Autoren der Gegenwart. Odessa: Stadt der Literatur (8)

„Es geschah, es geschah in Odessa!“, heißt es überschwänglich in Wladimir Majakowskis frühem Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ (1915). Das ist nicht die einzige Hymne, die Künstler auf die Stadt am Schwarzen Meer gesungen haben. Geprägt vom liberalen Geist und mediterranem Klima hat die Stadt – neben den literarischen Zentren Lviv (früher: Lemberg) und Ivano-Frankivsk (früher: Stanislaw)viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Ihre Werke haben das Bild von Odessa geprägt.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Ich bin auf Autoren gestoßen, die die Umstände der Zeit gebrochen haben, aber auch auf solche, die widerstanden oder einfach Glück gehabt haben. Auf Dissidenten, Kriegsgefallene und Opfer der stalinistischen Säuberungen. Und so ist eine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen, die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben: Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Dann wurden einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur und Autoren skizziert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Es folgten einige Schriftsteller, die politisch nicht genehm gewesen sind, einst berühmte Namen, die in Vergessenheit geraten sind, und einige literarische Entdeckungen. Nach den Klassikern, die eng mit Odessa verbunden waren, kommen – im letzten Teil dieser Reihe – einige Autoren der Gegenwart zur Sprache.

 

In Odessa geboren ist Irina Borrisowona Ratuschinskaja (1954 – 2017). Sie beendete an der Nationalen I.-I.-Metschnikow-Universität ein Studium der Physik, arbeitete als Hochschulassistentin und Grundschullehrerin. In der Heimat hatte sie keine Publikationsmöglichkeiten, erwarb sich aber als Lyrikerin im Ausland Anerkennung. Sie wurde Mitglied im Internationalen PEN, schloss sich einer Bürgerrechtsbewegung an und engagierte sich politisch mit für sie harten Konsequenzen. 1982 wurde sie wegen „antisowjetischer Propaganda“ und „Verbreitung verleumderischer Dokumente in Gedichtform“ zur damals geltenden Höchststrafe verurteilt: zu sieben Jahren verschärftem Arbeitslager und einer sich anschließenden fünfjährigen Verbannung.

1986 kam sie aufgrund internationaler Proteste frei. Nachdem man ihr die russische Staatsbürgerschaft entzogen hatte, ging sie in die USA, später nach London. Im Exil äußerte sich die Ratuschinskaja zum harten Urteil. Wegen einer so langen Haftstrafe habe sie sich eigentlich geschmeichelt fühlen können. Dies sei nämlich die erste öffentliche Anerkennung ihres literarischen Schaffens in der Heimat gewesen. 1998 kehrte sie aus dem Exil nach Russland zurück. Irina Ratuschinskaja ist im Juli 2017 in Moskau verstorben.

Ihre Erfahrungen im Gefangenenlager Baraschewo im Westen der Republik Mordwinien – wo auch die politische Aktivistin Nadeschda Tolokonnikowa der Punk-Band Pussy Roit einsaß – hat Irina Ratuschinskaja in ihren Erinnerungen „Grau ist die Farbe der Hoffnung. Bericht aus einem Frauenlager“ (1988) verarbeitet. Darin beschreibt sie auch die Solidarität der Frauen untereinander und wie sie versucht haben, ihre Würde zu bewahren und sich gegen Schikanen und erniedrigende Lebensumstände zu Wehr zu setzen. Eine Reminiszenz an die Geburtsstadt ist der Roman „Die Frauen von Odessa“ (1996)[1], der vom bewegten Schicksal dreier Familien zwischen 1905 und dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 erzählt. Die Fortsetzung „Die Kinder von Odessa“, 2004 erschienen, behandelt die Zeit der Besatzung durch die Deutschen und die Rumänen und die Mühen der Nachkriegszeit. Erzählt wird das aus der Sicht zweier Kinder; der elfjährigen Sweta und dem gleichaltrigen Aljoscha.[2]

„Am Anfang war das Meer“, heißt es in einem Gedicht des in Odessa 1970 geborenen Lyrikers und Essayisten Ilya Kaminsky. 1993 reiste er mit seinen Eltern nach Kalifornien aus, wo er Gedichte auf Englisch zu schreiben begann. Der literarische Durchbruch gelang ihm mit der 2004 erschienen Gedichtsammlung „Dancing in Odessa“, für die er unter anderem den „Writers Writing Award“ erhalten hat. Seine vielfach ausgezeichneten Gedichte liegen in vielen Übersetzungen vor. Etwa in Frankreich, Spanien, Russland und China; bislang nicht aber auf Deutsch.

Als hoffnungsvolles „post-sowjetisches“ Talent wurde der – 1948 unweit von Odessa geborene – Ilja Mitrofanov gefeiert. Leider kam er früh ums Leben, nämlich 1994 bei einem Verkehrsunfall. Hinterlassen hat er drei Kurzromane, die allesamt auch auf Deutsch erschienen sind: „Zigeunerglück“ (1992)[3], „Wassermann über Odessa“ (1993)[4] und „Der Zeuge“ (1996)[5]. Es sind Geschichten über „kleine“ Leute, die Demütigungen erfahren. Das Findelkind, das bei Zigeunern aufwächst. Geborgenheit aber nur so lange erfährt, bis der Ziehvater von den Sowjets abgeholt wird, weil er sich geweigert hat, auf einer Kolchose zu arbeiten. In „Wassermann über Odessa“ beichtet ein Mann einer zufälligen Bekanntschaft in einem Zug einen Mord. Der Roman „Der Zeuge“ handelt von einem Dorffrisör aus Bessarabien, ein zwischen Rumänien und Russland lange umstrittenes Gebiet, das nach zwölf Jahren rumänischer Annexion 1940 an die Sowjetunion gefallen war. Zeugnis legt der Frisör davon ab, wie die neuen Machthaber die Bevölkerung Bessarabiens ausplündern, schikanieren und schließlich auszurotten versuchen. Die Katastrophe entwickelt sich schleichend; am Ende steht der Hungertod.

„Mitrofanow beobachtet und urteilt aus dem Blickwinkel seiner Erzählfiguren. Er spricht die Sprache der Zigeunerin, des Tauchers aus Odessa und des Friseurs, der in Bildern seines Berufes denkt. Er lässt sie in einfachen Sätzen berichten, mit Lebensklugheit und Witz. Wer viel zu erdulden hat, dramatisiert sein Schicksal nicht. Man gewöhnt sich daran, passt die Gedanken, ‚wirr wie ungekämmte Haare‘, den Notwendigkeiten an. […]. Es gibt wenige Schriftsteller – Werfel, Tabori, Edgar Hilsenrath mit seinem Roman ‚Der Nazi & der Friseur‘ – die den Genozid in Worte zu fassen vermochten. Ilja Mitrofanow, eine Hoffnung der postsowjetischen Literatur, gehört zu ihnen“, urteilte Hans-Peter Klausenitzer in seiner Besprechung in der FAZ im August 1996.

Die Absurditäten des Alltags und die Auswüchse der sowjetischen Bürokratie nimmt der Satiriker und Kabarettist Michail Schwanetzkij aufs Korn. Er wurde 1934 in Odessa geboren, arbeitet im dortigen Hafen als Ingenieur und begann Kurzgeschichten und Satiren zu verfassen. Später zog er nach Moskau, wo er ein eigenes kleines Theater geleitet hat. Mit seinen Lesungen soll er in seiner Heimat ganze Fußballstadien gefüllt haben. 1992 hat der Diogenes Verlag einen Band mit Geschichten von ihm herausgebracht: „Wir brauchen Helden!“[6], in dem Schwanetzkij auch ausführt, warum es Humor braucht.

Im Grunde habe ich mein Leben vertan und damit auch den Humor. Und jetzt, wo ich eigentlich alles verloren habe und im abgewetzten Jackett eines heruntergekommenen Philosophen rumlaufe, kann ich’s ja sagen: Es gibt einfach nichts Besseres als das Leben. Humor ist Leben. Humor ist ein Zustand. Humor hat überhaupt nichts mit Witzen zu tun. Humor ist das Aufleuchten in den Augen, die Verliebtheit in den Gesprächspartner und die Bereitschaft, so lange zu lachen, bis einem die Tränen aus den Augen schießen. […] .Humor hilft uns zu überleben. Er bringt uns einander näher. Ein guter Witz ist wie eine Bescherung. Man sollte auch humoristische Autoren nicht unterschätzen. Für einen einzigen Satz von Ilf und Petrow, wie etwa ‚Die Hunde kletterten mit der Wendigkeit von Bootsmännern hinaus‘, würde ich die ganze Seite einer griechischen Tragödie hergeben, wo sich die Helden mit unglaublicher Leidenschaft in die Brust werfen. Ein Meer von Tränen, in dem vier alte Weiber ertrinken, wiegt leichter als eine Lachsalve, die einen Schuss Wahrheit auslöst.“

Man mag es kaum glauben, gebürtige Odessiten, die auf Deutsch schreiben, gibt es auch. Marjana Gaponenko, 1981 in der Hafenstadt als Tochter eines georgischen Balletttänzers und einer Filmemacherin geboren, war bereits als Kind von der deutschen Sprache fasziniert. Sie nahm Unterricht, verfasste ihre ersten Gedichte auf Deutsch, studierte in Odessa Germanistik und kam 19-jährig als Stipendiatin nach Deutschland. „Russisch ist meine Muttersprache. Russische Bücher habe ich immer gelesen und geschätzt. Aber ‚Deutsch‘ war exotisch. In dem Sinne, dass es etwas fast Verbotenes, etwas Undenkbares war. Für meine Generation war es im Grunde ein Abschrecker, was mich auch gereizt hat“, so beschrieb sie ihre Faszination in einem Interview mit Radio Bremen.

Nach Aufenthalten in Krakau und Dublin lebt sie inzwischen abwechselnd in Mainz und Wien. Ihr erster Gedichtband „Wie tränenlose Ritter“ erschien 2000, ihr erster Roman „Annuschka Blume“ 2010. Für ihren 2012 veröffentlichten tragisch-komischen Roman „Wer ist Martha?“ hat sie den österreichischen Literaturpreis Alpha und den Albert-von-Chamisso-Preis bekommen, mit dem Deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache ausgezeichnet werden. Protagonist ist ein betagter, emeritierter Ornithologe aus der Ukraine namens Luka Lewaldski, der den Aufstieg und den Zerfall der Sowjetunion erlebt hat. Als er sich dem Tod nahefühlt, reist der 96-Jährige nach Wien, logiert im mondänen Hotel Imperial und lässt sein Leben Revue passieren. „Marjana Gaponenko hat mit Luka Lewadski eine skurrile und eigenwillige Figur wie aus einer Erzählung von Isaak Babel geschaffen, einen kindlichen Greis, dessen letztes lebenslustiges Aufbegehren gegen den Tod Ausdruck in einer Sprache findet, die das Oszillieren aus Wachen und Traum, aus melancholischer Nostalgie und Hunger nach Leben ausbalanciert“, so Beate Tröger in ihrer Buchbesprechung. – 2016 erschien von Marjana Gaponenko der Roman „Das letzte Rennen“.

Seit seinem Medizinstudium lebt Boris Chersonskij, 1950 in Czernowitz/Bukowina geboren, in Odessa. Der Professor für klinische Psychologie ist er mittlerweile Ukraines bekanntester Lyriker. Während der 1970er und 1980er Jahre zählte er zu den wichtigsten Repräsentanten der Samisdat-Bewegung von Odessa. Seine ab den 1960ern entstandenen Gedichte kursierten im Untergrund oder wurden in Emigrantenzeitschriften publiziert.

Offiziell konnte sein Werk erst lange nach dem Zerfall der Sowjetunion erscheinen. Sein wichtigstes Buch „Semejnij Archiw“ (deutsch: „Familienarchiv“) kam in Odessa 1997 und in einem renommierten Moskauer Verlag 2008 heraus. Der mit 38 langen Gedichten aufwartende Roman verfolgt das Schicksal einer jüdischen Familie aus der Südukraine durch das 20. Jahrhundert. Der Roman wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet und auch ins Deutsche übersetzt.[7] „Wenn ich die Poetik von Boris Cheronskij mit drei Worten charakterisieren müsste, wären es folgende Begriffe: Kompetenz, Sparsamkeit im Ausdruck, Klarheit des Verstandes. Kein einziges Adjektiv, keine einzige Metapher dient bei ihm zur ‚Verschönerung‘ des Textes“, schreibt Arkadij Schtipel in seinem Vorwort zu deutschen Ausgabe, die 2011 beim österreichischen Wieser Verlag erschienen ist.

Boris Chersonskij ist ein überzeugter Befürworter einer unabhängigen demokratischen Ukraine. Gedichte und Notate über die aktuellen Entwicklungen im Land und seiner Heimatstadt veröffentlicht er auf seinem Blog „Livejournal“ und bei Facebook.

Auch in deutschsprachigen Medien bezieht Chersonskij zur Lage in der Ukraine Stellung. So etwa in einem Beitrag für „Ostpol“ im Februar 2015: „Wladimir Putin ist wahrlich furchteinflößend. Die Geschichte lehrt unmissverständlich, wohin es führt, wenn Diktatoren zu großer Machtfülle gelangen. Mehr noch: Sie lehrt, dass man Krieg nicht verhindern kann, indem man einen Aggressor ‚befriedet‘. So lässt sich allenfalls Zeit gewinnen. Dieses Mal soll die Ukraine auf dem Altar eines Molochs geopfert werden. Und leider sind viele bereit, das zuzulassen. Ihnen scheint, dass der Moloch, wenn er erst einmal Krim und Donbass verschlungen habe, einhalten werde … Die Ukraine ist nicht das einzige postsowjetische Land mit einem russischstämmigen und -sprachigen Bevölkerungsanteil. Nach dem Krieg in Georgien fragten wir uns: Wer ist wohl der Nächste? Wie sich zeigte, war es die Ukraine. Die Frage aber ist geblieben: Wer ist der Nächste?“

Wenige Tage vor dieser Veröffentlich hatten Unbekannte vor Cheronskijs Wohnung eine Bombe zur Explosion gebracht. So verstörend das war, es war nicht das erste Mal, dass er wegen seiner politischen Haltung angefeindet wurde. Als das russische PEN-Zentrum ihm 2014 eine Mitgliedschaft angeboten hatte, sollen Moskauer „Patrioten“ empört reagiert und Chersonskij wegen seiner dezidierten Pro-Majdan-Haltung als „jüdischen Faschisten“ beschimpft haben.

„Ich denke, spreche und schreibe Russisch, aber ich bin weder Leibeigener der russischen Sprache noch deren Sklave. Und was soll ich zum jüdischen Faschisten sagen?“, so Cheronskijs lakonische Antwort auf das Nachhaken eines Journalisten vom österreichischen „Standard“.

 

Anmerkungen

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

[1] Irina Ratuschinskaja: Die Frauen von Odessa. Aus dem Russischen von Bernd Rullkötter. Bergisch Gladbach 1999

[2] Irina Ratuschinskaja: Die Kinder von Odessa. Aus dem Russischen von Bernd Rullkötter. Bergisch Gladbach 2004

[3] Ilja Mitrofanow: Zigeunerglück. Aus dem Russischen von Ingeborg Schröder, Berlin 1993

[4] Ilja Mitrofanow: Wassermann über Odsessa. Aus dem Russ. von Ingeborg Schröder. Verlag Volk & Welt, Berlin 1994.

[5] lja Mitrofanow: Der Zeuge. Aus dem Russischen übersetzt von Ingeborg Schröder, Berlin 1996.

[6] Michail Schwanetzkij: Wir brauchen Helden! Unaktuelle Geschichten, Zürich 1992.

[7] Boris Chersonskij: Familienarchiv. Aus dem Russischen von Erich Klein und Susanne Macht, Klagenfurt 2011

 

Klassiker der Weltliteratur. Odessa: Stadt der Literatur (7)

„Es geschah, es geschah in Odessa!“, heißt es überschwänglich in Wladimir Majakowskis frühem Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ (1915). Das ist nicht die einzige Hymne, die Künstler auf die Stadt am Schwarzen Meer gesungen haben. Geprägt vom liberalen Geist und mediterranem Klima hat die Stadt – neben den literarischen Zentren Lviv (früher: Lemberg) und : Ivano-Frankivsk (früher: Stanislaw)viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Ihre Werke haben das Bild von Odessa geprägt.

Ich bin auf Autoren gestoßen, die die Umstände der Zeit gebrochen haben, aber auch auf solche, die widerstanden oder einfach Glück gehabt haben. Auf Dissidenten, Kriegsgefallene und Opfer der stalinistischen Säuberungen. Und so ist eine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen, die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben: Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Dann wurden einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur und Autoren skizziert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Es folgten einige Schriftsteller, die politisch nicht genehm gewesen sind, einst berühmte Namen, die in Vergessenheit geraten sind, und schließlich einige literarische Entdeckungen. Heute stehen Klassiker an, die eng mit Odessa verbunden waren.

 

Zu den wirklich großen Namen zählt gewiss Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809 – 1852), der seine Werke auf Russisch verfasst hat, als junger Mann nach St. Petersburg gezogen war, später nach Moskau. Im Herzen aber ist er Ukrainer geblieben, wo er aufgewachsen und zweisprachig erzogen worden war. In Odessa verfasste er 1850/51 weite Teile seines berühmten Romans „Die toten Seelen“, einen Klassiker der Weltliteratur. Autographen von ihm sind im dortigen Literaturmuseum ausgestellt. Eine Büste befindet sich unweit jener berühmten Oper, die im neo-barocken Stil nach Entwürfen der Wiener Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer ab 1884 erbaut wurde und heute neben der Potemkinschen Treppe zu den Wahrzeichen der Stadt zählt.

Iwan Alexejewitsch Bunin (1870 – 1953) verschlug es erstmals 1895 in die Hafenstadt. Danach hat er Odessa häufig besucht. Er war als Autor von Weltrang zwar anerkannt, eine Breitenwirkung hat sein Werk aber indes bis heute nicht erzielt. 1933 bekam er als erster russischer Autor überhaupt und als erster Schriftsteller, der im Exil lebte, den Literaturnobelpreis. Als Sohn eines verarmten adligen Gutsbesitzers geboren, hatte er früh zu schreiben begonnen und sich alsbald mit Erzählungen einen Namen gemacht. Über ihn hat Maxim Gorki, der ihm zeitweilig nahestand, gesagt: „Nehmen Sie Bunin aus der russischen Literatur heraus und sie wird glanzlos, verliert ihren Regenbogenschein.“

Iwan Bunin © Wikipedia

Die revolutionären Ereignisse erlebte Bunin 1918 noch in Moskau, um sich dann nach Odessa zurückzuziehen. Nachdem die Bolschewisten die Hafenstadt im Frühjahr 1919 erobert hatten, rieten ihm Freunde zur Flucht. Diesen Ratschlag befolgte er. Mit dem letzten Schiff reiste er gemeinsam mit seiner Frau Wera Muromzewa 1920 aus Odessa über Konstantinopel nach Frankreich aus. Er lebte dort abwechselnd in Paris und in einem Dörfchen in der Provence. Bis zu seinem Tod im Jahr 1953.

Die russische Revolution hat Bunin nicht nur als brutale Zerstörung der Tradition, sondern auch der Umgangsformen erfahren – als eine „Orgie des Todes“ im Namen einer „lichten Zukunft“, bei dem das Volk letzten Endes „vom Regen in die Traufe kommt“. Entsetzt hat er die einsetzende Verwahrlosung der Sprache, die großspurigen Lügen und das schwülstige Pathos aufgezeichnet. Und mit großer Bitterkeit beobachtet, wie frühere Freunde, darunter Gorki und Majakowski, versuchten, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen.

Seine Tagebuchaufzeichnungen über die Ereignisse in Moskau 1918 und Odessa 1919 wurden erstmals 1925 unter dem Titel „Okajannye dni“ in einer Pariser Exilzeitschrift veröffentlicht. Auf Deutsch liegen sie in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg seit Jahr 2005 vor, und zwar im Rahmen einer Bunin-Werkausgabe, welcher der Schweizer Verlag Dörlemann besorgt hat. Anlässlich des 100. Jahrestages der Russischen Revolution ist Ende September 2017 beim Verlag eine Sonderausgabe von „Verfluchte Tage. Ein Revolutionstagebuch“ erschienen.

Weltweit bekannt ist der Erzähler und Dramatiker Maxim Gorki (1868 – 1936). Den Stoff für seine ersten Erzählungen hat er in der Hafenstadt gefunden. Als junger, mittelloser Mann war er 1891 von dort zu einer viermonatigen Wanderung nach Tiflis aufgebrochen. Die Route führte am Nordufer des Schwarzen Meeres entlang. Begleitet hatte ihn ein Georgier namens Schakro, dem er im Hafen von Odessa begegnet war und der ihn auf dem endlos langen Fußmarsch dann nach Strich und Faden ausnutzen sollte.

Maxim Gorki © Encyclopedia Britannica

Das Zusammentreffen mit dem Georgier hat Gorki in der 1894 erschienenen Erzählung „Mein Weggefährte“ zum Anlass genommen, um die Arbeitsbedingungen im Hafen zu beschreiben. „Er [Schakro] war absolut unverständlich hier im Hafen, beim Pfeifen der Dampfschiffe und Lokomotiven, beim Rasseln der Ketten, bei den Schreien der Arbeiter, in diesem tollen und nervösen Getriebe des Hafens, das den Menschen von allen Seiten erfasst und seinen Verstand und seine Nerven abstumpft. Alle Menschen im Hafen waren von den riesenhaften Mechanismen geknechtet, die von ihnen die wachsamste Aufmerksamkeit und unermüdliche Arbeit erforderten; alle machten sich an den Dampfern und Eisenbahnwagen zu schaffen und waren mit dem Ausladen und Einladen beschäftigt. Alle waren erregt und ermüdet, alle liefen hin und her, schrien und fluchten im Staube und Schweiß, und mitten in diesem Arbeitsgetriebe spazierte langsam die seltsame Gestalt mit dem zu Tode gelangweilten Gesicht, gleichgültig gegen alles.“

Kolportiert wird, dass sich Gorki als Lastenträger im Hafen verdingt haben soll. Andere wiederum meinen, dass er den Stoff für seine berühmte Erzählung „Tschelkasch“ (1894) schlicht von einem Landstreicher übernommen habe. Wie auch immer. Mit dieser sozialkritischen Erzählung war ihm der literarische Durchbruch endgültig gelungen. Auch hier stellt der Hafen von Odessa den Rahmen dar, in dem Deklassierte und Kriminelle aufeinandertreffen. Grischka Tschelkasch, ein Landstreicher, zwingt einen Bauernburschen, ihn bei einem nächtlichen Diebeszug im Hafen zu unterstützen. Um den erbeuteten Ballen entbrennt ein Streit …

Auch Wladimir Majakowski (1893 – 1930) hat Odessa immer wieder gerne besucht. Er, die Ikone der künstlerischen Avantgarde, gefeierter Rezitator, Idol der Jugend, Frauenschwarm und nach seinem Freitod im Jahr 1930 von Stalin in den Status eines Vorzeige-Sowjetautors gehoben, war dem Charme der Hafenstadt verfallen gewesen.

1930 war einiges zusammengekommen; ein Tiefpunkt in seinem Leben. Gescheiterte Liebesbeziehungen mit Elli Jones, der er 1925 auf einer Lesereise durch die USA begegnet war, mit Tatjana Jakowlewa, um deren Hand er 1928 in Paris erfolglos angehalten hatte, und schließlich mit der 21-jährigen Schauspielerin Veronika Polonskaja, die 1930 die Kraft nicht aufbrachte, ihren Mann für Majakowski zu verlassen. Er war gesundheitlich angeschlagen, fürchtete, seine Stimme zu verlieren, und hatte immense Steuerschulden. Die Kulturbürokratie, die ihn einst als „Trommler der Revolution“ protegiert hatte, widmete ihm kaum noch Aufmerksamkeit. Längst hatte sie sich dem Proletkult verschrieben. Majakowskis Bühnenstück „Das Schwitzbad“, das den bürokratischen Alltag im Sowjetstaat vorführt, von Regisseur Wsewolod Meyerhold 1930 inszeniert, wurde zerrissen und musste nach wenigen Aufführungen vom Spielplan verschwinden.

Zu Lebzeiten hatte er noch gewisse literarische Freiheiten genießen dürfen. Erst nach seinem Tod wurde der Literaturbetrieb gleichgeschaltet. Per Dekret des Zentralkomitees der KPdSU war im April 1932 der Schriftstellerverband gegründet worden. Der Sozialistische Realismus wurde per Statut verbindlich. Aus Sorge um Majakowskis Nachlass wandte sich Lilija Brik, seine langjährige Geliebte, im November 1935 in einem persönlichen Brief an Stalin direkt. Dieser las ihn und notierte dann an den Rand des Schreibens: „Majakowski war, ist und wird der beste und talentierteste größte Dichter der sowjetischen Epoche bleiben“. Danach wurde auf Geheiß des Zentralkomitees sein Oeuvre neu verlegt, Plätze und Straßen nach Majakowski benannt und die Werke, die nun in Millionenauflagen gedruckt wurden, in den Schulen Pflichtlektüre. – Ein schönes Bonmot hierzu stammt von Boris Pasternak: „Man begann ihn als Pflicht einzuführen wie die Kartoffel unter Katharina.“

Übrigens hatte Majakowski 1914 Lilja Brik bei einem seiner Auftritte in Odessa kennengelernt und sich spontan in sie verliebt. Er soll damals aus dem noch unveröffentlichten Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ rezitiert haben, in dem es heißt: „Es geschah, es geschah in Odessa.“ – Und so schließt sich der Kreis.

Literarische Entdeckungen. Odessa: Stadt der Literatur (6)

Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat Odessa – neben den literarischen Zentren Lviv (früher: Lemberg) und Ivano-Frankivsk (früher: Stanislaw)viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Nach meinem Besuch dort habe ich mich auf eine Spurensuche begeben. So ist eine kleine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt gewachsen, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben: Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Dann wurden einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur und Autoren skizziert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Es folgten einige Schriftsteller, die politisch nicht genehm gewesen sind, und einst berühmte Namen, die in Vergessenheit geraten sind.

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Ebenso erfolgreich wie Jewgeni Petrow, dem Co-Autoren des Kultromans „Zwölf Stühle“, war dessen älterer Bruder Valentin Petrowitsch Katajew (1897 – 1986). Mit dem Unterschied freilich, dass seine in der Sowjetunion ab den 1930ern gefeierten Werke im Westen nicht rezipiert wurden. Katajew war ein Schüler des Literaturnobelpreisträgers und Emigranten Ivan Bunin. Und ein Bewunderer Wladimir Majakowskis, dem er 1927 erstmals begegnet war. Beiden hat er in seinem Erinnerungsroman „Kraut des Vergessens“ (1967) Denkmäler gesetzt.[1]

Er begann als Satiriker, gehörte in den 1920er zur literarischen Avantgarde und entwickelte sich dann mit Romanen und Theaterstücken zu einem Vorzeige-Schriftsteller des Sozialistischen Realismus, von dem er sich nach Stalins Tod wieder abwandte. Er gründete die Literaturzeitschrift „Jugend“, um die sich literarische Avantgarde versammelte, und suchte selbst nach neuen experimentellen Ausdrucksmöglichkeiten; wofür er den Begriff Mauvismus benutzte.

Bekannt war er vor allem mit dem 1936 erschienenen Jugendroman „Es blinkt einsam ein Segel“ geworden, einem Klassiker der sowjetischen Kinderliteratur, der – wie viele seiner Werke – in Odessa spielt. Aus der Sicht zweier Schuljungen werden die Ereignisse in der Hafenstadt im Revolutionsjahr 1905 geschildert. Der Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt. Für den 1945 erschienen Roman „Der Sohn des Regiments“, in dem Katajew seine Erfahrungen als Kriegsberichterstatter verarbeitet hat, erhielt er 1946 den Stalin-Preis.

„Die Katakomben von Odessa“, 1949 veröffentlicht, drehen sich um die Geschehnisse in der Stadt während der deutsch-rumänischen Besetzung im Zweiten Weltkrieg. Damals hatten sich Bürger und Partisanen in das Labyrinth unter der Stadt zurückgezogen und einen Abwehrkampf gegen die Besatzer geführt. Eine Reminiszenz an die Heimatstadt ist auch das 1967/68 entstandene Buch „Kubik“, 2005 in der Übersetzung von Swetlana Geier auf Deutsch beim Schweizer Verlag Dörlemann erschienen.

Abgesehen von „Kubik“, im deutschsprachigen Feuilleton 2005 als experimentelles Meisterwerk gefeiert, wurde Katajews umfangreiches Werk im größeren Stil lediglich in der DDR rezipiert. Kaum bekannt ist auch, dass seine Stoffe international vielfach adaptiert wurden. So brachte Alfred Polger 1930/31 Katajews ersten Roman „Die Betrüger“, 1926 erschienen, unter dem Titel „Die Defraudanten“ auf die Berliner Bühnen. Kurz darauf verwendete Fritz Kortner den Stoff für den populären Stummfilm „Der brave Sünder“ mit Max Pallenberg und Heinz Rühmann in den Hauptrollen.

Persona non grata zu Sowjetzeiten war der gebürtige Odessit Vladimir Zeev Jabotinsky (1880 – 1940), der sich nach den Judenpogromen 1903/05 zu einem Zionisten entwickelte und zeitlebens radikal für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina gekämpft hat. Um die Jahrhundertwende hat er in Rom Rechtswissenschaften studiert, nach seiner Rückkehr in Odessa als Publizist gearbeitet und dort 1911 einen Verlag für Literatur in hebräischer Sprache gegründet. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam er nach Westeuropa, ging 1940 nach Amerika, wo er im gleichen Jahr einem Herzinfarkt erlag. – Odessa aber ist in seiner Erinnerung immer der wunderbare Ort geblieben, wo das Glück wohnt.

Jabotinsky war im Hauptberuf Politiker, außerdem ein ziemlich umstrittener Politiker wohlgemerkt. Dennoch hat er ein überraschend umfangreiches Oeuvre hinterlassen. Lieder, Gedichte, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Novellen und Romane, die zu seinen Lebzeiten allerdings lediglich in Frankreich, Israel und Amerika gelesen wurden. In seiner Heimat erschien eine Auswahl seiner Werke erst im Jahr 2000, nach dem Zerfall der Sowjetunion.

In Deutschland wurde bisher nur sein Roman „Die Fünf“ bekannt, eine Reminiszenz an das multikulturelle, liberale Odessa der Jahrhundertwende, als sich in der Hafenstadt noch viele Nationen und Religionen gemischt haben und Handel und Kultur blühten.

„Zehn Volksstämme nebeneinander“, schreibt Jabotinsky, „einer so pittoresk wie der andere, einer kurioser als der andere. Anfangs lachten sie übereinander, dann lernten sie, auch über sich selbst zu lachen und über alles auf der Welt, sogar über das, was wehtat, sogar über das, was sie liebten. Allmählich schliffen sie ihre Bräuche aneinander ab, lernten, ihre eigenen Altäre nicht mehr übermäßig ernst zu nehmen, und ergründeten allmählich ein wichtiges Geheimnis dieser Welt: Das eigene Heiligtum ist für den Nachbarn nichts, und schließlich ist dein Nachbar auch kein Dieb und kein Landstreicher; vielleicht hat er ja auch recht, vielleicht auch nicht – kein Grund, sich zu grämen.“

Der Roman, erstmals 1936 im französischen Exil erschienen, erzählt davon, wie fünf Geschwister die Zeitenwende der Revolution von 1905 erleben. Als die jüdische Familiensaga im Dezember 2012 auf Deutsch vorlag[2], war sich das Feuilleton einig: Ein literarisches Meisterwerk – Was für ein Fund! – Ein Fest, wie es in der Literatur und Buchwelt nur selten vorkommt.

Von „Autoren im Schatten“ spricht der Slawist Reinhard Lauer. Gemeint sind jene literarischen Schätze, die weder veröffentlicht, noch wahrgenommen wurden und erst jetzt Stück um Stück gehoben werden.[3] Zu diesem Kreis mag man auch die Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin Lidia Yakovlevna Ginsburg (1902 – 1990) zählen, deren Aufzeichnungen und Erzählungen erst unter Michail Gorbatschow rezipiert wurden. Ginsburg wurde in Odessa geboren, ging 1922 nach Leningrad, wo sie Philologie studierte. Sie hatte Kontakt zu den Leitfiguren des russischen Formalismus, etwa zu Victor Shklovsky, Yury Tynyanov und Boris Eikhenbaum, und sollte sich zu einer unter Künstlern angesehenen Literaturkritikerin und – wissenschaftlerin entwickeln.

Ginsburg hat die Zeit zwischen September 1941 und Januar 1944 miterlebt, als Adolf Hitler Leningrad dem Erdboden gleichmachen und Josef Stalin die Stadt um jeden Preis halten wollte. Nach Beginn der Blockade, die mehr als einer Million Menschen das Leben kosten sollte, begann sie ein Tagebuch darüber zu führen, wie die Bewohner der Stadt mit Angst, Hunger, Kälte und Ungewissheit umgingen. Sie hielt fest, wie sich das soziale Verhalten unter extremen Bedingungen veränderte. Alles Menschliche, Zwischenmenschliche wurde mit archaischer Gewalt zerstört. Es war nicht allein ein Kampf ums Überleben, es war auch ein Kampf gegen die Verrohung. „Die Schreibenden sterben, und das Geschriebene bleibt“, heißt es am Ende der „Aufzeichnungen“.

Im russischen Original erschienen die Beobachtungen, Reflexionen und Notate unter dem Titel „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ 1984 in der Zeitschrift „Neva“, 1989 dann in Buchformat. Die deutsche Übersetzung, 1997 vom Suhrkamp Verlag besorgt, wurde wenig beachtet.[4] Als Sensation hingegen wurde 2014 die Neuausgabe in der Übersetzung von Christiane Körner gefeiert.[5] Erstmals enthalten ist darin die „Erzählung von Mitleid und Grausamkeit“, in der es um Ginzburgs Mutter geht. Den Text hatte man 2006 im literarischen Nachlass der 1990 verstorbenen Odessitin gefunden. Behandelt wird der Hungertod von Ginsburgs Mutter während der Blockade.

„Bei der Lektüre dieser ganz und gar außergewöhnlichen Aufzeichnungen fühlt man mit Erschrecken die tiefe innere Wahrheit dieser Worte und ahnt, dass man sich unter derart extremen Umständen wahrscheinlich genau so verhalten hätte. Lidia Ginsburg, die das bedrückende Geschehen nicht verdrängt, sondern schonungslos aufgeschrieben und analysiert hat, gebührt Achtung und Bewunderung. Die ‚Erzählung von Mitleid und Grausamkeit‘ ist viel mehr als eine detailgenaue historische Schilderung des Leidens während der Leningrader Blockade. Es ist ein einzigartiges Sprachdokument über das Wesen des Menschen in seiner Erbärmlichkeit wie auch in seiner Größe“, so Rezensentin Karla Hielscher 2014 im Deutschlandfunk.

 

Anmerkungen

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

[1] Im Ostberliner Verlag Volk und Welt 1969 unter dem Titel „Das Gras des Vergessens“ veröffentlicht.

[2] Vladimir Jabotinsky: Die Fünf. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Die Andere Bibliothek, Berlin 2012. Als Taschenbuch im August 2017 beim Aufbau Verlag erschienen.

[3] Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1770 bis zur Gegenwart, München 2009.

[4] Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Aus dem Russischen übersetzt von Gerhard Hacker, Frankfurt am Main 1997

[5] Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Mit einem Nachwort von Karl Schlögel, Berlin 2014.

Vergessene Autoren. Odessa: Stadt der Literatur (5)

Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat Odessa viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Nach meinem Besuch dort begab ich mich auf Spurensuche. Und so ist eine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

 Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben. Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Es wurden einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur und Autoren skizziert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Dann ging es um einige Schriftsteller, die politisch nicht genehm gewesen sind. – Heute um einst berühmte Namen, die in Vergessenheit geraten sind.

 

Die Lyrikerin Anna Achmatowa (1889 – 1966) wurde Mitte der 1960er als potentielle Literaturnobelpreisträgerin gehandelt. Sie ist in einem kleinen Dorf unweit von Odessa geboren. Unter schrecklichen Eindrücken entstand 1937/38 Achmatowas berühmter Gedichtzyklus „Requiem“, der in der Sowjetunion erst unter Michail Gorbatschow 1987 veröffentlicht werden konnte. Ihr erster Mann, der Dichter Nikolaj Gumiljow, wurde unter dem Verdacht der Konterrevolution 1921 erschossen. Ihr Sohn Lew verbrachte zwölf Jahre in Lagerhaft und Verbannung.

die Ausgabe von 1946

Zweifellos gehört die Achmatowa zu den berühmten und gerühmten Kindern der Stadt. An andere gebürtige Odessiten erinnert kaum noch etwas. Nach der Lyrikerin Wera Michajlovna Inber (1890 – 1972) heißt zwar in Odessa eine Straße, ihr Werk freilich ging mit den Zeitläuften unter. Geehrt wurde sie 1946 mit der höchsten Auszeichnung, die die Sowjetunion damals für herausragende Leistungen auf wissenschaftlichem, musikalischem, künstlerischem und literarischem Gebiet zu vergeben hatte, dem Stalinpreis. Übrigens für das Gedicht „Pulkovskij meridian“ (1943) und ihre Schilderungen aus dem belagerten Leningrad („Pocti tri goda“ 1946). 1946/47 wurde ihr Bericht im Rahmen von Umerziehungsmaßnahmen unter dem Titel „Fast drei Jahre. Aus einem Leningrader Tagebuch“ in großen Stückzahlen von der Sowjetischen Militäradministration in Ostberlin vertrieben. In der DDR sind Inbers Werke bis in die späten 1960er Jahre erschienen. Heute ist die Lyrikerin und Kinderbuchautorin, der keine geringere als Christa Wolf 1967 ein literarisches Porträt gewidmet hat[1], vergessen.

Ein Schicksal, das sie mit anderen, in Odessa geborenen Autoren teilt. So mit Eduard Bagritsky (1895 – 1934), einem Wegbereiter der frühen sowjetischen Lyrik („Duma ob Opanase“, 1926 erschienen). Oder dem aus Odessa stammendem jüdischen Schriftsteller und Übersetzer Wilhelm Wolfsohn (1820-1865). Der war 1837 nach Leipzig gegangen, hatte über russische Literatur promoviert und sich relativ erfolgreich für deren Verbreitung in Deutschland stark gemacht. Unter anderem hat er Werke von Gogol, Puschkin, Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi übersetzt. Wolfsohn war eng mit Theodor Fontane befreundet. Hätte er nicht zwischen 1841 und 1861 einen regen Briefwechsel mit Fontane geführt, der 2006 in Tübingen herausgegeben wurde,[2] wäre auch er heute komplett vergessen. Kaum anders das Schicksal der Odessitin Olga Michailowna Freudenberg (1880 – 1955), die sich 1934 als erste Frau in der Geschichte Russlands habilitierte. In Erinnerung ist lediglich ihr Briefwechsel mit Boris Pasternak.[3]

Alexander Grin (1880 – 1932) alias Alexander Stepanowitsch Grinewski wurde in jenem Landstrich geboren, wohin sein Vater, der am polnischen Aufstand im Jahr 1863 teilgenommen hatte, verbannt worden war – in Sibirien. Nach Abschluss der Volksschule zog Grin 1896 nach Odessa, um als Matrose anzuheuern. Abgesehen von drei Fahrten misslang der Plan, zur See zu fahren. Das Meer allerdings sollte lebenslang sein großes Thema bleiben.

Grin schlug sich unter anderem als Vagabund, Torfstecher, Goldwäscher und Hafenarbeiter durch und landete schließlich als Bettler auf der Straße. Dieses Leben hatte ihn kreuz und quer durch Russland geführt. So unstet sollte es vorerst weitergehen. 1901 wurde er Soldat, desertierte, kam ins Gefängnis. Er hatte mit Sozialrevolutionären Kontakt, für die er sich als Agitator einsetzte, und landete abermals im Gefängnis, wo er schließlich Kurzgeschichten zu schreiben begann. Gefördert von Maxim Gorki entwickelte er sich mit seinen nach der Oktoberrevolution verfassten märchenhaften Geschichten („Das Purpursegel“ 1923, „Die funkelnde Welt“ 1923, „Der Rattenfänger“ 1924, Die goldene Kette 1925, „Wogengleiter“ 1928) zu einem populären Autor.

Doch schon Ende der 1920er Jahre waren seine Bücher, die sich an der Erzählkunst von Edgar Allan Poe und Robert Louis Stevenson orientierten, nicht mehr erwünscht. Man warf ihm „West-Epigonentum“ vor. Verlage nahmen keine Manuskripte mehr von ihm an. Auch die ursprünglich auf 15 Bände angelegte Werkausgabe wurde gestoppt. Einsam, krank und in großer finanzieller Not starb Alexander Grin 1932 auf der Halbinsel Krim. Rehabilitiert wurde er nach Stalins Tod.

In Russland erfreuen sich seine Bücher bis heute großer Beliebtheit. Auch in der DDR wurde sein Werk rezipiert. Im Westen hingegen wurde lediglich der 1923 entstandene, märchenhafte Roman „Purpursegel. Eine Feerie“ etwas bekannt. „Diese Erzählung ist voller Poesie und warmer Menschlichkeit, wie bis ins Innere von Sonne bestrahlt und Meeresluft umweht. Sie ist erfüllt von des Autors Lächeln – dem Lächeln, das Grin im Leben so fehlte“, urteilte der Autor Konstantin Paustowski.

Verfilmt wurde der Stoff unter der Regie von Alexander Ptuschko in der UdSSR 1961 unter dem Titel „Das Purpurrote Segel“. Heute zählt der Streifen zu den Märchenklassikern der russischen Filmgeschichte. In einer synchronisierten Fassung der DEFA-Studios kam der Film in der DDR 1962 in die Kinos und wurde ab den 1970ern auch verschiedentlich im Fernsehen gezeigt. Erstmals auf Deutsch hatte der Ostberliner Verlag der Sowjetischen Militäradministration (SWA-Verlag) den Roman 1946 herausgebracht.

Längst verblasst ist der Ruhm von Konstantin Georgieviè Paustowski (1897 – 1968), ein Sohn ukrainischer Kosaken. Marlene Dietrich (1901 – 1992) hat für ihn geschwärmt. Beide sollen sich 1964 in Moskau begegnet sein. Die Filmdiva, so ihre Biographin Eva Gesine Baur, soll bei dem Treffen kein Wort über die Lippen gebracht haben, sondern in tiefer Verehrung vor dem Schriftsteller sogar auf die Knie gegangen sein.[4] Im darauffolgenden Jahr hatte Paustowski hervorragende Aussichten, den Literaturnobelpreis zu erhalten. Auf Druck Moskaus ging er jedoch nicht an ihn, sondern 1965 an Michail Scholochow (1905 – 1984), der wenige Jahre später des Plagiats überführt werden sollte.[5]

Wer Paustowskis Büchern nachstöbern möchte, muss in Antiquariaten suchen. Paustowski, dessen literarische Vorbilder Alexander Grin und die Odessiten Issak Babel, Valentin Katajew und Jurij Olescha gewesen sind, hat in den 1950/60er Jahren mit einem literarischen Großprojekt Furore gemacht: der sechsbändigen Autobiographie „Erzählungen vom Leben“, die zwischen 1946 und 1963 entstanden ist und in der „Tauwetter“-Phase als Sensation gefeiert wurde.[6]Erinnerungen“, so Paustowski, „das sind nicht vergilbte Briefe, nicht Alter, nicht vertrocknete Blüten und Reliquien, sondern die lebendige, pulsierende volle Welt“.

Der vierte Band, „Die Zeit der großen Erwartungen“ (1958 erschienen) spielt in Odessa.[7] Anfang der 1920er Jahre arbeitete Paustowski für die dortige Zeitschrift „Morjak“ und hatte engen Kontakt zu den literarischen Größen der Stadt, mit denen er abenteuerliche Zeiten erlebt hat. Der Roman behandelt eine Phase, die von der Aufbruchsstimmung nach der Revolution, den Hoffnungen auf ein besseres Leben, aber auch von Armut, Hunger und Verzweiflung geprägt war.

Nachdem er weltweit Aufmerksamkeit bekommen hatte, konnte er weite Reisen unternehmen und machte sich auch mit Reisebeschreibungen einen Namen („Das Buch der Wanderungen“, Band 6 der Autobiographie „Erzählungen vom Leben“). Paustowski, der sich unter anderem für Babel, Bunin und Pasternak verwendete, starb 1968 in seiner Geburtsstadt Moskau.

Kenner der klassischen russischen Literatur nennen Alexander Iwanowitsch Kuprin (1870 – 1938) in einem Atemzug mit Puschkin, Tolstoi und Scholochow. In die Literaturgeschichte ist er als einer der letzten großen russischen Realisten eingegangen. Bruchteile seines umfassenden Werks wurden in der DDR gelesen, im Westen ist er bis heute nahezu unbekannt.[8]

Alexander Kuprin © Encyclopedia Britannica

Kuprins Mutter stammte aus einem alten verarmten Tartarengeschlecht. Sein Vater war ein kleiner Beamter, der durch seinen frühen Tod die Familie mittellos hinterließ. Kuprin kam auf eine Kadettenanstalt und war nach seiner Ausbildung lange beim Militär. 1894 quittierte er den Dienst dort und schlug sich mit zahlreichen Jobs durch. Unter anderem als Stahlgießer, Gutsverwalter, Vorsänger in einer Kirche und Mitglied in einer fahrenden Theatergruppe. 1901 fasste er den Entschluss, es mit der Schriftstellerei zu versuchen, und zog nach St. Petersburg, dem damaligen literarischen Zentrum. 1905 machte ihn sein Roman „Das Duell“ über Russland hinaus schlagartig berühmt.

Kuprin verließ nach der Oktoberrevolution Russland und emigrierte – wie damals viele Schriftsteller – nach Paris. „Mein Heimweh“, notierte er dort, „geht nicht vorüber, es stumpft nicht ab, sondern überfällt mich immer häufiger und wird immer tiefer…“ An Krebs erkrankt, kehrte er 1937 in die Heimat zurück. Wie schon bei Gorkis Heimkehr aus dem Exil 1927 wurde seine Rückkehr propagandistisch ausgeschlachtet als Triumph des Kommunismus.

Genaues weiß man zwar nicht, aber man sagt, dass Alexander Kuprin mehr als 200 Erzählungen und Romane geschrieben haben soll. Auch Odessa spielt darin immer wieder eine Rolle. In Russland in aller Munde war sein mehrbändiger Romanzyklus „Jama“ (dt. „Die Gruft“). Hier beschreibt er das Leben im Bordell einer südukrainischen Hafenstadt. Noch Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 1909 sollen Studenten gegen die sozialen Missstände protestiert haben, die Kuprin in „Jama“ angeprangert hat: Nicht die Damen, sondern die Umstände, die sie dazu getrieben haben, ihre Körper zu verkaufen, und die „ehrbaren“ Besucher, die die Lage der Frauen ausnutzen.

 Auf Deutsch verlegt wurde der Romanzyklus 1923 beim Interterritorialen Verlag „Renaissance“ unter dem Titel „Jama – eine Sittengeschichte“. In der Chronik des Wiener Verlages ist von 70.000 verkauften Exemplaren die Rede. In Anlehnung an Kuprins Buch erschien in der DDR der Titel „Das sündige Viertel. Sittenbilder aus dem alten Russland“ 1986 bei Rütten & Loening.

So gut wie keine Spuren sind von Jefim Dawydowitsch Sosuljas Leben (1891 – 1941) geblieben. Er soll zwischen 1911 und 1918 in Odessa gelebt haben und dort als Journalist tätig gewesen sein. Dem Slavisten Fritz Mierau (geb. 1934), der sich als Übersetzer und Herausgeber vieler Werke aus Russland hervortat und dies noch tut, ist es zu danken, dass zu DDR-Zeiten 1981 ein Band mit Erzählungen und Porträts von Sosulja erschienen ist: „Der Mann, der allen Briefe schrieb“. In der Übersetzung von Rosemarie Tietze hat Mierau zudem den Kollektivroman „Die großen Brände“ herausgegeben, der in drei Ländern 1982 zeitgleich veröffentlicht wurde. In der BRD, der DDR und in Österreich.[9]

Das literarische Experiment, im Kollektiv einen Roman zu verfassen, haben Jefim Sosulja und Michail Kolzow (1898 – 1940) um 1925 gemeinsam angeschoben. Auf ihre Initiative hin kamen 25 Autoren zusammen, darunter auch einige Altmeister der damaligen Literaturszene.[10] Erstveröffentlicht wurde die satirische Kolportage über ominöse Brände in einer südlichen Hafenstadt 1927 in der Moskauer Zeitschrift „Ogonjok“.

Im deutschsprachigen Raum bekannt geworden ist Sosuljas Erzählung „Die Geschichte von Ak und der Menschheit“, die  kurz nach der Oktoberrevolution 1919 entstanden ist und von Kai Grehn für den SFB/ORF 2002 als Hörspiel adaptiert wurde.[11] Ein gewisser Ak versteht darin sich als Weltverbesserer. Kaum an die Macht gekommen, gründet er das „Gremium der höchsten Entschlussfreude“, dessen Aufgabe es ist, schon jene Menschen aussortieren, die der neuen Ordnung skeptisch gegenüberstehen. Die Aussortierten haben dann die Möglichkeit, das Leben innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu verlassen. Sollte ihnen das aus eigner Kraft nicht gelingen, stehen Verwandte und Freunde, aber auch bewaffnete Sonderkommandos bereit, nachzuhelfen.

Das Gremium arbeitet sehr emsig; die Sterbeakten häufen sich. Dann aber befallen AK Zweifel: „Was sollen wir tun? Wo ist der Ausweg? Studiert man die lebenden Menschen, so kommt man zu dem Schluss, dass sie zu drei Vierteln ausgerottet werden müssen, aber wenn man die Hingemetzelten studiert, dann weiß man nicht, ob man sie nicht eher lieben und bemitleiden müsste? Eben hier gerät die Menschenfrage in die Sackgasse, in die unheilvolle Sackgasse der menschlichen Geschichte.[12]

 

Anmerkungen

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

[1] Der Sinn einer neuen Sache. Vera Inber, in: Christa Wolf: Moskauer Tagebücher: Wer wir sind und wer wir waren, Berlin 2014.

[2] Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn – eine interkulturelle Begegnung, hrsg. von Hanna D. von Wolzogen und Itta Shedletzky, Tübingen 2006.

[3] Boris Paternak/Olga Freudenberg: Briefwechsel 1910 – 1954. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze, Frankfurt a.M. 1986.

[4] Eva Gesine Baur: Einsame Klasse. Das Leben der Marlene Dietrich, München 2017

[5] Wolfgang Kasack: Die russischen Nobelpreisträger, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 107.

[6] Paustowskis Biographie umfasst die Bände: „Ferne Jahre“ (1946), „Unruhige Jugend“ (1954), „Beginn eines unbekannten Zeitalters“ (1956), „Die Zeit der großen Erwartungen“ (1958), „Sprung nach dem Süden (1959/60), „Buch der Wanderungen“ (1963).

[7] Konstantin Paustowski: Der Beginn eines verschwundenen Zeitalters. Aus dem Russischen von Gudrun Düwel und Georg Schwarz. / Die Zeit der großen Erwartungen. Aus dem Russischen von Georg Schwarz. Die Andere Bibliothek, Frankfurt am Main 2002.

[8] „Meistererzählungen“ von Alexander Kuprin, übersetzt von Eveline Passet und mit einem Nachwort versehen von Ilma Rakusa, sind 1989 beim Züricher  Manesse Verlag erschienen. Enthaltene Erzählungen: Der Moloch, Das Nachtlager, Die Jüdin, Die Kränkung, Die mechanische Rechtspflege, Das Granatarmband, Der schwarze Blitz, Der Stern Salomos

[9] Die großen Brände. Ein Roman von 25 Autoren, Hrsg. Fritz Mierau, Berlin/Frankfurt/Wien 1982.

[10] Beteiligt waren Alexander Arossew, Isaak Babel, Feoktist Beresowski, Sergej Budanzew, Konstantin Fedin, Alexander Grin, Wera Inber, Alexander Jakowlew, Weniamin Kawerin, Michail Kolzow, Boris Lawrenjow, Leonid Leonow, Juri Libedinski, Wladimir Lidin, Nikolaj Ljaschko, Georgi Nikiforow, Lew Nikulin, Alexej Nowikow-Priboj, N.Ognjow, Michail Slonimski, A.Soritsch, Michail Soschtschenko, Jefim Sosulja, Alexej Swirski und Alexej Tolstoj.

[11] Kulturradio vom RBB hat das Hörspiel am Freitag, den 6. Oktober 2017 ab 22 Uhr im Programm.

[12] Die Erzählung kann man hier nachlesen: Fritz Mierau (Hrsg.): Kauderwelsch des Lebens. Prosa der russischen Moderne, Hamburg 2003.

Auf dem Index. Odessa: Stadt der Literatur (4)

„Es geschah, es geschah in Odessa!“, heißt es überschwänglich in Wladimir Majakowskis frühem Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ (1915). Das ist nicht die einzige Hymne, die Künstler auf die Stadt am Schwarzen Meer gesungen haben. Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat die Stadt viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. – Ich bin auf Autoren gestoßen, die die Umstände der Zeit gebrochen haben, aber auch auf solche, die widerstanden oder einfach Glück hatten. Auf Dissidenten, Kriegsgefallene und Opfer der stalinistischen Säuberungen.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Und mit meiner Spurensuche ist eine kleine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben. Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Dann wurden einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur und Autoren skizziert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind.  – Heute geht es um einige Schriftsteller, die politisch nicht genehm gewesen sind.

 

Ein Klassiker der frühen Sowjetliteratur ist Jurij Karlowitsch Olescha (1899 – 1960). Geboren in Südrussland, wuchs er ab seinem vierten Lebensjahr in Odessa auf. Er schrieb sich an der Universität für Rechtswissenschaft ein, brach das Studium wegen seiner literarischen Ambitionen ab und zog nach Kiew, wo er als Journalist gearbeitet hat.

Sein Kinderroman „Die drei Dickwänste“ (1924) brachte ihm erste Anerkennung. Über Nacht berühmt hat ihn aber der satirische Roman „Neid“ (1927) gemacht. Hierin spürt er der Frage nach, inwieweit die neue kollektive Ordnung der Individualität Raum ließ. Seine Persiflage über einen russischen Intellektuellen aus der „alten Welt“ und einen (Arbeits-) Helden der „neuen Epoche“ brachte ihm Lob und Kritik zugleich ein. Das Theaterstück „Liste der Wohltaten“, in dem eine Schauspielerin den Entschluss fasst, im Westen zu leben, wurde von Wsewolod Meyerhold (1874 – 1940) uraufgeführt und schon im Jahr darauf, 1931, von der Zensur wieder einkassiert.

Trotz zunehmender Repressionen gegen befreundete Intellektuelle und Künstler blieb Jurij Olescha sich und seinem großen Thema treu: wie man seine individuelle Freiheit und seine Würde unter den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen wahren kann? So auch im Drehbuch für den Film „Der strenge Jüngling“, den Regisseur Abram Room (1984 – 1976) im Jahr 1938 verfilmt hat. Die Dreharbeiten waren noch nicht beendet, da war der Film schon verboten. Die Produktion, die heute als ein Meilenstein aus den 1930er Jahren gilt, wurde in der Sowjetunion erst 1974 gezeigt. In Deutschland war der Film erstmals auf der Berlinale 1990 zu sehen.

Mit dem Filmverbot kam Oleschas gesamtes Oeuvre auf den Index. Gerüchte, dass ein Schauprozess gegen ihn organisiert werden sollte, kursierten. Jurij Olescha verfiel dem Alkohol und brachte außer Tagebuchnotizen bis zu seinem Tod nichts mehr zu Papier. Obwohl er in der „Tauwetter“-Periode offiziell rehabilitiert wurde, gehört er zum Kreis der heute vergessenen Autoren.[1]

Wie Olescha ist Kornnej Iwanowitsch Tschukowskij (1882 – 1969) als Kind in die Hafenstadt am Schwarzen Meer gekommen. Ab 1901 arbeitete er als Literaturkritiker bei den „Odessaer Nachrichten“, gründete nach der Revolution von 1905 eine satirische Zeitschrift, legte sich mit dem Zarenregime an, wurde angeklagt, aber frei gesprochen. Danach begann er als Kritiker und Übersetzer (Byron, Shakespeare, Whitman) zu arbeiten und Kinderbücher und –gedichte zu verfassen. Sein erstes Märchen „Das Krokodil“ erschien 1916. Auf Vermittlung seines Freundes Maxim Gorki arbeitete er ab 1919 für einen Kinderbuchverlag.

Von sich reden machte die gereimte Kinderfabel „Tarakanischtsche“ (deutsch: „Die Riesenkakerlake“), 1922 veröffentlicht. Manche sahen darin eine Persiflage auf Stalin. Zum Inhalt: Elefanten, Bären, Löwen und allerlei andere Tiere zittern und kriechen vor einer Kakerlake, die sich großmäulig zum Tyrannen erklärt hat. Als ein zugereistes Känguru sich über die Angst der Tiere vor der mickrigen Schabe lustig macht, geraten sie erst recht in Panik und wollen das Känguru ausweisen. Dann aber kommt ein Spatz daher und macht der Kakerlake den Garaus …

Wenig verwunderlich, Tschukowskijs Bücher landeten auf dem Index. Nach Stalins Tod wurde er rehabilitiert und 1957 mit dem Lenin-Ordnen ausgezeichnet. Seine Kinderbuch-Klassiker verkaufen sich in Russland bis heute millionenfach. In Odessa erinnert regelmäßig das „Internationale Kornnej Tschukowsky Festival der Kinderliteratur“ an ihn. In Deutschland ist wohl nur das 1929 erstmals erschiene Kinderbuch „Doktor Aibolit und seine Tiere“ bekannt geworden. In der DDR in mehreren Auflagen erschienen, brachte es zuletzt der Leipziger Verlag LeiV in einer gekürzten Fassung, von Benno Lichtenberger übersetzt, heraus.[2]

Tschukowskij unterhielt enge Freundschaften zu den großen Künstlern seiner Zeit. Neben Maxim Gorki zu dem Maler Ilja Repin und zu Autoren wie Anna Achmatowa, Iwan Bunin, Wladimir Majakowskij, Boris Pasternak und dem Ehepaar Raissa Orlowa und Lew Kopelew. In ihren Erinnerungen an ihn schreiben die Beiden, dass Tschukowskij unter Stalin einer der wenigen gewesen ist, der zwischen den Machthabern und der freidenkerischen Intelligenzija vermitteln konnte und wollte.“ Er soll vielen geholfen haben, die damals verfolgt wurden. Etwa Alexander Solschenizyn, Michail Soschtschenko, Joseph Brodskij, Andrej Sinjawskij und Daniil Charms.

Nicht unerwähnt bleiben sollte seine Adoptivtochter Lydia Tschukowskaja (1907 – 1996). Eine unbeugsame Dissidentin, die immer lautstärker dagegen auftrat, dass die Opfer des stalinistischen Terrors totgeschwiegen wurden. In Artikeln und offenen Briefen setzte sie sich für verfolgte, eingekerkerte und verbannte Schriftsteller ein, die sie in ihrem Elternhaus teils persönlich kennengelernt hatte, wie Joseph Brodsky, Boris Pasternak, Andrej Sinjawski, Juli Daniel oder Andrej Sacharow.

Nachdem sie sich öffentlich für den aus dem Land verwiesenen Alexander Solschenizyn verwendet hatte, wurde sie mit einem Publikationsverbot belegt und 1974 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Auf diese Weise landeten die Werke ihres 1969 verstorbenen Adoptivvaters abermals auf dem Index. Kornnej Tschukowskijs Texte wurden in Schulbüchern getilgt, seine literaturkritischen Arbeiten in der „Prawda“ als schmierige Machwerke bezichtigt und der Nachdruck seiner beliebten Kinderbücher eingestellt.

Tschukowskajas Mann, der Physiker Matwei Bronstein, und viele ihrer guten Freunde waren den stalinistischen „Säuberungen“ zum Opfer gefallen. Ihre Erfahrungen hat sie in zwei Büchern verarbeitet, die trotz Verbot im Untergrund kursierten. 1939 war die Erzählung „Sofja Petrowna“ erstanden, die 1967 unter dem Titel „Ein leeres Haus“ gleichzeitig in russischer, französischer, englischer und deutscher Sprache in Paris, New York, London und Zürich herausgebracht wurde.

„Ich zweifle nicht daran“, schreibt Lydia Tschukowskaja darin, „dass die Literatur sich noch mehr als einmal der Schilderung der dreißiger Jahre zuwenden wird … Aber bei allen denkbaren Vorzügen werden spätere Erzählungen und Novellen doch schon in einer anderen Zeit geschrieben sein… Mein Bericht möge wie eine Stimme aus der Vergangenheit klingen, wie die Aussage eines Augenzeugen, der gewissenhaft versucht, trotz der ungeheuren Verstümmelung der Wahrheit klarzusehen und das aufzuzeichnen, was sich in seiner Gegenwart abgespielt hat.“

Aus den 1950er Jahren stammt ihr autobiographischer Kurzroman „Untertauchen“, 1972 in New York publiziert. In deutscher Sprache lag er in der Übersetzung von Swetlana Geier erstmals 1975 vor. 2015 hat Dörlemann eine Neuausgabe herausgebracht, die vom Feuilleton begeistert aufgenommen wurde: „Eine ganz besondere Perle vergessener russischer Literatur“, ein „Vermächtnis aus finsterer Zeit an die Nachgeborenen“.

Lydia Tschukowskaja wurde zwei Jahre vor ihrem Tod doch noch in ihrer Heimat geehrt. 1994 hat sie den Staatspreis der Russischen Föderation erhalten. Ein besonderes Zeichen der Rehabilitation erfuhr auch ihr Adoptivvater Kornnej Tschukowskij posthum. 1982 hat die Sowjetunion ihn mit einer Sonder-Briefmarke geehrt.

 

Anmerkungen

[1] Antiquarisch erhältlich: Jurij Olescha: Neid. Ausgewählte Erzählungen – Aufzeichnungen, aus dem Russischen übertragen von Gisela Drohla, Wiesbaden 1960

[2] Doktor Aibolit und seine Tiere oder Doktor Auwehzwick von Kornej Tschukowski, Leipzig 2010.

 

Stationiert und verbannt. Odessa: Stadt der Literatur (3)

„Es geschah, es geschah in Odessa!“, heißt es überschwänglich in Wladimir Majakowskis frühem Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ (1915). Das ist nicht die einzige Hymne, die Künstler auf die Stadt am Schwarzen Meer gesungen haben. Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat die Stadt viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Ihre Werke haben das Bild von Odessa geprägt.

Ich bin auf Autoren gestoßen, die die Umstände der Zeit gebrochen haben, aber auch auf solche, die widerstanden oder einfach Glück gehabt haben. Auf Dissidenten, Kriegsgefallene und Opfer der stalinistischen Säuberungen.

Und so ist eine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Skizziert werden Schriftsteller, die politisch nicht erwünscht waren. Es werden Namen genannt, die die Zeitläufte getilgt haben, und Werke erwähnt, die wiederzuentdecken wären. Und nicht zuletzt kommen Autoren in der Reihe vor, die bis heute gerühmt werden. – Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben. Isaak Babel in seinen „Geschichten aus Odessa“ den Gauner Benja Krik und das Autorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Kultroman „Zwölf Stühle“ den Hochstapler Ostap Bender. Danach ging es um einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur.  – Heute werden Autoren porträtiert, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind.

 

Heinrich Böll (1917 – 1984) nahm im Zweiten Weltkrieg im November/Dezember 1943 an Gefechten auf der Halbinsel Krim teil. Vor seinem Abflug in das Kampfgebiet auf die Krim, die die Sowjets im Frühjahr 1944 zurückerobern sollten, war er in Odessa stationiert. Zeugnis davon legt die 1950 erschienene Erzählung „Damals in Odessa“ ab.

Damals in Odessa war es sehr kalt. Wir fuhren jeden Morgen mit großen rappelnden Lastwagen über das Kopfsteinpflaster zum Flugplatz, warteten frierend auf die großen grauen Vögel, die über das Startfeld rollten, aber an den beiden ersten Tagen, wenn wir gerade beim Einsteigen waren, kam der Befehl. Dass kein Flugwetter sei, die Nebel über dem Schwarzen Meer zu dicht oder die Wolken zu tief, und wir stiegen wieder in die großen rappelnden Lastwagen und fuhren über das Kopfsteinpflaster in die Kaserne zurück.

Im Unterschied zu Böll sollte den meisten anderen, die unfreiwillig nach Odessa gekommen waren, der Aufenthalt aber in guter Erinnerung bleiben.

1852 nach Odessa verbannt wurde der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz (1798 – 1855). Neun Monate hat er im Lyzeum der dortigen Universität gelebt, „wie ein Pascha“, bekannte er später. Hier sind die „Sonette aus Odessa“ (1826) entstanden, in denen er seine große Liebe Maryla Wereszczaka besingt, die er nach der Verbannung nicht mehr wiedersehen sollte. Von Odessa aus bereiste er die Halbinsel Krim, wovon der Gedichtzyklus „Krim-Sonette“ (1826) zeugt, mit dem Mickiewicz der literarische Durchbruch gelingen sollte. An seinen Aufenthalt erinnert in Odessa das MickiewiczDenkmal in der Altstadt.

An den russischen Nationaldichter Alexander Puschkin (1799 – 1837), wegen anti-zaristischer Spottgedichte 1823 von St. Petersburg nach Odessa verbannt, gedenkt die Stadt an vielen Stellen. Puschkin allenthalben. In der Puschkin-Straße vor dem Puschkin-Museum, dem ehemaligen Hotel „du Nord“, in dem der Dichter 13 Monate gelebt hat, steht eine Puschkin-Skulptur. Ein Puschkin-Denkmal befindet sich auf dem Primorski-Boulevard, einer Flaniermeile, die abends bunt beleuchtet ist.

Gegenüber dem Hotel, das ich im Juli 2017 bewohnt habe, illustrieren großformatige Wandzeichnungen in einem der prächtigen Innenhöfe der Hafenstadt Episoden aus der Stadtgeschichte. Darunter viele Persönlichkeiten. Selbstverständlich auch Puschkin – und in angemessener Entfernung, ganz so als wäre dem Künstler die Affäre peinlich, auch seine Geliebte, die mit dem damaligen Gouverneur der Stadt verheiratete Gräfin Woronzow. Übersetzerin Valentina setzte mich ins Bild. Die ganze Stadt habe sich damals über die leidenschaftliche Liebesaffäre den Mund zerrissen. Schließlich kam es wie es kommen musste. Graf Woronzow trug dafür Sorge, dass Puschkin Odessa verlassen musste. Aber den Ring, den er von seiner Geliebten geschenkt bekam, soll er bis zu seinem Tod getragen haben.

Das Wandgemälde im Innenhof © GvP

Seine Zeit im Exil in Odessa war literarisch besonders fruchtbar. Puschkin schuf hier das Poem „Die Zigeuner“, beendete seine Arbeit am „Springbrunnen von Bachtschyssarajer“ und schrieb mehr als dreißig Gedichte. Auch sein berühmtes Epos „Eugen Onegin“ entstand zu Teilen hier. Darin heißt es: „Ich lebte damals im Getümmel Odessas, dieser staub’gen Stadt, die viel Verkehr, viel heitern Himmel und einen lauten Hafen hat. Dort wehen schon Europas Lüfte, dort streut der Süden Glanz und Düfte, pulsiert das Leben leicht beschwingt. Italiens holde Sprache klingt auf allen Straßen; hier Slowenen, dort Spanier; Frankreich, Griechenland hat reiche Kaufherrn hergesandt, Armenier feilschen mit Rumänen; selbst aus Ägypten stellt sich dar Held Mor-Ali, der Ex-Korsar.“

Vom Sprachengewirr aus Russisch, Griechisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Jiddisch, das Autoren des 19. Jahrhunderts häufig beschrieben haben, ist leider nicht viel geblieben. Denn genau diese Vielfalt war totalitären Machthabern geradezu verhasst. Die Bolschewiken vertrieben die Franzosen und Italiener. Stalin die Griechen und die Schwarzmeerdeutschen. Und die Nationalsozialisten, die Odessa im 2. Weltkrieg besetzt hatten, die Juden. Allein in Odessa wurden 100.000 Juden ermordet.

„Großväter“ der modernen jiddischen Literatur. Odessa: Stadt der Literatur (2)

„Es geschah, es geschah in Odessa!“, heißt es überschwänglich in Wladimir Majakowskis frühem Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ (1915). Das ist nicht die einzige Hymne, die Künstler auf die Stadt am Schwarzen Meer gesungen haben. Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat die Stadt – neben den literarischen Zentren Lviv (früher: Lemberg) und Ivano-Frankivsk (früher: Stanislaw)viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Ihre Werke haben das Bild von Odessa geprägt.

Ich bin auf Autoren gestoßen, die die Umstände der Zeit gebrochen haben, aber auch auf solche, die widerstanden oder einfach Glück gehabt haben. Auf Dissidenten, Kriegsgefallene und Opfer der stalinistischen Säuberungen.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Und so ist eine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen, die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Skizziert werden Autoren, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Schriftsteller, die politisch nicht erwünscht waren. Es werden Namen genannt, die die Zeitläufte getilgt haben, und Werke erwähnt, die wiederzuentdecken wären. Und nicht zuletzt kommen Autoren in der Reihe vor, die bis heute gerühmt werden. – Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben: Isaak Babel (Benja Krik in seinen „Geschichten aus Odessa“),  Ilja Ilf  und Jewgeni Petrow ( Ostap Bender im Kultroman „Zwölf Stühle).  – Heute geht es um  einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur.

 

Scholem Jankew Abramowitsch (1835 – 1917), in Minsk geboren, studierte an verschiedenen Talmudhochschulen und unternahm als Student ausgedehnte Reisen durch die Ukraine. Da die gebildeten Juden Jiddisch für eine ungehobelte Sprache hielten, die kaum geeignet sei, anspruchsvollere Gedanken auszudrücken, verfasste er seine Schriften anfangs auf Hebräisch. Um 1863 reifte sein Entschluss, in der Sprache zu schreiben, die Juden im Zarenreich mehrheitlich benutzten, Jiddisch. 1881 ließ er sich in Odessa nieder, wo er einige Jahre später zum Begründer der modernen jiddischen Erzählkunst wurde.

Bekannt aber ist er zu Lebzeiten unter dem Pseudonym einer von ihm geschaffenen literarischen Figur geworden: Mendele Moicher Sforim – Mendele, der Buchhändler. Obschon er zu Lebzeiten sehr populär gewesen war, erinnert heute kaum noch etwas an den „Großvater der jiddischen Literatur“, so nannte Scholem Alejchem ihn. Auf Deutsch liegen derzeit keine Werke von ihm vor; auch im Antiquariat wurde ich ebenfalls nicht fündig.

Mendele Sforim © Wikipedia

Martin Walser, der den jüdischen Schriftsteller zwischen Jonathan Swift und Franz Kafka einordnet, widmete ihm 2014 einen Essay mit dem Titel„Shmekendike blumen“. Im Untertitel heißt es auf Jiddisch und Deutsch: Ein Denkmal / A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh.[1] Walsers Essay fußt übrigens auf einer literaturwissenschaftlichen Studie von Susanne Klingenstein. In „Mendele, der Buchhändler“, 2014 auf Deutsch erschienen, rekonstruiert die Amerikanerin das abenteuerliche Leben von Scholem Jankew Abramowitsch und beschreibt die Geschichte der modernen jiddischen Literatur. [2]

Ein anderer Klassiker der jiddischen Literatur ist der bereits erwähnte Scholem Alejchem alias Scholem Rabinówitsch (1859 – 1916). In Kiew geboren, hat es ihn zwischen 1890 und 1905 immer wieder nach Odessa getrieben. Die dortigen Pogrome im Jahr 1905 veranlassten ihn, nach New York zu emigrieren, wo er im Mai 1916 verstarb. Bei seiner Beerdigung sollen mehr als 100.000 Trauergäste dabei gewesen sein.

Obwohl er der beliebteste jiddische Autor seiner Zeit gewesen ist –  seine Werkausgabe umfasst immerhin 28 Bände – kennt man von ihm heute allenfalls noch den 1916 erschienenen Roman „Tewje, der Milchmann“. Und dies auch nur, weil das Musical „Anatevka“ auf dem Werk beruht. Das Musical wurde im September 1964 in New York uraufgeführt. 1971 unter dem Titel „Fiddler on the Roof“ verfilmt und im Jahr darauf mit drei Oscars ausgezeichnet. In der Bundesrepublik feierte Ivan Rebroff in der Rolle des Tewje sensationelle Erfolge. In der DDR wurde es an der „Komischen Oper“ ab 1971 gespielt. Allerdings war das nur nach Querelen mit der Zensur möglich. Ein jüdisches Thema, ein kritischer Blick auf Russland, das passte der Partei damals nicht ins Bild.

Anlässlich Scholem Alejchems 100. Todesstag hat der Manesse Verlag „Tewje, der Milchmann“ in einer neuen Übersetzung von Armin Eidherr herausgebracht.[3] Wie sagt Tewje zum Schluss? „Morgen könnte es uns nach Jehupez verschlagen, und nächstes Jahr könnten wir nach Odessa, nach Warschau oder gar nach Amerika geschleudert werden – es sei denn, der Höchste würde sich einmal umsehen und sagen: ‚Wisst ihr was, Kinderchen? Jetzt werde ich euch endlich einmal den Messias hinunterschicken!‘“

Chaim Nachman Bialik (1873- 1934), in einem kleinen ukrainischen Dorf geboren, zählt bis heute zu den einflussreichsten jüdischen Autoren der Moderne. Zwischen 1900 und 1921 hat der israelische Nationaldichter in Odessa gelebt. Hier sind sein erster Sammelband (1902) und seine erste Gesamtausgabe (1908) erschienen. 1922 hat er Sowjetrussland verlassen, siedelte zunächst nach Berlin über, wo er einen hebräischen Verlag gegründet hat. 1924 ging er nach Tel Aviv. Sein Werk wurde in viele Sprachen, in den 1920ern auch auf Deutsch, übersetzt.

Andere jüdische Autoren, die in Odessa gewirkt haben, sind der Lyriker und Romancier Jakov Petrovič Polonskij (1819 – 1898) und der Lyriker und Übersetzer Saul Tschernichowski (1875-1943), der seinen literarischen Weg wie Chaim Bialek in der Hafenstadt begonnen hat.

Oleksandr Abramovitsch Bejderman, 1949 in Odessa geboren, zählt zwar zu den Gegenwartsautoren, auf die ich später noch gesondert eingehen möchte. Als Ausnahmeerscheinung soll er in diesem Kontext dennoch erwähnt werden. Er ist ein Relikt aus der jiddisch geprägten Zeit. Er schrieb konsequent auf Jiddisch und wurde zu Sowjetzeiten nicht gedruckt.[4] Erst in den letzten Jahren wandte sich Bejderman, der Lyrik und Prosa verfasst, der ukrainischen Sprache zu. Man kann das sicher auch als ein politisches Zeichen verstehen, dass er neuerdings ukrainisch schreibt.

 

Anmerkungen

[1] Martin Walser: Shmekendike blumen, Reinbek 2014.

[2] Susanne Klingenstein: Mendele der Buchhändler. Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh Eine Geschichte der jiddischen Literatur zwischen Berdichev und Odessa, 1835-1917, Wiesbaden 2014.

[3] Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr, München 2016.

[4] Alexandr Bejderman: Jiddische Gedichte . Zweisprachige Ausgabe Jiddisch und Deutsch. Übersetzt vom Jiddischen ins Deutsche von Torsten Steinhoff. Hrsg. vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-Jüdische Studien, Potsdam 2000

Benja Krik und Ostap Bender. Odessa: die Stadt der Literatur (1)

Bis zu meinem Besuch in Odessa im Juli 2017 wusste ich über die Literatur, die in dieser Region entstanden ist, so gut wie nichts. Umso erstaunter war ich, wie reich die Hafenstadt am Schwarzen Meer auch in dieser Hinsicht ist. Allenthalben trifft man auf Spuren, die Schriftsteller hinterlassen haben. Namen, die literarisch Gebildete womöglich schon einmal gehört haben, aber sicher nicht dem Gebiet der heutigen Ukraine zuordnen dürften. – Aus Gründen, die ich hier etwas näher ausführe.

Installation „Zwölf Stühle“ © Sabine Münch

Zeugnis vom reichen literarischen Erbe Odessas legt nicht zuletzt das 1984 dort eröffnete Literaturmuseum ab. Mehr als 300 Autoren, werden präsentiert: Persönliche Gegenstände, Manuskripte, Briefe, Originalausgaben sowie Schreibutensilien- und sogar Salonmöbel. Im sogenannten Goldenen Saal, der mit kristallenen Lüstern und prunkvollen Wandornamenten geschmückt ist, traf sich um 1900 die literarisch-künstlerische Gesellschaft der Hafenstadt. Im Garten des Museums befinden sich Skulpturen, die Figuren aus den Werken verschiedener Schriftsteller darstellen. Das Literaturmuseum residiert in einem prachtvollen Bau im historischen Stadtzentrum, der Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. Besuchen kann man es in der Lanscheronowskaja ul. 2 immer Donnerstag bis Sonntag zwischen 10.00 Uhr und 18.00 Uhr.

 

„Es geschah, es geschah in Odessa!“, heißt es überschwänglich in Wladimir Majakoskis frühem Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ (1915). Das ist nicht die einzige Hymne, die Künstler auf die Stadt am Schwarzen Meer gesungen haben. Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat die Hafenstadt – neben den literarischen Zentren Lviv (früher: Lemberg) und Ivano-Frankivsk (früher: Stanislaw)viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Ihre Werke haben das Bild von Odessa geprägt.

Ich bin auf Autoren gestoßen, die die Umstände der Zeit gebrochen haben, aber auch auf solche, die widerstanden oder einfach Glück gehabt haben. Auf Dissidenten, Kriegsgefallene und Opfer der stalinistischen Säuberungen.

Und so ist eine kleine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen, die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Skizziert werden „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur. Autoren, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Schriftsteller, die politisch nicht erwünscht waren. Es werden Namen genannt, die die Zeitläufte getilgt haben, und Werke erwähnt, die wiederzuentdecken wären. Und nicht zuletzt kommen Autoren in der Reihe vor, die bis heute gerühmt werden. – Den Anfang machen drei in Odessa geborene Schriftsteller, die literarische Kultfiguren geschaffen haben.

 

Unvergessen: Benja Krik und Ostap Bender

So man überhaupt einen Schriftsteller mit Odessa in Verbindung bringt, dann dürfte das Isaak Babel (1894 – 1940) sein. Er wuchs im jüdischen Moldawanka-Viertel in bescheidenen Verhältnissen auf. Dem Treiben im Viertel, das nahe beim Hafen gelegen damals ein Umschlagplatz für Gaunereien und Schmuggelware gewesen ist, hat er in seinem Erzählzyklus „Geschichten aus Odessa“ (1921-1924) ein literarisches Denkmal gesetzt. Die vier Geschichten über die Unterwelt im Judenviertel vor und während der russischen Revolution, über zynische Tagediebe, fromme Rabbiner und den Gauner Benja Krik, der zum König der Unterwelt aufsteigt, brachten ihm frühen Ruhm ein und haben Odessa einen Platz in der Literaturgeschichtsschreibung gesichert.[1]

Im ersten Weltkrieg hat er an der rumänischen Front gekämpft, 1920 nahm er in einem Kosakenheer als Kriegsberichterstatter am Russisch-Polnischen Krieg teil. Seine Erfahrungen verarbeitete er in seiner berühmten Sammlung „Die Reiterarmee“. 1926 erschienen, gelang ihm damit zwar endgültig der literarische Durchbruch, Ende der 1930er sollte ihn seine unverblümt wahrheitsgetreue Berichterstattung über den grausamen Krieg allerdings den Hals kosten. Babel wurde im Mai 1939 wegen angeblicher Spionage verhaftet, sämtliche seiner Manuskripte, Skizzen und Briefe beschlagnahmt und größtenteils vernichtet. Er wurde zum Tode verurteilt und am 27. Januar 1940 erschossen.

Isaak Babel © Encyclopædia Britannica, Inc.

Sein Name wurde aus der sowjetischen Literaturgeschichte und Enzyklopädie gestrichen. Lange Zeit hieß es offiziell, dass er 1941 in einem sibirischen Arbeitslager unter ungeklärten Umständen verstorben sei. Erst Ende der 1980er erfuhr seine Witwe, Antonia Piroshkowa (1909 – 2010), die ganze Wahrheit über sein Schicksal. Zwar wurde Babel im Dezember 1954 posthum im Rahmen der kurzen „Tauwetter“-Periode nach Stalins Tod rehabilitiert, sein Werk konnte jedoch in der Sowjetunion – wie auch in der DDR – nur in Fassungen erscheinen, die der Zensor bereinigt hatte. Der vollständige unzensierte Text der „Reiterarmee“, den Peter Urban auf Grundlage der russischen Erstausgabe von 1926 übersetzt hat, erschien erstmals 1994 beim kleinen Berliner Verlag Friedenauer Presse. Dass Odessa Isaak Babel erst im September 2011 ein Denkmal gesetzt hat – und das auch nur, weil sich eine Bürgerinitiative dafür einsetzte und über Jahre hinweg Spendengelder gesammelt hat – macht sinnfällig, wie schwer man sich mit Freidenkern jüdischer Herkunft tat.

Vielfach gedenkt die Stadt hingegen dem literarischen Erbe des in Odessa geborenen Erfolgsduos Ilja Ilf alias Ilja Arnoldowitsch Fainsilberg (1897 – 1937) und Jewgeni Petrow alias Jewgeni Petrowitsch Katajew (1903 – 1942). Ob gemalt auf Hauswänden, als Mobiliar im beliebten Stadtpark an der Deribasywaska-Straße, wo ein Stuhl aus Bronze steht, oder als originelle Installation – allenthalben trifft man in der Hafenstadt auf Stühle. Sie erinnern an die populäre Gaunerkomödie „12 Stühle“, erstmals 1928 als Fortsetzungsroman erschienen und danach mehrfach im Buchformat aufgelegt.

Erzählt wird von den Wirren der jungen Sowjetrepublik. Eine adlige Dame gesteht auf dem Sterbebett sowohl einem orthodoxen Priester als auch ihrem Schwiegersohn, dass sie den Familienschmuck im Schätzwert von 70.000 Rubeln in das Polster einer ihrer zwölf Stühle eingenäht hat, um ihn vor den Revolutionären zu retten. Kaum ist die Frau verschieden, startet eine wilde Suche kreuz und quer durch die Sowjetunion. Und da der Schwiegersohn zwar nicht besonders clever, dafür aber umso raffgieriger ist, gesellt sich Ostap Bender, der „Große Kombinator“ aus der Gaunerwelt, an seine Seite.

Moser und Rühmann in „13 Stühle“

„Was kostet das Opium für das Volk?“. Mit dem Hochstapler Ostap Bender, dessen markige Sprüche alsbald in aller Munde gewesen sind, haben Ilf-Petrow eine Kultfigur geschaffen. Die „Zwölf Stühle“ wurden – zuerst in der Sowjetunion, dann im gesamten Ostblock -schnell bekannt. Dank mehrerer Verfilmungen, so etwa 1970 von Mel Brooks in Hollywood oder E.W. Emo mit Heinz Rühmann und Hans Moser, reüssierte der Stoff auch im Westen. Der Folgeroman „Das goldene Kalb oder die Jagd nach der Million“ aus dem Jahr 1931 avancierte ebenfalls zum Bestseller, die Autoren zu literarischen Stars. Als die Literaturzeitschrift „Literaturnaja Gazeta“ 1968 herausfinden wollte, welche Autoren besonders populär wären, standen Ilf und Petrow neben Alexej Tolstoj und Michail Scholochow und auf den ersten Rängen. Und die Bewunderung hielt an: 1982 wurde der neu entdeckte Kleinplanet nach dem Autorenduo „3668 IlfPetrow“ benannt.[2]

Kennengelernt hatte sich das Erfolgsduo aus Odessa in Moskau, wo beide für satirische Zeitungen gearbeitet haben. Bis zu Ilfs Tod 1937 verfassten sie ihre Bücher gemeinsam. 1933/34 reisten sie durch Europa. 1935/36 durch die USA, im Auftrag der „Prawda“ in einem mausgrauen Ford. Stalin höchstpersönlich, so wird gemunkelt, habe die Weisung für eine Reportage über das konkurrierende kapitalistische System gegeben. Die Reiseberichte erschienen zunächst in der „Prawda“, 1937 unter dem Titel „Das eingeschossige Amerika“ als Buch. Die deutsche Ausgabe kam 2011 auf den Markt. Und das Erstaunen war groß, wie frei von Propaganda Ilf und Petrow die Auftragsarbeit einst gemeistert haben.[3]

Nach Ilja Ilfs Tod fehlte Jewgeni Petrow offenbar der kongeniale Partner; er brachte nichts Größeres mehr zu Papier. Am Zweiten Weltkrieg nahm er als Kriegsberichterstatter teil. 1942 kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.

 

Anmerkungen

[1] Gesammelte Erzählungen, darunter auch die Geschichten aus Odessa, liegen bei Hanser vor: Isaak Babel: Mein Taubenschlag, München 2014.

[2] Anders als andere, die in der Reihe skizziert werden,  sind die Bücher von Ilf-Petrow – vor allem dank schweizerischer und DDR-Initiativen – nach 1945 in zahlreichen Ausgaben erschienen. Zuletzt 2015 in der „Anderen Bibliothek“ der Erzählband „Kolokolamsk und andere unglaubliche Geschichten“, den Helmut Ettinger ins Deutsche übertragen hat.

[3] lja Ilf und Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika: Eine Reise mit Fotos von Ilja Ilf in Schwarz-Weiß und Briefen aus Amerika, aus dem Russischen von Helmut Ettinger, zwei Bände, Frankfurt a.M. 2011

Ukrainisch oder Russisch? Odessa: Die Stadt der Literatur und der Hunde – Teil 2

Den Namen Swetlana Alexijewitsch kennt man vermutlich. Schließlich wurde ihr 2015 der Nobelpreis für Literatur verliehen. Aber: weiß wer schon, dass sie 1948 in der Westukraine geboren wurde?

Abgesehen von einigen Ausreißern wie etwa Oksana Sabuschko, die 2006 mit ihrem Roman „Feldforschungen auf dem Gebiet des ukrainischen Sex“ für Wirbel sorgte, dem intellektuellen Wortführer der „Orangenen Revolution“ Jurij Andruchowytsch, mittlerweile in Westeuropa der wohl bekannteste ukrainische Autor, oder Natascha Wodin, die das Leben ihrer Mutter – einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, die die Nationalsozialisten nach Deutschland verschleppt hatten – literarisch verarbeitete und für ihren Roman „Sie kam aus Maruipol“ 2017 mit dem Literaturpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, tut man sich mit Land, Leuten, Literatur, Geschichte und den aktuellen Entwicklungen in der Ukraine hierzulande schwer. Ganz so, als würde der Eiserne Vorhang noch existieren.

free Julija Tymoschenko © Sabine Münch

Und dies obwohl es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und verstärkt nach der „Orangenen Revolution“ immer wieder Bemühungen gab und gibt, ukrainischen Büchern im deutschsprachigen Raum Wege zu ebenen. Darum früh verdient gemacht hat sich die 2011 verstorbene Anna-Halja Horbatsch, die nach dem Einzug der Roten Armee mit ihren Eltern 1940 aus der Ukraine nach Deutschland gekommen war.

Nach langjähriger Übersetzer- und Herausgebertätigkeit gründete sie 1995 noch im hohen Alter von 70 Jahren ihren Brodina Verlag, den sie nach ihrem Geburtsort in der ukrainischen Nordbukowina benannt hat. Bis zu ihrem Tod sind hier 15 Titel erschienen, vornehmlich zeitgenössischer Autoren. Aber auch das deutsch-ukrainische Lesebuch „Die ukrainische Literatur entdecken“ (2001), das die wichtigsten Werke der ukrainischen Literatur präsentiert, und die literaturwissenschaftliche Abhandlung „Die Ukraine im Spiegel ihrer Literatur: Dichtung als Überlebensweg eines Volkes“ (1997). Für ihre Bemühungen um eine weithin unbekannte Literaturszene hat Anna-Halja Horbatsch 2006 das Bundesverdienstkreuz erhalten.

Ebenfalls mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde Katharina Raabe, die sich seit der Jahrtausendwende beim Suhrkamp Verlag engagiert um den Ausbau des osteuropäischen Programms bemüht. Auch andere Verlage wie Luchterhand, Rowohlt Berlin, S. Fischer, Zsolnay in Österreich oder Diogenes und Dörlemann in der Schweiz führen ukrainische Autoren im Programm. Der 2010 gegründete Verein Translit, ein Zusammenschluss von Übersetzern und Kulturmittlern, bemüht sich um den Austausch zwischen der Ukraine und Deutschland. Und die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt? Die organisieren inzwischen ebenfalls verschiedentlich Schwerpunkte speziell zu Autoren aus Osteuropa.

 

Ukrainische Literatur – eine Terra Incognita

Dass wir kaum etwas über die literarische Szene wissen, liegt zweifellos mit daran, dass das Gebiet der heutigen Ukraine – abgesehen von einer kurzen Episode zwischen 1918 und 1920, zu der sich ein unabhängiger Nationalstaat konstituiert hatte – im Zeitenlauf zu vielen unterschiedlichen Staaten gehört hat. Zum zaristischen Russland, Lemberg, Galizien, den Karparten, zum Habsburgerreich, zu Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei. Die Sowjetunion verleibte sich nach dem Krieg mit Polen 1920 den größten Teil des Landes ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ihr auch die polnischen, rumänischen und tschechischen Territorien zugeschlagen.

Die jahrhundertelange Fremdherrschaft hatte zur Folge, dass sich die ukrainische Sprache und Kultur nur unter extrem schwierigen Bedingungen entwickeln konnten. Autoren, die ihre Schriften in ihrer Heimatsprache abfassten, wurden drangsaliert und verfolgt. Allein in der Stalin-Ära sollen mehr als 300 Autoren ukrainischer Herkunft ihr Leben durch Terror, Folter oder im Gulag gelassen haben.

Nicht besser war die Situation im Zarenreich gewesen, wo ukrainisch-sprachige Publikationen einem Druckverbot unterlagen. Dies sogar Wiederholt: 1863, 1876 – 1906, 1914 – 1917. Autoren, die sich des Ukrainischen bedienten, wurden verspottet, sich einer schlechten Sprache zu bedienen, schikaniert, eingesperrt und verbannt. So etwa der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko (1814 – 1861), der als einer der ersten gilt, der seine Gedichte und Lieder in seiner Heimatsprache verfasst hat. „Bäuerlich“ sei seine Sprache, ein primitiver Dialekt des Russischen. Nachdem er sich einem Geheimbund angeschlossen hatte, der für die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Gleichberechtigung der slawischen Völker im Zarenreich eintrat, wurde Schewtschenko verbannt und nach seiner Entlassung mit der Auflage belegt, kein ukrainisches Gebiet mehr zu betreten. Bis zu seinem Tod lebte er in St. Petersburg unter strenger Aufsicht.

Es liegt auf der Hand, dass die Autoren ständig mit sich rangen: Schreibe ich auf Ukrainisch oder auf Russisch? Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809 – 1852), ein gebürtiger Ukrainer, soll in einem Brief an eine Freundin geschrieben haben, dass er nicht wisse, ob er Russe oder Ukrainer sei. Wie ihm erging es vielen. Wer unter imperialer Kontrolle ungeschoren publizieren und zudem eine breitere Leserschaft erreichen wollte, musste sich der Sprache der Herrschenden bedienen.

 

Kein Staat, keine Nation, keine Nationalliteratur?

Mit Michail Gorbatschows Reformpolitik wendete sich in den späten 1980er Jahren das Blatt. Erst- und Neuveröffentlichungen bisher verbotener und vergessener Werke und Bücher, die nur im Ausland hatten erscheinen können, wurden zugänglich. Autoren brachen mit der sozialistisch-realistischen Tradition der Sowjetära und sagten sich vom ukrainischen Schriftstellerverband los, der 1934 als Verband der Sowjetischen Schriftsteller der Ukraine gegründet und 1959 in Schriftstellerverband der Ukraine (SVdU) umbenannt worden war.

Eine neue Autorengeneration trat auf, die sich am Westen orientierte, Liberalisierungen forderte und eine genuin ukrainische Identität einklagte. Motor dieser Bewegung war die 1985 in Lviv (Lemberg) gegründete Gruppe BU-BA-BU (Burlesk-Balahan-Buffonada, deutsch: Burleske-Farce-Posse), die anfangs im Untergrund agierte, später gingen aus Lemberg zahlreiche literarische Initiativen hervor. Ziel von BU-BA-BU war es, das Land gesellschaftlich, kulturell und sprachlich zu erneuern.

Traditionell wird im Westen Ukrainisch, im Osten hingegen Russisch gesprochen. Daneben existiert eine Mischform aus dem Russischen und dem Ukrainischen, das sogenannte Surzhyk, das vor und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist.[1] Die Frage, welche Sprache man benutzt, wird in der ukrainischen Politik schärfer diskutiert und problematischer bewertet, als dies in der ukrainischen Lebensrealität der Fall ist. Die Sprachen koexistieren, die meisten Ukrainer sprechen Russisch und Ukrainisch. Was auch für Autoren gilt, die in beiden Sprachen veröffentlichen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde 1989 das Russische durch das Ukrainische als einzige Amtssprache ersetzt und Maßnahmen zur Ukrainisierung des Bildungswesen und der Medien beschlossen. Das bis dahin sozial, kulturell und politisch dominante Russisch erhielt den niedrigeren Status einer geduldeten Verkehrssprache.

Nationalfarben © Sabine Münch

2012 ließ der damalige pro-russische Präsident Viktor Janukowitsch mit dem Gesetz „Über die Grundlagen der staatlichen Sprachpolitik“ Russisch wieder als Regionalsprache zu. Manchem mögen die tumultartigen Szenen und handgreiflichen Auseinandersetzungen noch in Erinnerungen sein, die anlässlich des Sprachengesetzes im ukrainischen Parlament losgebrochen waren. Einige Bezirke sowie Städte im Osten und Süden, darunter auch die Hafenstadt Odessa, ließen das Russische wieder als nahezu gleichberechtigte Sprache zu. Unmittelbar nach der Maidan-Revolution wurde das Gesetz in einer außerordentlichen Sitzung des Parlaments im Februar 2014 wieder gekippt.

Nachdem sich im Dezember 1991 in einem Referendum 90 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit ausgesprochen hatten – übrigens mit klarer Mehrheit auch in den heutigen Separatistenhochburgen Donezk und Lugansk – stand nicht nur die Sprachenfrage, sondern auch die Frage nach dem Nationalbewusstsein und einer genuinen ukrainischen Identität an. Hier war ukrainisch-sprachige Literatur gefragt. In Vergessenheit geratene Klassiker wurden wieder oder neu entdeckt. Autoren wie Ljubko Deresch (geb. 1984), Oksana Sabuschko (geb. 1960), Jurij Andruchowytsch (geb. 1960), Jurko Prochasko (geb. 1970) oder Serhij Zhadan (geb. 1974) wurden auf Festivals und Lesungen gefeiert.[2]

Die literarische Szene entwickelte sich dynamisch, wenn auch unter schwierigen Bedingungen. Unabhängige Verlage und Buchhandlungen, die sich ukrainischer Literatur verschrieben haben, kämpfen mit immensen Schwierigkeiten.[3] Professionelle literaturvertreibende, -herstellende und -propagierende Strukturen fehlen weitestgehend und den Kulturkommissionen im Parlament mangelt es vielfach an Weitblick und Kompetenz. Zwar florierte eine junge ukrainische Szene, der Literaturbetrieb aber blieb russisch dominiert; der Markt wurde von niedrig-preisigen russischen Büchern überschwemmt, die in der Regel drei- bis viermal billiger sind als Titel aus ukrainischen Verlagen.

Mit Annexion der Krim und dem Bürgerkrieg im Osten wendete sich das Blatt. Die riesigen Verlagshäuser aus der Sowjetzeit, die in Kiew und anderen Großstädten ansässig gewesen waren, machten dicht. Auch viele der großen sowjetischen Buchhandlungsketten, die das Land einst mit einem mustergültigen Vertriebsnetz überzogen haben, wurden aufgelöst. An ihrer Stelle entstanden kleinere Sortimente und Buchkioske, die aber vornehmlich preisgünstige russische Importe anbieten. Trotz immer rigideren Versuchen seitens der Regierung, russische Literatur einzudämmen, heimsen russische Produktionen weiterhin einen Großteil des Umsatzes auf dem ukrainischen Markt ein.

Spätestens seit dem Bürgerkrieg im Osten steht die Frage, die sich Autoren seit dem 19. Jahrhundert schmerzhaft gestellt haben, wieder im Raum. Für die einen ist sie eine Frage der politischen Haltung, für andere (noch) eine Frage der Fertigkeit. „In der Regel beherrscht ein Schriftsteller eine der beiden Sprachen besser. Auch ich selbst habe einige meiner Essays ins Russische übersetzt und dabei festgestellt, dass mir im Russischen einige Nuancen und Ausdrucksmöglichkeiten fehlen. Mein Russisch ist viel ärmer als mein Ukrainisch.“ So Jurij Andruchowytsch in einem Interview mit der „Neuen Züricher Zeitung“ im März 2007.

 

Alter Wein in neuen Schläuchen

Eine erste Debatte über den Status der in der Ukraine auf Russisch erschienenen Bücher war bereits mit der Krimkrise entbrannt. Eine Quote sollte her, um den überbordenden Buch- und Filmimport aus Russland einzudämmen. Im August 2015 wurden Werke von 38 russischen Autoren aus dem Verkauf gezogen, die die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation befürwortet hatten. Im Dezember 2016 erließ Präsident Petro Poroschenko ein Gesetz, dass Bücher mit pro-russischer Tendenz in der Ukraine verbietet. Begründet wurde die Maßnahme mit dem Kampf gegen russische Propaganda.

Seither stehen Werke auf dem Index, die Russland und seine Führung verherrlichen, anti-ukrainisch sind oder totalitäre Ansichten vertreten, und Bücher, in denen zum Staatsstreich in der Ukraine, zum Krieg oder zum Rassenhass aufgerufen wird. Für das Fernsehen gilt, dass 75 Prozent der Nachrichten und Filme auf Ukrainisch sein müssen. Russische Produktionen werden ukrainisch untertitelt. Russische Fernseh- und Radiosender wurden eingestellt, im Mai 2017 der Zugang zu mehreren russischen Internetdiensten gesperrt, darunter das russische Facebook-Pendant VKontakte (VK).

Und Russland? Macht es nicht anders. Auf der Krim existieren keine ukrainischen Radio- und Fernsehsender mehr, Internetdienste wurden vom Netz genommen, ukrainische Zeitungen dürfen auf die Halbinsel nicht geliefert werden. Im Oktober wurde in Moskau – nicht zum ersten Mal – die „Bibliothek für Ukrainische Literatur“ von bewaffneten Polizeimannschaften durchsucht. Beschlagnahmt wurden Bücher, elektronische Datenträger, Dokumente und Zeitungen. Die Direktorin wurde verhaftet und im Juni 2017 zu vier Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.

Als „Missverständnis“ sollte sich die Festnahme des ukrainisch-sprechenden Serhij Zhadan herausstellen – so jedenfalls berichteten die „Ukrainer-Nachrichten“ im März 2017 über den Fall. Den Autoren, der in der Ostukraine zur Welt gekommen ist und 2014/15 verschiedentlich in die Kriegsgebiete im Donbass gereist war,[5] hatten weißrussische Polizisten in Minsk im Februar 2017 unter dem Vorwand festgenommen, ihm sei wegen einer „Teilnahme an terroristischen Aktionen“ eine Einreise in die Russische Föderation untersagt.

Odessa 2014 © Sabine Münch

In der heftigen Propagandaschlacht, die sich beiden Seiten liefern, scheinen nicht nur Bücher, auch das kulturelle Erbe zum Spielball geworden zu sein. Gestritten wird um große Namen; etwa um Anton Tschechow und Michail Bulgakow, um den großen Komponisten Sergei Prokofjew oder Maler wie Kasimir Malewitsch und Ilja Kabakow.[6] Besonders ins Auge gefallen ist mir in diesem Zusammenhang der „Kampf um Gogol“, eine Kontroverse, die anlässlich des 200. Geburtstages des bedeutenden Klassikers 2009 offen aufgebrochen war.

Richtig ist, dass Nikolai Gogol seine Werke auf Russisch verfasst hat, als junger Mann nach St. Petersburg gezogen war, später nach Moskau. Im Herzen aber blieb er Ukrainer, wo er aufgewachsen und zweisprachig erzogen worden war. Seine ersten literarischen Erfolge hat er mit folkloristischen Erzählungen über die ukrainische Heimat gefeiert. Im Alter litt Gogol an Schizophrenie. Er verbrannte Teile seines Oeuvres, darunter auch die Fortsetzung seines 1841 erschienenen Opus Magnum „Die toten Seelen“, an der er 1850/51 in Odessa gearbeitet hat, und hungerte sich zu Tode.

Beide Seiten reklamieren den Klassiker für sich. Ukrainische Neuübersetzungen merzen alles aus, was russisch anmutet. Die Russen wollen seine Herkunft vergessen machen lassen. Dabei wäre Gogol prädestiniert, Brücken zu schlagen. In der bereits zitieren Passage aus dem Brief an eine Freundin heißt es ausführlich: „… und weiß auch selber nicht, welche Seele ich habe, eine ukrainische oder eine russische. Ich weiß nur, dass ich weder dem Kleinrussen den Vorzug geben würde vor dem Russen noch dem Russen vor dem Kleinrussen. [Den Norden der Ukraine nannte man damals Kleinrussland.] Beide Naturen sind von Gott überreich beschenkt, und jede davon schließt das ein, was die andere nicht hat – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie sich gegenseitig ergänzen müssen.“

Allein: in der zugespitzten politischen Lage tobt ein Kulturkampf; ein altbekannter. Wenn auch – zumindest aus ukrainischer Perspektive – unter umgekehrten Vorzeichen.

 

Eine kleine Reihe über die schreibenden Kinder und Besucher der Stadt kann man hier lesen.

 

Anmerkungen

Bis zu meinem Besuch in Odessa im Juli 2017 (dazu hier mehr) war auch mir die ukrainische Literatur ein unbeschriebenes Blatt. Umso erstaunter bin ich gewesen, wie reich die Hafenstadt am Schwarzen Meer auch in dieser Hinsicht ist. Zurückgekehrt nach Steglitz machte ich mich auf eine Spurensuche, die ich in loser Folge dokumentiere.

Empfehlenswert: Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2017.

 

[1] Siehe dazu das Gespräch „Der Versuch, das Russische abzuschaffen, war eine Dummheit“ mit Gerd Hentschel, Professor für Slavistische Sprachwissenschaft an der Universität Oldenburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Juli 2014.

[2] Von allen Genannten liegen Übersetzungen ins Deutsche vor.

[3] Einen lesenswerten Bericht über die Situation des unabhängigen Buchhandels in Odessa in Zeiten des Bürgerkriegs kann man bei Deutschlandfunk Kultur nachlesen

[5] Seine Eindrücke im Donbass hat Serhij Zhadan in Prosaarbeiten und in Gedichten verarbeitet: „Warum ich nicht im Netz bin“ und „Mesopotamien“. Beide Titel sind 2015 bei Suhrkamp erschienen.

[6] Siehe hierzu etwa: Gogol – großer Russe oder großer Ukrainer?, in: Die Presse vom 23. August 2015.

Odessa: Die Stadt der Literatur und der Hunde

„Wir sind glücklich, dass sie auf uns aufpassen.“  Eine Reise in die Ukraine – Teil 1

Wenig weiß man in Westeuropa über die Ukraine. Und das, was man zu wissen meint, ist mit Klischees und Vorurteilen durchsetzt: Misswirtschaft, Korruption, Kriminalität, Prostitution. Wenn überhaupt darüber berichtet wird, dann sind das die großen Themen. Seit Annexion der Krim, dem formalen Beitritt der Halbinsel zu Russland im März 2014 infolge eines spontan abgehaltenen Referendums und dem Bürgerkrieg in den Gebietskörperschaften Donezk und Lugansk in der Ostukraine ist es zudem schwierig geworden, sich jenseits von westlicher und russischer Propaganda über Land und Leute eine Meinung zu bilden.

Nationalfarben © Sabine Münch

Mit einer Delegation des Deutschen Tierschutzbundes war ich im Juli 2017 vor Ort. In Odessa am Schwarzen Meer, das übrigens nicht schwarz, sondern smaragdgrün ist. Vom Flieger aus ebenfalls sofort auffällig: plattes Land, riesige Anbauflächen. Und, in der Tat, rund 32 Millionen Hektar Ackerland gibt es dort; was etwa einem Drittel der Ackerfläche der gesamten Europäischen Union entspricht. Da sich hier große Mengen an nährstoffreicher Schwarzerde befinden, sind die Anbauflächen bei ausländischen Investoren sehr begehrt.

Das Gebiet um Odessa, die „Oblast Odessa“, liegt geopolitisch in einer ungünstigen Lage: eingekesselt zwischen der Halbinsel Krim im Osten und Transnistrien im Südosten. Eine Republik am Ufer des Dnjestr, die sich im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion von Moldawien abgespaltet hat. 1992 gipfelte der Konflikt in einem kurzen blutigen Krieg. Transnistrien, eine der größten europäischen Drehscheiben für Geldwäsche und den Handel mit Drogen und Waffen, ist international nicht anerkannt, wird aber von Russland unterstützt. Die Hauptstadt heißt Tiraspol. – Unweit davon ist mein Großvater väterlicherseits im April 1944 gefallen.

Anflug auf Odessa © GvP

Odessa weist einige Superlative auf. Mit 1.02 Millionen Einwohnern ist sie die drittgrößte Stadt der Ukraine. Neben dem größten Hafen des Landes, der von Anbeginn ein geostrategisches Projekt Russlands gewesen ist, befindet sich in der „Hauptstadt des Südens“ mit der „Nationalen Metschnikow Universität“, nach einem Zoologen benannt, auch eine der ältesten und größten Universitäten des Landes.

Erbaut wurde Odessa auf Geheiß von Katharina der Zweiten, genannt die Große. Nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1787 – 1792 war das fruchtbare Steppenland um Odessa vom Osmanischen an das Russische Reich gefallen. Nun ging es darum, den osmanischen Einfluss langfristig einzudämmen. 1794 beauftragte die Zarin ihren damaligen Liebhaber, Admiral Josif de Ribas, an der strategisch bedeutsamen Stelle am Schwarzen Meer einen Hafen zu bauen. Dort sollte eine Vorzeigemetropole des „neuen Russland“ entstehen, die mediterrane Antwort auf St. Petersburg.

Aus dem Vorhaben wurde Realität. Hafen und Stadt entwickelten sich rasch zu einem wichtigen Umschlagplatz. Odessa boomte, Handel und Kultur blühten. Russische, italienische, griechische und jüdische Kaufleute ließen sich nieder, auch Deutsche, Franzosen und Polen zog es dorthin. Bereits hundert Jahre nach ihrer Gründung war Odessa die viertgrößte Stadt im Zarenreich. Es gab eine Oper, eine Börse, eine Kathedrale. Bald galt die schmucke Küstenstadt, die „Perle am Schwarzen Meer“, als „Riviera“ des Zaren- und später des Sowjetreichs.

Hafen von Odessa © Sabine Münch

Bis in die heutigen Tage wird Odessa in russischen Kulturkreisen als „russische“ oder „russisch-jüdische“ Stadt wahrgenommen. Es gibt kaum eine russische Familie ohne Verwandte in der Ukraine und umgekehrt. Entsprechend eng ist die Identität der Odessiten mit Russland verwoben.[1] Nach offiziellen Angaben sind 30 Prozent der Stadtbevölkerung ethnisch russischstämmig.

Andererseits war Odessa ein Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen; eine multi-ethische, kosmopolitische und weltoffene Hafenmetropole, die Intellektuelle, Künstler und Freidenker anzog. Alexander Puschkin, der Teile seines Versepos „Eugen Onegin“ 1823/24 im Odessiter Exil verfasste, hat das Stimmengewirr in den Straßen beschrieben. Hier atme man Europa, soll er über Odessa gesagt haben. Genau diese Vielfalt war totalitären Machthabern verhasst. Die Bolschewiken vertrieben die Franzosen und Italiener, Stalin die Griechen und die Schwarzmeerdeutschen, die Nationalsozialisten, die Odessa im 2. Weltkrieg besetzt hatten, die Juden. 100.000 Odessiter Juden sind den Pogromen zum Opfer gefallen.

in Odessa © Sabine Münch

Vom Sprachengewirr aus Russisch, Griechisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Jiddisch kam mir nichts zu Ohren. – Und mit Englisch, dem Idiom, mit dem ich mich halbwegs vor Ort hätte durchschlagen können, haben es die Odessiten nicht. – Nach der Unabhängigkeit wurde per Dekret Ukrainisch als einzige offizielle Landessprache festgelegt, obwohl ein Großteil der Bevölkerung, vorwiegend im Osten des Landes, Russisch spricht. So sie sich nicht eines besonderen Dialekts bedienen, der sich unter dem Einfluss der jiddischen und ukrainischen Sprache entwickelt hat, sprechen die Odessiten im Alltag überwiegend Russisch. Die Amtssprache freilich ist Ukrainisch.

Schilder auf den Straßen oder dem Flughafen sind sowohl in ukrainischer wie in russischer Sprache gehalten. Mit leichten Abweichungen gebrauchen beide Sprachen die kyrillische Schrift. Die Orthografie wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem Russischen angepasst. Mancher Ukrainer hält jedoch an der Rechtschreibung fest wie sie bis in die 1920er Jahre gültig gewesen ist.

Odessa © Sabine Münch

Die pittoreske Hafenstadt ist arm und reich zugleich. Reich an Kultur, mittelos ist ein Großteil der Bevölkerung, vor allem in den Vorstädten und im Umland. Zu Sowjetzeiten war die Reederei mit 318 Schiffen und 25.000 Seeleuten eine der größten weltweit. Nach der Unabhängigkeit wurde die Reederei privatisiert, die Schiffe teilweise zu Schleuderpreisen ins Ausland verkauft. Trotzdem konnte sich Odessa bis zur Krimkrise als bedeutendster Umschlaghafen des Schwarzen Meeres halten. Ein Drittel der Arbeitsplätze war damals mit dem Hafen und dem Meer verknüpft.

Seit der Krimkrise und den Kämpfen in der Ostukraine legen keine russischen Handelsschiffe mehr im Hafen an. Die devisenbringenden Touristen aus dem Westen und die zahlreichen wohlhabenden Russen, die bis 2014 gerne in die liberale Stadt mit südländischem Flair gereist sind, bleiben fort. Und die großen internationalen Kreuzfahrtschiffe, die regelmäßig in Odessa Station gemacht haben? Die laufen stattdessen das bulgarische Warna an. Womit sich vielen Odessiten, die vom Hafen und dem Tourismus gelebt haben, kein Auskommen und keine berufliche Perspektive mehr in der Hafenstadt bieten.

Fassade © Sabine Münch

Die Ukraine zählt heute zu den ärmsten Staaten Europas. Das Durchschnittseinkommen liegt bei unter 300 Euro, der Mindestlohn bei 51 Euro. Mancher Rentner bezieht lediglich 80 Euro – und dies bei Preisen, die für die dortigen Verhältnisse recht hoch sind. Zudem ist der Griwna (1 Euro = 30 Griwna) – dessen Scheine nur mit Mühe in mein Portemonnaie passten, das auf Euroscheine geeicht ist – keine stabile Währung. Die Inflation ist hoch. Im ersten Halbjahr 2017 stiegen die Verbraucherpreise um 13,8 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum. Vor allem junge, gut ausgebildete Kräfte zieht es fort ins Ausland. Die Visumspflicht, die im Juni 2017 für Ukrainer entfallen ist, mag das erleichtern.

Da die Krim als einstiges Lieblingsurlaubsziel der Ukrainer weggefallen ist, waren die Strände in Odessa bei unserem Aufenthalt im Juli 2017 gut besucht. Reges Treiben herrschte auch im „Istanbul Park“ an der berühmten Potemkin-Treppe, neben der Oper dem Wahrzeichen der Hafenstadt. Die gepflegte Anlage erinnerte mich an die Gönneranlage im Kurort Baden-Baden. Picobello sauber, akkurat geschnittener Rasen, Blütenpracht – alle zehn Meter ein Hinweisschild, dass Hunde nicht erwünscht sind.

Blick von der Potemkin-Treppe © Sabine Münch

Der Park, der im Mai 2017 offiziell übergeben wurde, ist ein Geschenk der Türkei anlässlich des 20. Jahrestages der Städtepartnerschaft zwischen Istanbul und Odessa. Die Potemkin-Treppe mit ihren 192 Stufen, die unten fast zweimal breiter sind als oben, hat Mark Twain 1869 so beschrieben: „Eine riesige Flucht steinerner Stufen führte hinunter zum Hafen … Es ist eine prächtige Treppe, und von weitem wirken die Menschen, die sich hinaufplagen, wie Insekten.” Hinaufplagen muss sich heute niemand mehr, da eine Zahnradbahn in Betrieb genommen wurde.

Auf mich wirkte die ursprünglich aus Muschelkalk um 1840 erbaute Treppe unscheinbar. Grauer Granit aus den frühen 1930er Jahren, der Zeit ihrer letzten Renovierung. Ein vollkommen anderer Eindruck als in Sergeji Eisensteins Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ mit der beeindruckenden Szene, in der ein Kinderwagen – gleichsam in Zeitlupe – die Stufen der Potemkinschen Treppe hinabrollt. Wegen dieser Sequenz wohl gilt sie als die berühmteste Treppe der Welt.

Legendär sind auch die Katakomben von Odessa, ein circa 2.500 Kilometer langes Tunnelsystem, das sich bis in die Außenbezirke erstreckt. Kurz nach Gründung 1792 hatte man begonnen, direkt unter der Stadt Sandstein abzubauen. Mit den Stollen hat sich ein weit verzweigtes Netz gebildet, in dem die Gesetze aus der Oberwelt außer Kraft gesetzt waren. Das Labyrinth, in dem sich heute keiner mehr zurechtfindet, haben ehedem unterschiedlichste Menschen genutzt. Es bot Gaunern, Verbrechern und Seeräubern, aber auch religiösen Minderheiten, politisch Verfolgten und den Partisanen Zuflucht, die sich während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg dort versteckt hielten.

Sandstrand in Odessa © GvP

Außer meiner Geburtsstadt Baden-Baden erinnerte mich Odessa auch an eine Hafenstadt im Atlantik: Las Palmas auf Gran Canaria, wo ich an der dortigen „Deutschen Schule“ die Mittlere Reife ablegt habe. Aufgehübschtes neben Heruntergekommenem. Aufwändig restaurierte Gebäude, die europäische Architekten ab Ende des 18. Jahrhunderts in Odessa geschaffen haben, neben Bürgerhäusern von denen der Putz bröckelt. Manches Wohnhaus wirkte so baufällig, dass ich mir nur schwer vorstellen konnte, dass es bewohnt ist.

Neoklassizismus, Empire und Jugendstil sowie die „russische Moderne“ der 1910er Jahre prägen das Stadtbild. Etliche Bausünden gibt es auch: quadratisch-funktional. Aus der sowjetischen Ära und der ersten Wende-Zeit nach der Unabhängigkeit von Russland. Bau-Flops neueren Datums finden sich ebenfalls. So hat der Stadtrat am unteren Ende der Potemkin-Treppe die Errichtung eines Hotel-Kolosses genehmigt. Von dort strebt ein Wolkenkratzer (siehe Bild oben) in den Himmel, der den Blick von der Treppe auf die Hafenbucht verstellt, aber nie genutzt wurde, leer steht. Auch an anderen exponierten Orten in der Stadt haben ausländische Investoren frei nach dem Motto „Geld zählt mehr als Denkmalschutz“ ihr Glück gesucht – und sich verspekuliert. Etwa unweit vom Stadtgarten, einem beliebten Treffpunkt der geselligen, lebensfrohen Odessiten. Das imposante, aufwändig restaurierte Gebäude steht seit Jahren leer. Zum Ärger der Odessiten.

quadratisch-funktional © Sabine Münch

Die „guten Onkels“ sind in der Ukraine ein geflügeltes Wort für die unsichtbaren Strippenzieher, die mit ihrem Geld das Geschehen bestimmen. Bürgermeister Gennadij Truchanow, seit Mai 2015 in Odessa im Amt, tauchte in den berühmt-berüchtigten Panama-Papers als Eigner mehrerer Briefkasten-Firmen auf. Er ist Hobby-Thaiboxer und besitzt ein florierendes Bauunternehmen. Nachgesagt wird ihm, die Medien, den Stadtrat und die Geschäftsleute fest im Griff zu haben und Beziehungen zur Unterwelt zu pflegen. Für Aufsehen (sogar in den hiesigen Medien) sorgte sein Machtkampf mit dem ehemaligen Gouverneur der Regionalen Staatsverwaltung von Odessa, Michail Saakaschwili, den Präsident Petro Poroschenko im Mai 2015 eingesetzt hat, um die Korruption, mafiöse Strukturen und alte Seilschaften effektiv zu bekämpfen.

der Bauflop am Stadtgarten © GvP

Am Ende konnte sich Bürgermeister Truchanow durchsetzen, der für das alte System stehen und eine pro-russische Linie vertreten soll. Saakaschwili, der nicht von allen Odessiten gut gelitten war und in der Bevölkerung zunehmend an Rückhalt verlor, warf im November 2016 das Handtuch. Als dessen Nachfolger bestimmte Poroschenko, der nach der Maidan-Revolution im Juni 2014 ins Präsidialamt gewählt wurde, im Januar 2017 Maksym Stepanow.

Sicherlich gibt es zahllose Geschichten, die über die Hafenstadt berichtet werden könnten. Mit seinen „Geschichten aus Odessa“ hat der sowjetische Schriftsteller Isaak Babel der Halbwelt ein literarisches Denkmal gesetzt. „Odessa ist eine abscheuliche Stadt. Das weiß jedermann“, schrieb er 1916. Strippenzieher, Markenfälscher und Gauner, Schmuggler und Schmiergeldzahler, Waffenhändler und Mafiosi – der Mythos, die Stadt der Gauner und der Sünde zu sein, haftet Odessa bis heute an.

Marken-Piraterie © Sabine Münch

Diesem Leumund wird der größte Schwarzmarkt Europas gerecht, der vor den Toren Odessas liegt. Am siebten Kilometerstein, weshalb er offiziell den Namen „7. Kilometer“ trägt. Ein Staat in der Oblast Odessa mit eigenen Gesetzen und Regeln. Die Verkaufsfläche, die aus 3.000 ausrangierten, bemalten Schiffscontainern besteht, erstreckt sich über 750.000 Quadratmeter. 60.000 Menschen aus 32 Nationen arbeiten in der Händlerstadt, die vom Nike- und Gucci-Imitat über Autos und Waschmaschinen, CDs und Computer, Babyschnuller, Gebrauchsgegenstände und Nahrungsmittel alles bietet, was das Herz begehrt. Nicht grundlos heißt der Schwarzmarkt unter Einheimischen „Feld der Wunder“.

Als der Krieg im Osten der Ukraine begann, war es auch in Odessa zu Sympathiebekundungen für Russland gekommen. Verschiedentlich zu Zusammenstößen zwischen pro-ukrainischen und pro-russischen Kräften. Am 2. Mai 2014 eskalierte eine Straßenschlacht. Abends wurde das Gewerkschaftshaus, in das sich die pro-russischen Aktivisten zurückgezogen hatten, durch Molotow-Cocktails in Brand gesetzt. Der Hergang, der ungeklärt geblieben ist, forderte 48 Tote, darunter mehrheitlich pro-russische Aktivisten, und über 200 Verletzte.

Odessa 2014 © Sabine Münch

Von diesen Spannungen war bei unserem Aufenthalt nichts spürbar. Auch der Krieg im Osten – knapp 650 Kilometer von Odessa entfernt – war nicht greifbar. Lediglich für einen kurzen Moment wurde mir vor Augen geführt, dass die Ukraine seit dreieinhalb Jahren in einem Bürgerkrieg steht. Dann nämlich als ein martialischer Kampfhubschrauber mit ohrenbetäubendem Lärm aufstieg. Irritiert wandte ich mich an unsere Dolmetscherin Valentina. Sie lächelte: „Wir sind glücklich, dass sie auf uns aufpassen.“ – Gemeint war die Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), die den brüchigen Waffenstillstand überwacht, der mit dem Friedensabkommen von Minsk 2015 ausgehandelt wurde. Bisher hat der Krieg im Osten mehr als 10.000 Opfer gekostet.

 

Eine kleine Reihe über die schreibenden Kinder und Besucher der Stadt kann man hier nachlesen.

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

 

Anmerkungen:

[1] Im Westen wird die Ukraine gemeinhin als eine tief gespaltene Gesellschaft wahrgenommen, als Zankapfel und Schlachtfeld zwischen Russland und dem Westen dargestellt. Hintergrundinformationen über die konfliktentscheidenden Ost-West-Gegensätze in der Ukraine liefert ein kenntnisreicher Essay von Andrij Portnov: Postsowjetische Hybridität und „Eurorevolution“ in der Ukraine, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2014/47-48.

Wer sich detailliert über die Geschichte und Entwicklung der Hafenstadt informieren möchte, wird im Online-Lexikon zur Geschichte der Deutschen im östlichen Europa der Carl-von-Ossietzky der Universität Oldenburg fündig