Odessa: Hunde in der Literatur

Odessa ist nicht nur eine Stadt der Literatur. Sondern auch eine der Hunde. So verwundert es kaum, dass Autoren, die in Odessa geboren sind,  und jene Autoren, die eng mit der Hafenstadt am Schwarzen Meer verbunden sind, häufig selbst auf den Hund gekommen sind. Sei es indem sie Vierbeinern literarische Denkmäler gesetzt oder selber Hunde gehalten haben. Das ist aber noch nicht alles. In St. Petersburg existierte zwischen 1911 und 1915 sogar ein Künstlerkeller, der den Namen „Der streunende Hund“ trug. Hier trafen sich die Größen der damaligen Theater- und Literaturszene. Darunter einige – wie etwa die bedeutende Lyrikerin Anna Achmatowa – die aus Odessa stammen.

Der Futurist Wladimir Majakowski (1893 – 1930) soll Hunde abgöttisch geliebt haben. 1915 entstand sein Gedicht mit dem Titel „Seht, so ward ich ein Hund“. Darin verwandelte er sich kafkaesk in einen verrohten Straßenköter mit Reißzähnen und einem imposanten Schwanz, der die zusammengelaufene Menschenmenge in Angst und Schrecken versetzt. Und so spottete er in den letzten Zeilen: „Als dann borstensträubend, / im Begriff, zu vertieren, / die Menge mich anfiel, / bös, riesenhaft, grau – / da stand ich mit einem Mal / auf allen Vieren, / und bellte regelrecht: ‚Wau! Wau! Wau!“

Paustowski mit Tarussa © Tatjana Halina

Der seinerzeit bedeutende Autor Konstantin Paustowski (1892 – 1968) hat ab den 1930er Jahren Hunde gehalten. Mit Tarussa, seinem gut genährten Zögling, ließ er sich 1961 sogar fotografieren. Damals noch ein relativ kostspieliges Unterfangen. Von Scholem Alejchem (1859 – 1916) – das ist der, der den Roman „Tewja, der Milchmann“ verfasst hat – ist die Hundegeschichte „Rabtschik“ überliefert. Über die Treue zwischen Mensch und Tier spricht Alexander Kuprin (1870 – 1938) in seiner Geschichte „Der weiße Pudel“.

Im Oeuvre des Literatur-Nobelpreisträgers Iwan Bunin (1870 – 1953) trifft man ebenfalls auf Hunde. In all seinen animalischen Varianten, im Bösen und im Guten. In der Erzählung „Der Traum von Oblomows Enkel“ begegnet uns etwa die lebhafte Hündin Dschalma: „Manchmal verschwindet sie ganz im Roggen – nur an der Wellenlinie, die hinter ihr her strömt, kann man erkennen, wo sie ist –, und manchmal springt sie hoch aus den Ähren hervor und blickt verwundert um sich.

In den „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ von Nikolai Gogol (1809 – 1852) spielen die beiden Hunde Maggi und Fidèle eine verheerende Rolle. Sie sind es nämlich, die den kleinen Beamten Aksentij Inwanowitsch Poprischtschin in den Irrsinn treiben. „Offen gestanden, ich war sehr erstaunt, als ich den Hund mit einer Menschenstimme sprechen hörte; aber später, als ich mir alles überdachte, hörte ich auf, darüber zu staunen. Es hat doch in der Welt tatsächlich eine Menge ähnlicher Fälle gegeben“, so beginnt die Novelle, die in die Literaturgeschichte eingehen sollte.

Als besagter Poprischtschin gegen Ende dann in der Zeitung vom Tod des spanischen Königs Ferdinand VII. erfährt, erklärt er sich selbst zum nächsten Monarch Spaniens. Er landet im Irrenhaus, wo er mit Aderlässen, Schlägen und kalten Güssen gequält wird. Ganz so wie es Nikolai Gogol am Lebensende auch ergangen ist. Nach dem Erfolg seines Romans „Die toten Seelen“ (1842), dessen Fortsetzung er zu Teilen in Odessa geschrieben hatte, war Gogol in die Hände eines religiösen Fanatikers geraten. Er verbrannte den fast beendeten zweiten Teil der „Toten Seelen“ und fastete sich zu Tode. Begleitet von Ärzten, die ihn mit Aderlässen und kalten Güssen malträtierten.

Beim Autoren-Duo Ilja Ilf (1897 – 1937) und Jewgeni Petrow (1903 – 1943), die gemeinsam den Kultroman „Zwölf Stühle“ verfasst haben, denkt der Held der Geschichte, der Hochstapler Ostap Bender, derart intensiv an Würste, dass ihm tatsächlich die Hunde Odessas nachlaufen. Bei der Österreicherin Cordula Simon (geb. 1986), die zeitweise in Odessa lebt, begegnet uns der Hund – wie schon bei Alexander Kuprin und Scholem Alejchem – bereits in der Titelei: „Der Potemkinsche Hund“ (2012). Freilich spielt der Titel des Romans auch mit einem der Wahrzeichen Odessas, der Potemkinschen Treppe. In der surrealen Geschichte irrt ein ziemlich heruntergekommener junger, schmutziger Mann ziellos durch die Hafenstadt. Er ist aus einem Grab entstiegen und läuft einem streunenden Hund hinterher, dem er dann den Namen Celobaka gibt. Durch Valentin Katajews (1897 – 1986) experimentelles und zudem hochgelobtes Spätwerk „Kubik“ stromert gleichfalls ein Hund. Ein Pudel, der entgegen der landläufigen Meinung sogar zubeißt.

ein Streuner in Odessa © GvP

Der streunende Hund ist eine Art Indikator für extreme, zugespitzte Krisensituationen: zum Beispiel im Krieg, wenn Menschen von zu Hause vertrieben werden, wenn Städte bombardiert werden, wenn die Bevölkerung auf der Flucht ist. Doch manchmal genügen auch weniger dramatische Situationen, etwa ein Regime-Wechsel wie nach dem Ende der Sowjetunion. Die Sichtbarkeit streunender Hunde, ihre Anzahl und Arroganz sagen viel aus. Je kritischer der Zustand der Menschen, der menschlichen Gesellschaft, umso wohler fühlen sie sich. Die Sichtbarkeit streunender Hunde ist ein Zeichen für den Unfrieden unter den Menschen“, so der französische Schriftsteller Jean Rolin (geb. 1949). Er ist den Streunern bis an die „Ränder der Welt“ gefolgt und hat über seine Spurensuche eine bemerkenswerte Reportage verfasst.[1]

Exemplarisch für Rolins These ist der Collage-Roman „Die Welpen“; der auf Deutsch in der Übersetzung von Christine Körner vorliegt. Verfasst hat ihn Pawel Satzman (1912 – 1985) zwischen den 1930ern und 1950ern Jahren. Satzman, der Zeit seines Lebens nie eine Zeile veröffentlich hat, wurde in Moldawien geboren und wuchs in Odessa auf. Posthum 2012 in Russland veröffentlich wurde „Die Welpen“ als sensationelle Entdeckung gefeiert.

Nicht anders die Reaktionen bei Erscheinen der deutschen Übersetzung im Jahr 2016 beim Berliner Verlag Matthes & Seitz. „Aber wie die Menschen, die der Hunger zu Tieren macht, werden auch die Tiere selbst vom Autor mit durchdringendem Blick erfasst. Sie sind grausam schön beschrieben, mit großer Sprachkraft, doch ohne Ausdruck des Mitleids. Diese Prosa ist deutlich von der Ästhetik des Films geprägt, von der Bildersprache des russischen Futurismus und deutschen Expressionismus und vom Kompositionsbewusstsein eines Bildenden Künstlers. Viele Szenen lesen sich wie Träume und Alpträume, wie Begegnungen mit der Welt des Hieronymus Bosch oder der literarischen Romantik. Dunkel, brutal, irritierend“, so etwa Carsten Hueck in seiner Besprechung für den Sender ORF.

Aus der Perspektive zweier Welpen, die der Autor nicht altern lässt und die den ganzen Roman hindurch auf der Suche nach etwas Fressbaren und einem Platz zum Schlafen sind, werden die grausamen Erfahrungen geschildert, die das Russland des 20. Jahrhunderts geprägt und Millionen Menschen das Leben gekostet haben. Bürgerkriege, Hungersnöte, die stalinistischen Säuberungen, der Zweite Weltkrieg, die Blockade von Leningrad, die Satzman 1941/42 selbst erlebt hat und bei der seine Eltern und ein verehrter Lehrer verhungert sind. In diesem Leningrader Winter entstanden seine ersten Gedichte: „Ich bin Trottel, ich bin Scheißkerl, ich bin Krüppel, / Ich würde einen Menschen für eine Wurst töten, / Aber lassen Sie uns bitte rein, / Wir scharren seit langem wie Hunde an der Tür. / Ich leide doch, ihr Henker, / Vom Harnträufeln!“

Odessa – die Stadt der Hunde. Doch irgendwann nahmen die Hunde überhand. Zwischen 60.000 und 70.000 haben an der Jahrtausendwende in der Hafenstadt auf den Straßen gelebt. Auf der Suche nach Nahrung streunten sie durch Straßencafés, belagerten die Promenade, Hinterhöfe und Parkanlagen. Manchen Odessiten machten die wilden Rudel Angst. Andere versuchten, sich um die verwahrlosten Hunde zu kümmern. Schlussendlich griff die Stadtverwaltung zu drastischen Mitteln. Städtische Tierfänger brachten die Hunde in die sogenannte Budka, dem Todeshaus. 10.000 wurden so jährlich zuerst auf engstem Raum weggesperrt und dann mit Chloroform erstickt. Bis der deutsche Tierschützer Wolfgang Apel (1951 – 2017), zwischen 1993 und 2011 Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, auf das Leid der Tiere aufmerksam wurde.

im Tierschutzzentrum von Odessa © Sabine Münch

Seinem unermüdlichen Bemühen ist zu danken, dass 2005 ein Tierschutz- und Kastrationszentrum eröffnet wurde, das ich während meines Aufenthalts in Odessa im Juli 2017 besucht habe. Über 60.000 Hunde und Katzen wurden dort seit Bestehen kastriert, medizinisch versorgt und wieder in ihre angestammten Reviere zurückgebracht. Die Strategie „Fangen, Kastrieren, Freilassen“ ist erfolgreich aufgegangen. Die Tötung wurde beendet und der Kreislauf der ständigen Vermehrung durchbrochen. Bei meinem Besuch ist mir auf den Straßen Odessas jedenfalls nur ein einziger Streuner begegnet.

Ich singe den kotbespritzten Hund, den armen Hund, den Hund ohne Behausung, den streunenden Hund, den Seiltänzerhund, den Hund, dessen Instinkt wie der des Armen, des Zigeuners und des Komödianten wunderbar geschärft ist durch die Not, die so gute Mutter, die wahre Schutzgöttin der gescheiten Leute! Ich singe die armseligen Hunde, die einsam in den gewundenen Schluchten der unermesslichen Städte umherirren, und sie, die dem verlassenen Menschen mit geistvoll blinzenden Augen sagten: ‚Nimm mich zu dir, und aus dem Elend von uns beiden machen wir dann vielleicht so etwas wie Glück‘.[2]

Ob Charles Baudelaire die obigen Zeilen, die aus seinem Poem „Die braven Hunde“ stammen, in Odessa geschrieben hat, ist nicht verbrieft. Dass er Odessa besucht hat aber schon.

Anmerkungen

Skizzen über die schreibenden Kinder und Besucher der Stadt, von denen einige in diesem Beitrag erwähnt sind, kann man hier nachlesen.

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

1] Jean Rolin: Einen toten Hund ihm nach. Reportage von den Rändern der Welt. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Berlin 2012.

[2] Charles Baudelaire: Die braven Hunde, in: Ders.: Le Spleen de Paris/Pariser Spleen. Kleine Gedichte in Prosa, Ditzingen 2008.