Unbehagen mit der „Charta der Digitalen Grundrechte der EU“

Nachdem Justizminister Heiko Maas im Sommer 2015 Facebook und anderen Betreibern großer Internetportale und Plattformen die Selbstverpflichtung abgenommen hatte, verstärkt gegen rassistische, fremdenfeindliche und gewaltverherrlichende Botschaften vorzugehen, stellte Martin Schulz, Noch-Präsident des Europäischen Parlaments, eine EU-„Charta der digitalen Grundrechte“ in Aussicht. Ende November 2016 kamen Gerüchte auf, dass Schulz das ambitionierte Papier in petto hätte. Quasi als flankierende Maßnahme für seine Rückkehr in die deutsche Politik …

die Anzeige in der "Zeit"

die Anzeige in der „Zeit“

Eine Ente, fragte ich mich? Sollte es möglich geworden sein, dass sich 28 völlig zerstrittene EU-Mitgliedsstaaten binnen eines Jahres auf eine digitale Grundrechte-Charta geeinigt haben? Am 30. November ließen Insider wissen, dass ihnen der Text vorläge. Am 1. Dezember wurde die Charta publik gemacht, zudem ihre Entstehungsgeschichte. Einst hatten Gespräche zwischen dem SPD-Politiker Martin Schulz, dem Chefredakteur der „Zeit“ Giovanni di Lorenzo und dem mittlerweile verstorbenen Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher, zum Thema stattgefunden. Zur Leitfrage ließ die „Zeit“ wissen: „Wie lässt sich die Souveränität und Freiheit des Einzelnen in der digitalen Welt schützen – gegen die Totalüberwachung des Staates, aber ebenso auch gegen den Zugriff mächtiger Konzerne.“ Ziel der Initiative sei es, „eine Debatte über digitale Grundrechte anzuregen, an der sich alle Bürger Europas beteiligen sollen.“

Die „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ besteht aus einer Präambel und 23 Artikeln, die 27 Initiatoren aus Deutschland binnen 14 Monaten erarbeitet haben. Seit Erscheinen wird sie in Insiderkreisen auf Herz und Niere geprüft – und differenziert kritisiert. Ich erlaube mir, an dieser Stelle mein eher allgemein gehaltenes Unbehagen damit zu formulieren.

Die Art der Präsentation erweckt für mich den Anschein, als wäre der Text in Stein gemeißelt. Das evoziert auch der Titel, der vorgibt, die EU würde hinter dem Papier stehen. Mit Jan Philipp Albrecht und Martin Schulz zeichnen aber lediglich zwei Mitglieder des Europäischen Parlaments für die Charta verantwortlich. Fakt ist außerdem, dass die EU bei Veröffentlichung noch keine Kenntnis von dem Papier hatte und erst im Nachhinein in die Debatte eingebunden werden soll. Nicht zuletzt könnte man auch das – gut und gerne – Chuzpe nennen, wenn 27 deutsche Verfasser meinen, im Namen von über 510 Millionen EU-Bürger sprechen zu können.

Indem der Anschein erweckt wurde, das Papier sei in der EU bereits (aus)diskutiert worden, hat man sich keinen Gefallen getan. Auch nicht damit, dass sich Experten in einen Elfenbeinturm zurückgezogen haben, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit monatelang an digitalen Grundrechten für die Mitgliedsstaaten der EU zu feilen. Das Anliegen, eine breite öffentliche Debatte über die Gestaltung der digitalen Zukunft lostreten zu wollen, wird so konterkariert. Manchen dürfte der großspurige Auftritt verprellen, wenn nicht sogar abschrecken, sich in die Diskussionen einzubringen. So holt man die breite Masse, die man vorgibt, einbinden zu wollen, bestimmt nicht ab.

Warum nicht etwas kleiner? Weniger pathetisch? Statt „Präambel“ „Einleitung“, statt „Artikel 1“ „Punkt 1“ und so fort. Nicht ganz glücklich war auch der Zeitpunkt, zu dem man die Katze aus dem Sack gelassen hat. Seit dem Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen hören wir ohne Unterlass, welche Gefahren aus dem Netz für die Demokratie und „unsere Werte“ drohen und dass die Notwendigkeit bestünde, das Internet zu regulieren, gegen „Hate-Speech“, Bots und Trolle vorzugehen und die Betreiber großer Plattformen in die Pflicht zu nehmen. Mancher, der mit der Materie nicht ganz so vertraut ist, könnte die Digitalcharta als einen Schritt eben hin zur Regulierung missverstehen.

Wünschenswerter wäre gewesen, die internen Debatten, Dispute und Querelen, das gemeinsame Ringen um eine Präambel und 23 Artikel, öffentlich zu machen, statt die Charta deus ex machina zu präsentieren. Statt ganzseitige Anzeigen ohne Hintergrundinformationen über Ziel und Zweck der Initiative zu platzieren, wäre es angebrachter gewesen, Berichte über das Vorhaben zu lancieren, die das Bewusstsein dafür hätten schüren können, wie notwendig eine solche gesellschaftliche Debatte zur Gestaltung der digitalen Welt überhaupt ist.

Natürlich ist es unstrittig, dass wir uns darum kümmern müssen. Das Verständnis für die anstehenden Probleme wird aber nicht dadurch befördert, indem ein Papier beworben wird, das wie gemeißelt daherkommt. Da nützt es leider auch wenig, wenn Sascha Lobo, einer der Initiatoren, im Nachklapp nun von einer Beta-Version 0.8 spricht, „die im Netz reifen soll, bis sie überhaupt jemals zur Version 1.0 werden kann. – So wird das leider nix. Jedenfalls nichts mit einer wünschenswerten Beteiligung vieler EU-Bürger.

 

4 Kommentare zu “Unbehagen mit der „Charta der Digitalen Grundrechte der EU“

  1. Pingback: Die Digitalcharta – ein deutscher Sonderweg | Wolfgang Michal

  2. Dem kann man nur zustimmen:
    Wünschenswerter wäre gewesen, die internen Debatten, Dispute und Querelen, das gemeinsame Ringen um eine Präambel und 23 Artikel, öffentlich zu machen, statt die Charta deus ex machina zu präsentieren.
    Bei solchen fundamentalen Dingen sollte es eine allgemeine Diskussion geben.

  3. Pingback: Ist die #digitalcharta noch zu retten? at qrios

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