwan Bunin (1870 – 1953) trifft man ebenfalls auf Hunde. In all seinen animalischen Varianten, im Bösen und im Guten. In der Erzählung „Der Traum von Oblomows Enkel“ begegnet uns etwa die lebhafte Hündin Dschalma: „Manchmal verschwindet sie ganz im Roggen – nur an der Wellenlinie, die hinter ihr her strömt, kann man erkennen, wo sie ist –, und manchmal springt sie hoch aus den Ähren hervor und blickt verwundert um sich.

In den „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ von Nikolai Gogol (1809 – 1852) spielen die beiden Hunde Maggi und Fidèle eine verheerende Rolle. Sie sind es nämlich, die den kleinen Beamten Aksentij Inwanowitsch Poprischtschin in den Irrsinn treiben. „Offen gestanden, ich war sehr erstaunt, als ich den Hund mit einer Menschenstimme sprechen hörte; aber später, als ich mir alles überdachte, hörte ich auf, darüber zu staunen. Es hat doch in der Welt tatsächlich eine Menge ähnlicher Fälle gegeben“, so beginnt die Novelle, die in die Literaturgeschichte eingehen sollte.

Als besagter Poprischtschin gegen Ende dann in der Zeitung vom Tod des spanischen Königs Ferdinand VII. erfährt, erklärt er sich selbst zum nächsten Monarch Spaniens. Er landet im Irrenhaus, wo er mit Aderlässen, Schlägen und kalten Güssen gequält wird. Ganz so wie es Nikolai Gogol am Lebensende auch ergangen ist. Nach dem Erfolg seines Romans „Die toten Seelen“ (1842), dessen Fortsetzung er zu Teilen in Odessa geschrieben hatte, war Gogol in die Hände eines religiösen Fanatikers geraten. Er verbrannte den fast beendeten zweiten Teil der „Toten Seelen“ und fastete sich zu Tode. Begleitet von Ärzten, die ihn mit Aderlässen und kalten Güssen malträtierten.

Beim Autoren-Duo Ilja Ilf (1897 – 1937) und Jewgeni Petrow (1903 – 1943), die gemeinsam den Kultroman „Zwölf Stühle“ verfasst haben, denkt der Held der Geschichte, der Hochstapler Ostap Bender, derart intensiv an Würste, dass ihm tatsächlich die Hunde Odessas nachlaufen. Bei der Österreicherin Cordula Simon (geb. 1986), die zeitweise in Odessa lebt, begegnet uns der Hund – wie schon bei Alexander Kuprin und Scholem Alejchem – bereits in der Titelei: „Der Potemkinsche Hund“ (2012). Freilich spielt der Titel des Romans auch mit einem der Wahrzeichen Odessas, der Potemkinschen Treppe. In der surrealen Geschichte irrt ein ziemlich heruntergekommener junger, schmutziger Mann ziellos durch die Hafenstadt. Er ist aus einem Grab entstiegen und läuft einem streunenden Hund hinterher, dem er dann den Namen Celobaka gibt. Durch Valentin Katajews (1897 – 1986) experimentelles und zudem hochgelobtes Spätwerk „Kubik“ stromert gleichfalls ein Hund. Ein Pudel, der entgegen der landläufigen Meinung sogar zubeißt.

ein Streuner in Odessa © GvP

Der streunende Hund ist eine Art Indikator für extreme, zugespitzte Krisensituationen: zum Beispiel im Krieg, wenn Menschen von zu Hause vertrieben werden, wenn Städte bombardiert werden, wenn die Bevölkerung auf der Flucht ist. Doch manchmal genügen auch weniger dramatische Situationen, etwa ein Regime-Wechsel wie nach dem Ende der Sowjetunion. Die Sichtbarkeit streunender Hunde, ihre Anzahl und Arroganz sagen viel aus. Je kritischer der Zustand der Menschen, der menschlichen Gesellschaft, umso wohler fühlen sie sich. Die Sichtbarkeit streunender Hunde ist ein Zeichen für den Unfrieden unter den Menschen“, so der französische Schriftsteller Jean Rolin (geb. 1949). Er ist den Streunern bis an die „Ränder der Welt“ gefolgt und hat über seine Spurensuche eine bemerkenswerte Reportage verfasst.[1]

Exemplarisch für Rolins These ist der Collage-Roman „Die Welpen“; der auf Deutsch in der Übersetzung von Christine Körner vorliegt. Verfasst hat ihn Pawel Satzman (1912 – 1985) zwischen den 1930ern und 1950ern Jahren. Satzman, der Zeit seines Lebens nie eine Zeile veröffentlich hat, wurde in Moldawien geboren und wuchs in Odessa auf. Posthum 2012 in Russland veröffentlich wurde „Die Welpen“ als sensationelle Entdeckung gefeiert.

Nicht anders die Reaktionen bei Erscheinen der deutschen Übersetzung im Jahr 2016 beim Berliner Verlag Matthes & Seitz. „Aber wie die Menschen, die der Hunger zu Tieren macht, werden auch die Tiere selbst vom Autor mit durchdringendem Blick erfasst. Sie sind grausam schön beschrieben, mit großer Sprachkraft, doch ohne Ausdruck des Mitleids. Diese Prosa ist deutlich von der Ästhetik des Films geprägt, von der Bildersprache des russischen Futurismus und deutschen Expressionismus und vom Kompositionsbewusstsein eines Bildenden Künstlers. Viele Szenen lesen sich wie Träume und Alpträume, wie Begegnungen mit der Welt des Hieronymus Bosch oder der literarischen Romantik. Dunkel, brutal, irritierend“, so etwa Carsten Hueck in seiner Besprechung für den Sender ORF.

Aus der Perspektive zweier Welpen, die der Autor nicht altern lässt und die den ganzen Roman hindurch auf der Suche nach etwas Fressbaren und einem Platz zum Schlafen sind, werden die grausamen Erfahrungen geschildert, die das Russland des 20. Jahrhunderts geprägt und Millionen Menschen das Leben gekostet haben. Bürgerkriege, Hungersnöte, die stalinistischen Säuberungen, der Zweite Weltkrieg, die Blockade von Leningrad, die Satzman 1941/42 selbst erlebt hat und bei der seine Eltern und ein verehrter Lehrer verhungert sind. In diesem Leningrader Winter entstanden seine ersten Gedichte: „Ich bin Trottel, ich bin Scheißkerl, ich bin Krüppel, / Ich würde einen Menschen für eine Wurst töten, / Aber lassen Sie uns bitte rein, / Wir scharren seit langem wie Hunde an der Tür. / Ich leide doch, ihr Henker, / Vom Harnträufeln!“

Odessa – die Stadt der Hunde. Doch irgendwann nahmen die Hunde überhand. Zwischen 60.000 und 70.000 haben an der Jahrtausendwende in der Hafenstadt auf den Straßen gelebt. Auf der Suche nach Nahrung streunten sie durch Straßencafés, belagerten die Promenade, Hinterhöfe und Parkanlagen. Manchen Odessiten machten die wilden Rudel Angst. Andere versuchten, sich um die verwahrlosten Hunde zu kümmern. Schlussendlich griff die Stadtverwaltung zu drastischen Mitteln. Städtische Tierfänger brachten die Hunde in die sogenannte Budka, dem Todeshaus. 10.000 wurden so jährlich zuerst auf engstem Raum weggesperrt und dann mit Chloroform erstickt. Bis der deutsche Tierschützer Wolfgang Apel (1951 – 2017), zwischen 1993 und 2011 Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, auf das Leid der Tiere aufmerksam wurde.

im Tierschutzzentrum von Odessa © Sabine Münch

Seinem unermüdlichen Bemühen ist zu danken, dass 2005 ein Tierschutz- und Kastrationszentrum eröffnet wurde, das ich während meines Aufenthalts in Odessa im Juli 2017 besucht habe. Über 60.000 Hunde und Katzen wurden dort seit Bestehen kastriert, medizinisch versorgt und wieder in ihre angestammten Reviere zurückgebracht. Die Strategie „Fangen, Kastrieren, Freilassen“ ist erfolgreich aufgegangen. Die Tötung wurde beendet und der Kreislauf der ständigen Vermehrung durchbrochen. Bei meinem Besuch ist mir auf den Straßen Odessas jedenfalls nur ein einziger Streuner begegnet.

Ich singe den kotbespritzten Hund, den armen Hund, den Hund ohne Behausung, den streunenden Hund, den Seiltänzerhund, den Hund, dessen Instinkt wie der des Armen, des Zigeuners und des Komödianten wunderbar geschärft ist durch die Not, die so gute Mutter, die wahre Schutzgöttin der gescheiten Leute! Ich singe die armseligen Hunde, die einsam in den gewundenen Schluchten der unermesslichen Städte umherirren, und sie, die dem verlassenen Menschen mit geistvoll blinzenden Augen sagten: ‚Nimm mich zu dir, und aus dem Elend von uns beiden machen wir dann vielleicht so etwas wie Glück‘.[2]

Ob Charles Baudelaire die obigen Zeilen, die aus seinem Poem „Die braven Hunde“ stammen, in Odessa geschrieben hat, ist nicht verbrieft. Dass er Odessa besucht hat aber schon.

Anmerkungen

Skizzen über die schreibenden Kinder und Besucher der Stadt, von denen einige in diesem Beitrag erwähnt sind, kann man hier nachlesen.

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

1] Jean Rolin: Einen toten Hund ihm nach. Reportage von den Rändern der Welt. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Berlin 2012.

[2] Charles Baudelaire: Die braven Hunde, in: Ders.: Le Spleen de Paris/Pariser Spleen. Kleine Gedichte in Prosa, Ditzingen 2008.

Odessa: Die Stadt der Literatur und der Hunde

„Wir sind glücklich, dass sie auf uns aufpassen.“  Eine Reise in die Ukraine – Teil 1

Wenig weiß man in Westeuropa über die Ukraine. Und das, was man zu wissen meint, ist mit Klischees und Vorurteilen durchsetzt: Misswirtschaft, Korruption, Kriminalität, Prostitution. Wenn überhaupt darüber berichtet wird, dann sind das die großen Themen. Seit Annexion der Krim, dem formalen Beitritt der Halbinsel zu Russland im März 2014 infolge eines spontan abgehaltenen Referendums und dem Bürgerkrieg in den Gebietskörperschaften Donezk und Lugansk in der Ostukraine ist es zudem schwierig geworden, sich jenseits von westlicher und russischer Propaganda über Land und Leute eine Meinung zu bilden.

Nationalfarben © Sabine Münch

Mit einer Delegation des Deutschen Tierschutzbundes war ich im Juli 2017 vor Ort. In Odessa am Schwarzen Meer, das übrigens nicht schwarz, sondern smaragdgrün ist. Vom Flieger aus ebenfalls sofort auffällig: plattes Land, riesige Anbauflächen. Und, in der Tat, rund 32 Millionen Hektar Ackerland gibt es dort; was etwa einem Drittel der Ackerfläche der gesamten Europäischen Union entspricht. Da sich hier große Mengen an nährstoffreicher Schwarzerde befinden, sind die Anbauflächen bei ausländischen Investoren sehr begehrt.

Das Gebiet um Odessa, die „Oblast Odessa“, liegt geopolitisch in einer ungünstigen Lage: eingekesselt zwischen der Halbinsel Krim im Osten und Transnistrien im Südosten. Eine Republik am Ufer des Dnjestr, die sich im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion von Moldawien abgespaltet hat. 1992 gipfelte der Konflikt in einem kurzen blutigen Krieg. Transnistrien, eine der größten europäischen Drehscheiben für Geldwäsche und den Handel mit Drogen und Waffen, ist international nicht anerkannt, wird aber von Russland unterstützt. Die Hauptstadt heißt Tiraspol. – Unweit davon ist mein Großvater väterlicherseits im April 1944 gefallen.

Anflug auf Odessa © GvP

Odessa weist einige Superlative auf. Mit 1.02 Millionen Einwohnern ist sie die drittgrößte Stadt der Ukraine. Neben dem größten Hafen des Landes, der von Anbeginn ein geostrategisches Projekt Russlands gewesen ist, befindet sich in der „Hauptstadt des Südens“ mit der „Nationalen Metschnikow Universität“, nach einem Zoologen benannt, auch eine der ältesten und größten Universitäten des Landes.

Erbaut wurde Odessa auf Geheiß von Katharina der Zweiten, genannt die Große. Nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1787 – 1792 war das fruchtbare Steppenland um Odessa vom Osmanischen an das Russische Reich gefallen. Nun ging es darum, den osmanischen Einfluss langfristig einzudämmen. 1794 beauftragte die Zarin ihren damaligen Liebhaber, Admiral Josif de Ribas, an der strategisch bedeutsamen Stelle am Schwarzen Meer einen Hafen zu bauen. Dort sollte eine Vorzeigemetropole des „neuen Russland“ entstehen, die mediterrane Antwort auf St. Petersburg.

Aus dem Vorhaben wurde Realität. Hafen und Stadt entwickelten sich rasch zu einem wichtigen Umschlagplatz. Odessa boomte, Handel und Kultur blühten. Russische, italienische, griechische und jüdische Kaufleute ließen sich nieder, auch Deutsche, Franzosen und Polen zog es dorthin. Bereits hundert Jahre nach ihrer Gründung war Odessa die viertgrößte Stadt im Zarenreich. Es gab eine Oper, eine Börse, eine Kathedrale. Bald galt die schmucke Küstenstadt, die „Perle am Schwarzen Meer“, als „Riviera“ des Zaren- und später des Sowjetreichs.

Hafen von Odessa © Sabine Münch

Bis in die heutigen Tage wird Odessa in russischen Kulturkreisen als „russische“ oder „russisch-jüdische“ Stadt wahrgenommen. Es gibt kaum eine russische Familie ohne Verwandte in der Ukraine und umgekehrt. Entsprechend eng ist die Identität der Odessiten mit Russland verwoben.[1] Nach offiziellen Angaben sind 30 Prozent der Stadtbevölkerung ethnisch russischstämmig.

Andererseits war Odessa ein Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen; eine multi-ethische, kosmopolitische und weltoffene Hafenmetropole, die Intellektuelle, Künstler und Freidenker anzog. Alexander Puschkin, der Teile seines Versepos „Eugen Onegin“ 1823/24 im Odessiter Exil verfasste, hat das Stimmengewirr in den Straßen beschrieben. Hier atme man Europa, soll er über Odessa gesagt haben. Genau diese Vielfalt war totalitären Machthabern verhasst. Die Bolschewiken vertrieben die Franzosen und Italiener, Stalin die Griechen und die Schwarzmeerdeutschen, die Nationalsozialisten, die Odessa im 2. Weltkrieg besetzt hatten, die Juden. 100.000 Odessiter Juden sind den Pogromen zum Opfer gefallen.

in Odessa © Sabine Münch

Vom Sprachengewirr aus Russisch, Griechisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Jiddisch kam mir nichts zu Ohren. – Und mit Englisch, dem Idiom, mit dem ich mich halbwegs vor Ort hätte durchschlagen können, haben es die Odessiten nicht. – Nach der Unabhängigkeit wurde per Dekret Ukrainisch als einzige offizielle Landessprache festgelegt, obwohl ein Großteil der Bevölkerung, vorwiegend im Osten des Landes, Russisch spricht. So sie sich nicht eines besonderen Dialekts bedienen, der sich unter dem Einfluss der jiddischen und ukrainischen Sprache entwickelt hat, sprechen die Odessiten im Alltag überwiegend Russisch. Die Amtssprache freilich ist Ukrainisch.

Schilder auf den Straßen oder dem Flughafen sind sowohl in ukrainischer wie in russischer Sprache gehalten. Mit leichten Abweichungen gebrauchen beide Sprachen die kyrillische Schrift. Die Orthografie wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem Russischen angepasst. Mancher Ukrainer hält jedoch an der Rechtschreibung fest wie sie bis in die 1920er Jahre gültig gewesen ist.

Odessa © Sabine Münch

Die pittoreske Hafenstadt ist arm und reich zugleich. Reich an Kultur, mittelos ist ein Großteil der Bevölkerung, vor allem in den Vorstädten und im Umland. Zu Sowjetzeiten war die Reederei mit 318 Schiffen und 25.000 Seeleuten eine der größten weltweit. Nach der Unabhängigkeit wurde die Reederei privatisiert, die Schiffe teilweise zu Schleuderpreisen ins Ausland verkauft. Trotzdem konnte sich Odessa bis zur Krimkrise als bedeutendster Umschlaghafen des Schwarzen Meeres halten. Ein Drittel der Arbeitsplätze war damals mit dem Hafen und dem Meer verknüpft.

Seit der Krimkrise und den Kämpfen in der Ostukraine legen keine russischen Handelsschiffe mehr im Hafen an. Die devisenbringenden Touristen aus dem Westen und die zahlreichen wohlhabenden Russen, die bis 2014 gerne in die liberale Stadt mit südländischem Flair gereist sind, bleiben fort. Und die großen internationalen Kreuzfahrtschiffe, die regelmäßig in Odessa Station gemacht haben? Die laufen stattdessen das bulgarische Warna an. Womit sich vielen Odessiten, die vom Hafen und dem Tourismus gelebt haben, kein Auskommen und keine berufliche Perspektive mehr in der Hafenstadt bieten.

Fassade © Sabine Münch

Die Ukraine zählt heute zu den ärmsten Staaten Europas. Das Durchschnittseinkommen liegt bei unter 300 Euro, der Mindestlohn bei 51 Euro. Mancher Rentner bezieht lediglich 80 Euro – und dies bei Preisen, die für die dortigen Verhältnisse recht hoch sind. Zudem ist der Griwna (1 Euro = 30 Griwna) – dessen Scheine nur mit Mühe in mein Portemonnaie passten, das auf Euroscheine geeicht ist – keine stabile Währung. Die Inflation ist hoch. Im ersten Halbjahr 2017 stiegen die Verbraucherpreise um 13,8 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum. Vor allem junge, gut ausgebildete Kräfte zieht es fort ins Ausland. Die Visumspflicht, die im Juni 2017 für Ukrainer entfallen ist, mag das erleichtern.

Da die Krim als einstiges Lieblingsurlaubsziel der Ukrainer weggefallen ist, waren die Strände in Odessa bei unserem Aufenthalt im Juli 2017 gut besucht. Reges Treiben herrschte auch im „Istanbul Park“ an der berühmten Potemkin-Treppe, neben der Oper dem Wahrzeichen der Hafenstadt. Die gepflegte Anlage erinnerte mich an die Gönneranlage im Kurort Baden-Baden. Picobello sauber, akkurat geschnittener Rasen, Blütenpracht – alle zehn Meter ein Hinweisschild, dass Hunde nicht erwünscht sind.

Blick von der Potemkin-Treppe © Sabine Münch

Der Park, der im Mai 2017 offiziell übergeben wurde, ist ein Geschenk der Türkei anlässlich des 20. Jahrestages der Städtepartnerschaft zwischen Istanbul und Odessa. Die Potemkin-Treppe mit ihren 192 Stufen, die unten fast zweimal breiter sind als oben, hat Mark Twain 1869 so beschrieben: „Eine riesige Flucht steinerner Stufen führte hinunter zum Hafen … Es ist eine prächtige Treppe, und von weitem wirken die Menschen, die sich hinaufplagen, wie Insekten.” Hinaufplagen muss sich heute niemand mehr, da eine Zahnradbahn in Betrieb genommen wurde.

Auf mich wirkte die ursprünglich aus Muschelkalk um 1840 erbaute Treppe unscheinbar. Grauer Granit aus den frühen 1930er Jahren, der Zeit ihrer letzten Renovierung. Ein vollkommen anderer Eindruck als in Sergeji Eisensteins Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ mit der beeindruckenden Szene, in der ein Kinderwagen – gleichsam in Zeitlupe – die Stufen der Potemkinschen Treppe hinabrollt. Wegen dieser Sequenz wohl gilt sie als die berühmteste Treppe der Welt.

Legendär sind auch die Katakomben von Odessa, ein circa 2.500 Kilometer langes Tunnelsystem, das sich bis in die Außenbezirke erstreckt. Kurz nach Gründung 1792 hatte man begonnen, direkt unter der Stadt Sandstein abzubauen. Mit den Stollen hat sich ein weit verzweigtes Netz gebildet, in dem die Gesetze aus der Oberwelt außer Kraft gesetzt waren. Das Labyrinth, in dem sich heute keiner mehr zurechtfindet, haben ehedem unterschiedlichste Menschen genutzt. Es bot Gaunern, Verbrechern und Seeräubern, aber auch religiösen Minderheiten, politisch Verfolgten und den Partisanen Zuflucht, die sich während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg dort versteckt hielten.

Sandstrand in Odessa © GvP

Außer meiner Geburtsstadt Baden-Baden erinnerte mich Odessa auch an eine Hafenstadt im Atlantik: Las Palmas auf Gran Canaria, wo ich an der dortigen „Deutschen Schule“ die Mittlere Reife ablegt habe. Aufgehübschtes neben Heruntergekommenem. Aufwändig restaurierte Gebäude, die europäische Architekten ab Ende des 18. Jahrhunderts in Odessa geschaffen haben, neben Bürgerhäusern von denen der Putz bröckelt. Manches Wohnhaus wirkte so baufällig, dass ich mir nur schwer vorstellen konnte, dass es bewohnt ist.

Neoklassizismus, Empire und Jugendstil sowie die „russische Moderne“ der 1910er Jahre prägen das Stadtbild. Etliche Bausünden gibt es auch: quadratisch-funktional. Aus der sowjetischen Ära und der ersten Wende-Zeit nach der Unabhängigkeit von Russland. Bau-Flops neueren Datums finden sich ebenfalls. So hat der Stadtrat am unteren Ende der Potemkin-Treppe die Errichtung eines Hotel-Kolosses genehmigt. Von dort strebt ein Wolkenkratzer (siehe Bild oben) in den Himmel, der den Blick von der Treppe auf die Hafenbucht verstellt, aber nie genutzt wurde, leer steht. Auch an anderen exponierten Orten in der Stadt haben ausländische Investoren frei nach dem Motto „Geld zählt mehr als Denkmalschutz“ ihr Glück gesucht – und sich verspekuliert. Etwa unweit vom Stadtgarten, einem beliebten Treffpunkt der geselligen, lebensfrohen Odessiten. Das imposante, aufwändig restaurierte Gebäude steht seit Jahren leer. Zum Ärger der Odessiten.

quadratisch-funktional © Sabine Münch

Die „guten Onkels“ sind in der Ukraine ein geflügeltes Wort für die unsichtbaren Strippenzieher, die mit ihrem Geld das Geschehen bestimmen. Bürgermeister Gennadij Truchanow, seit Mai 2015 in Odessa im Amt, tauchte in den berühmt-berüchtigten Panama-Papers als Eigner mehrerer Briefkasten-Firmen auf. Er ist Hobby-Thaiboxer und besitzt ein florierendes Bauunternehmen. Nachgesagt wird ihm, die Medien, den Stadtrat und die Geschäftsleute fest im Griff zu haben und Beziehungen zur Unterwelt zu pflegen. Für Aufsehen (sogar in den hiesigen Medien) sorgte sein Machtkampf mit dem ehemaligen Gouverneur der Regionalen Staatsverwaltung von Odessa, Michail Saakaschwili, den Präsident Petro Poroschenko im Mai 2015 eingesetzt hat, um die Korruption, mafiöse Strukturen und alte Seilschaften effektiv zu bekämpfen.

der Bauflop am Stadtgarten © GvP

Am Ende konnte sich Bürgermeister Truchanow durchsetzen, der für das alte System stehen und eine pro-russische Linie vertreten soll. Saakaschwili, der nicht von allen Odessiten gut gelitten war und in der Bevölkerung zunehmend an Rückhalt verlor, warf im November 2016 das Handtuch. Als dessen Nachfolger bestimmte Poroschenko, der nach der Maidan-Revolution im Juni 2014 ins Präsidialamt gewählt wurde, im Januar 2017 Maksym Stepanow.

Sicherlich gibt es zahllose Geschichten, die über die Hafenstadt berichtet werden könnten. Mit seinen „Geschichten aus Odessa“ hat der sowjetische Schriftsteller Isaak Babel der Halbwelt ein literarisches Denkmal gesetzt. „Odessa ist eine abscheuliche Stadt. Das weiß jedermann“, schrieb er 1916. Strippenzieher, Markenfälscher und Gauner, Schmuggler und Schmiergeldzahler, Waffenhändler und Mafiosi – der Mythos, die Stadt der Gauner und der Sünde zu sein, haftet Odessa bis heute an.

Marken-Piraterie © Sabine Münch

Diesem Leumund wird der größte Schwarzmarkt Europas gerecht, der vor den Toren Odessas liegt. Am siebten Kilometerstein, weshalb er offiziell den Namen „7. Kilometer“ trägt. Ein Staat in der Oblast Odessa mit eigenen Gesetzen und Regeln. Die Verkaufsfläche, die aus 3.000 ausrangierten, bemalten Schiffscontainern besteht, erstreckt sich über 750.000 Quadratmeter. 60.000 Menschen aus 32 Nationen arbeiten in der Händlerstadt, die vom Nike- und Gucci-Imitat über Autos und Waschmaschinen, CDs und Computer, Babyschnuller, Gebrauchsgegenstände und Nahrungsmittel alles bietet, was das Herz begehrt. Nicht grundlos heißt der Schwarzmarkt unter Einheimischen „Feld der Wunder“.

Als der Krieg im Osten der Ukraine begann, war es auch in Odessa zu Sympathiebekundungen für Russland gekommen. Verschiedentlich zu Zusammenstößen zwischen pro-ukrainischen und pro-russischen Kräften. Am 2. Mai 2014 eskalierte eine Straßenschlacht. Abends wurde das Gewerkschaftshaus, in das sich die pro-russischen Aktivisten zurückgezogen hatten, durch Molotow-Cocktails in Brand gesetzt. Der Hergang, der ungeklärt geblieben ist, forderte 48 Tote, darunter mehrheitlich pro-russische Aktivisten, und über 200 Verletzte.

Odessa 2014 © Sabine Münch

Von diesen Spannungen war bei unserem Aufenthalt nichts spürbar. Auch der Krieg im Osten – knapp 650 Kilometer von Odessa entfernt – war nicht greifbar. Lediglich für einen kurzen Moment wurde mir vor Augen geführt, dass die Ukraine seit dreieinhalb Jahren in einem Bürgerkrieg steht. Dann nämlich als ein martialischer Kampfhubschrauber mit ohrenbetäubendem Lärm aufstieg. Irritiert wandte ich mich an unsere Dolmetscherin Valentina. Sie lächelte: „Wir sind glücklich, dass sie auf uns aufpassen.“ – Gemeint war die Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), die den brüchigen Waffenstillstand überwacht, der mit dem Friedensabkommen von Minsk 2015 ausgehandelt wurde. Bisher hat der Krieg im Osten mehr als 10.000 Opfer gekostet.

 

Eine kleine Reihe über die schreibenden Kinder und Besucher der Stadt kann man hier nachlesen.

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

 

Anmerkungen:

[1] Im Westen wird die Ukraine gemeinhin als eine tief gespaltene Gesellschaft wahrgenommen, als Zankapfel und Schlachtfeld zwischen Russland und dem Westen dargestellt. Hintergrundinformationen über die konfliktentscheidenden Ost-West-Gegensätze in der Ukraine liefert ein kenntnisreicher Essay von Andrij Portnov: Postsowjetische Hybridität und „Eurorevolution“ in der Ukraine, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2014/47-48.

Wer sich detailliert über die Geschichte und Entwicklung der Hafenstadt informieren möchte, wird im Online-Lexikon zur Geschichte der Deutschen im östlichen Europa der Carl-von-Ossietzky der Universität Oldenburg fündig